Kulturkampf ums Auto: Heilig's Blechle – und viele Gefühle
My car, my castle: Wie Argumente am emotionalen Eisberg scheitern. Ein Kapitel aus "Die Verkehrswesen: Miteinander den Kulturkampf beenden".
Stellen Sie sich einmal vor, Leute würden weniger Sex fordern – nicht für sich selbst, sondern für andere. Oder sogar sexfreie Innenstädte. Oder bessere Alternativen zum Sex für alle, die auf Sex angewiesen sind. Absurd, nicht wahr? Wer käme auf die Idee, einem Menschen das Interesse an Sex vorzuwerfen? Genau, niemand.
Aber genau so fühlen sich viele Autofahrer. Denn die Forschung hat gemessen, dass beim Auto das gleiche Hirnareal – nämlich das Belohnungszentrum – aktiviert wird, wie bei besagtem Sex oder einer Dosis Kokain. Es sind also sehr intensive Gefühle im Spiel, die die heftige Abwehr der Auto-Fans erst nachvollziehbar machen.
Das Buch "Die Verkehrswesen: Miteinander den Kulturkampf beenden" von tremoniamedia (Herausgeber), Heinrich Strößenreuther (Autor), Michael Bukowski (Autor), Justus Hagel (Autor) ist ein Vermittlungsversuch zwischen "Verkehrswendy und dem bösen Rolf", die hier sinnbildlich für die junge Verkehrswende-Aktivistin und den stark auf sein Auto fixierten "Boomer" stehen. Wir veröffentlichen als Leseprobe ein Kapitel, das redaktionell mit zusätzlichen Zwischenüberschriften versehen wurde, um die Lesbarkeit online zu erleichtern.
Das Versprechen von Freiheit
Nicht zu unterschätzen sind auch die vielen, historisch verwurzelten Gefühle am und im Auto: Das große Versprechen von freier Fahrt und Freiheit. Der Führerschein und das erste eigene Auto als Symbole des Eintritts ins Erwachsenenalter. In der ehemaligen DDR 20 Jahre auf den Trabant warten und damit endlich ganz anders mobil sein.
Die große Reise mit dem eigenen Auto, die neue Unabhängigkeit, das Gefühl, die Hauptrolle im eigenen "Road Movie" zu spielen. Vielleicht sogar "das erste Mal" im eigenen Auto. Nicht zu vergessen das Auto als Statussymbol, mit dem man zeigt, dass man es zu etwas gebracht hat. Und mit einem Auto gehört man halt dazu; also zur gesellschaftlichen Norm der alten Bundesrepublik seit den Zeiten des Wirtschaftswunders und des "Wir sind wieder wer".
Der ADAC, der wiedervereinigten Republik, hat mittlerweile mehr Mitglieder als die katholische Kirche, wobei der Vergleich etwas hinkt, da die katholische Kirche keinen Pannen-Service anbietet.
"Benzin im Blut" – Facetten einer Leidenschaft
Sodann gibt es natürlich auch die Leute mit "Benzin im Blut", die sich eben für Motoren und Motorsport begeistern oder die Auto-Tuning-Szene und so weiter, ohne hier alle Facetten der automobilen Leidenschaft und Sozialisierung aufzählen zu können.
Seit etwa sieben Jahrzehnten sind zig Millionen Menschen so mit dem Auto aufgewachsen. Für viele ist dieses Modell auch heute noch selbstverständlich. Klar, dass das tief sitzt. Auch deswegen wird jede Debatte ums Auto hoch politisch, nämlich identitätspolitisch.
Es geht hier um eine Bedrohung der Identität, um eine Attacke auf den "way of life". Man könnte auch sagen: Was dem Amerikaner seine Knarre, ist dem Deutschen seine Karre. Und das ist eine kulturell starke Bindung.
Mein Haus, mein Auto
Für Millionen Menschen in Deutschland ist das Auto außerdem untrennbar mit dem Traum vom eigenen Haus verbunden. Es ermöglicht das Leben außerhalb der Stadt im Eigenheim. Das Pendeln zur Arbeit in die Stadt wäre ohne Auto für viele schwer oder kaum möglich. Man entscheidet sich also für ein Lebensmodell, das nur mit Auto funktioniert und kaum reversibel ist.
Man könnte sagen, die Leute begeben sich freiwillig in Abhängigkeit, aber das ist es ihnen eben wert, warum auch nicht? Viele prüfen bei der Wohnort-Entscheidung nicht mal die Alternativen wie Bus, Bahn oder Rad – und kaum ist man eingezogen, hat man sich an das Auto als Standard gewöhnt.
Zudem werden neue Eigenheimsiedlungen gebaut, die von vornherein gar keine andere Verkehrsanbindung vorsehen oder erst viel später damit um die Ecke kommen, wenn alle längst den Zweitwagen haben anschaffen müssen. Ein Angriff auf das Auto wird von diesen Menschen sofort und völlig zurecht als Eingriff in ihr Lebensmodell und ihre Souveränität gesehen. Und das ist ein schwer erträglicher Affront.
My car is my castle
Das eigene Auto bietet eine liebgewonnene Privatsphäre; "mein ganz persönlicher Raum", den mir kein anderes Verkehrsmittel bieten kann. Sicher nicht das Fahrrad, das gar kein Raum ist. Noch weniger die öffentlichen Bussen und Bahnen, insbesondere wenn sie eher voll statt leer sind.
Und auch Sharing-Fahrzeuge aller Art ermöglichen nur eine befristete und unvollständige Privatsphäre. Mit dem eigenen Auto dagegen ist man quasi unterwegs in den eigenen vier Wänden. Natürlich ist das eine sehr reizvolle Art der Mobilität. Und darüber hinaus erweist sich so ein Pkw ja auch als sehr praktisch.
Man verfügt damit über einen ausgelagerten Stauraum für allerlei Nützliches; der fahrbare Schrank für alles Mögliche, das man nicht immer braucht, aber jederzeit gerne in Griffweite dabei hat. Nicht zu vergessen natürlich der Komfort. Man hört Musik oder Hörbücher. Man kann auch noch nebenbei telefonieren (immer ordnungsgemäß mit Freisprechanlage, bitte).
Sicherheit – warum auch viele Frauen das Auto schätzen
Im Winter läuft die Heizung unterm Hintern, um die viele Radfahrer die Autofahrer beneiden, und bei vielen läuft im Sommer auch eine Klimaanlage. So weit, so bekannt.
Dieser "Castle-" Effekt gilt übrigens ganz wortwörtlich für viele autofahrende Frauen. Denn das Auto bietet ihnen Sicherheit. Viele Frauen – ja, und auch Männer – fühlen sich zu bestimmten Zeiten in bestimmten Gegenden mit anderen Verkehrsmitteln absolut nicht sicher, was ein für unsere zivilisierte Gesellschaft inakzeptabler Missstand ist.
Wenn aber Wendy daraus die Forderung nach einer "feministischen Verkehrspolitik" ableitet, rennt die eine Hälfte der Bevölkerung schreiend davon. Dabei handelt es sich bei diesem Unsicherheitsgefühl um ein partei- und geschlechtsübergreifendes Phänomen, über das kaum geredet wird, aber geredet werden sollte. Denn die Hälfte aller Menschen im Verkehr ist weiblich.
Der Stau – die schönste Zeit des Tages?!
Es kommen noch ein paar heimliche Gefühle hinzu, die unsere Wendy wahrscheinlich überraschen dürfte, wie zum Beispiel der Stau. Man meint allgemein, der Stau wäre eine sehr lästige Angelegenheit. Tatsächlich haben uns Autofahrer in vielen Gesprächen im Laufe von Jahren ihr ganz anderes Verhältnis zum Stau geschildert.
Ein Autofahrer sagte, es sei für ihn die schönste Zeit des Tages, sich morgens im Berufsverkehr zu stauen. Denn dort hat man nicht mehr Kind und Kegel wie zuhause an der Backe und auch noch kein dies und das im Büro vor der Nase. Ein anderer betonte den meditativen Aspekt der zwangsweisen Entschleunigung im Verkehr, den er sehr schätzt.
Ein neues Gefühl von Privatsphäre im SUV Dann entfaltet sich noch ein ganz neues Raumgefühl. Denn wir verzeichnen nicht nur in Deutschland einen rasanten SUV-Boom. Der Absatz dieser schweren und großen Pkw – abgesehen von SUVs in kleineren Autoklassen – stieg bis 2020 enorm und scheint seinen Scheitelpunkt erreicht zu haben. Ist das nicht ein Widerspruch?
Kampf um den öffentlichen Raum
Müssten insbesondere die Autos in den Städten nicht eher kleiner werden, wenn es immer enger wird? "Im Gegenteil!", sagt ein Verkehrspsychologe.
Die Leute kaufen sich nicht immer größere Autos, obwohl es immer gedrängter zugeht, sondern weil es immer enger wird. Denn mit einem SUV kann man sich eben gerade in der zunehmenden Enge mehr privaten Raum sichern.
Hinzu kommt das Gefühl von Sicherheit im schweren Fuhrwerk und das sprichwörtliche Hochgefühl des "man sitzt so schön hoch", denn man weiß ja, wie gefährlich der Autoverkehr ist, sodass man sich wenigstens selbst schützen kann.
Der emotionale Eisberg
Bekannte und weniger bekannte Gefühle, vor allem viele und sehr intensive: Das türmt sich zu dem emotionalen Eisberg auf, von dem manch eine Wendy, aber auch mancher Rolf, wenn überhaupt, nur die Spitze wahrnimmt.
Dass gefühlt 90 Prozent der Emotionen unter der Oberfläche verborgen liegen und nur eine kleine Bewegung den ganzen Eisberg mit maximaler medialer Aufregung in Rotation versetzen kann, gehört zum "Kulturkampf" dazu. Zudem sind sich die beiden Lager, die wir hier etwas verallgemeinernd gegenüberstellen, in der Intensität ihrer Identifikation ähnlicher, als manche meinen würden.
Unsere Wendy zelebriert ihren autofreien Lebensstil und tut dies oft auch – bewusst oder unbewusst – mit einem Anspruch moralischer Überlegenheit. Das bringt unseren Rolf besonders auf die Palme. Gefühlt wird er als rückständig, minderbemittelt und dazu noch als Klima-Killer verunglimpft.
Was Großstadtmenschen leichter fällt
Hinzu kommt, dass es kein besonderes Kunststück darstellt, in einer Innenstadt mit guten öffentlichen Verkehrsmitteln, mehr und mehr Sharing-Angeboten (von Auto über Rad, bis Scooter) und immer besser ausgebauten Radwegen, kein eigenes Auto zu benötigen.
Daher rührt wohl auch der Vorwurf gegenüber den privilegierten Städtern, die fröhlich "Autos raus" fordern, ohne sich der Tragweite ihrer Forderung bewusst zu sein. In den Städten dagegen überlegen es sich Autobesitzer oft mehr als einmal, ob sie für einen Weg das Auto nehmen, für das sie gerade einen so schönen Parkplatz gefunden hatten.
Die Sorge, abends zig mal um den Block kurven zu müssen, überwiegt nicht selten. Ein Bekannter von Heinrich hat ihm einmal folgende Anekdote aus der Innenstadt erzählt: Der Mann hatte seinen Wagen ein paar Monate nicht mehr genutzt und dann völlig vergessen, wo er das Auto abgestellt hatte. Irgendwann muss er es aber doch wiedergefunden haben, denn er hat es verkauft.
Statussymbole – das edle Lastenrad als grüner Porsche
Das ist natürlich eine Geschichte aus der Innenstadt mit hohem Parkplatzdruck. Dass auch das Lastenrad ein Statussymbol sein kann, unterstreicht diese Anekdote von Michael: "Wir waren mit ein paar Leuten und Fahrrädern unterwegs, hielten irgendwo an und ich lehnte mein Rad – Typ: ,normalstes Fahrrad der Welt‘ – an das wahrscheinlich sehr teure Lastenrad eines anderen. Na, da war aber was los!
Der Lastenradler hat ungefähr genauso reagiert, wie es ein Porsche-Fahrer tun würde, wenn ich mein olles Rad an seinem sündhaft teuren Sportwagen abstellen würde. Auch beim Lastenrad ist das Blechle wohl heilig."
Zurück zu Rolf: Der anscheinend in die rückständige Ecke gedrängte Autofahrer entwickelt in der Opposition zu Wendy ein weiteres, intensives Gefühl: eine Art Trotzgefühl – ohne dass wir Rolf hier lächerlich machen wollen – ein Ausdruck von "Jetzt erst recht!"
Je öfter man die Rufe nach "weniger Auto" hört, desto mehr mag man es mit dem Auto den ungeliebten grünen oder selbsternannten progressiven Typen zeigen.
Rolling Coal – der maximale Stinkefinger
Welche Auswüchse das annehmen kann, zeigt eine Bewegung in den USA, die hoffentlich nicht bei uns ankommen wird und die, nebenbei bemerkt, auch nicht legal ist. "Rolling Coal" nennen die Leute ihre Pick-up-Trucks und SUVs, bei denen sie sämtliche Filter ausbauen und das Treibstoff-Luft-Verhältnis im Diesel-Motor so manipulieren, dass der Wagen maximale Mengen an schwarzen Rußwolken rausbläst.
Das macht man dann vorzugsweise neben E-Autos oder auch bei Fußgängern und Fahrradfahrern. Sprich, man zeigt es diesem "Öko-Völkchen aber mal so richtig", mit "jetzt erst recht"- verpesteter Luft. Man kann das als kindische Trotzreaktion sehen, so wie manche verkehrspolitische Reform stockt, weil sie von "den Anderen" kommt.
In Teilen der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten gilt das motorisierte Verbrennen von fossilen Kraftstoffen, gerne auch in unnötigen und absurden Mengen, als patriotischer und maskuliner Akt. Bei uns geht es etwas weniger drastisch zu. In Brandenburg haben zum Beispiel Autofahrer eine Methode entwickelt, die ungeliebten Rennradfahrer zu nerven.
Sie stellen ihre Wasserspritzdüse so ein, dass sie damit beim Überholen dem Rennradler eine kleine Erfrischung bereiten. Sehr nett!
Die Kollision mit dem Eisberg
Also, beim Auto sind viele und starke Gefühle im Spiel; tief verankert in der deutschen Wirtschaftswundergeschichte und eng verwoben mit dem Aufstiegs- und Wohlstandsversprechen, das unser Land über mehr als ein halbes Jahrhundert prägte.
Wer da "Auto eindämmend" eingreifen will, sollte gut überlegen, was man wie tut und warum. Denn ein Schiff voller vernünftiger Argumente auf einen Eisberg an Emotionen zu steuern, wird sehr wahrscheinlich zur Katastrophe werden.
Um bei diesem Bild keinen falschen Eindruck zu erwecken: Es stehen sich natürlich nicht ein emotionsgeladener Rolf und eine vernunftgeleitete Wendy gegenüber. Es gibt genauso viele vernünftige Argumente für das Auto wie es hoch emotionale Aspekte an den vermeintlich progressiven Lebensstilen gibt, bei denen das edle Lastenfahrrad eben der neue Porsche ist.
Wer "Die Verkehrswesen: Miteinander den Kulturkampf beenden" in Gänze gelesen hat, müsste nach Meinung der Autoren auch den Kulturkampf-Führerschein bestehen, den sie auf ihrer Homepage anbieten.