Kunduz: Kriegsverbrechen oder Kollateralschaden?

Angeblich sei das bombardierte Krankenhaus ein Stützpunkt der Taliban gewesen, das US-Verteidigungsministerium versucht, Zeit zu gewinnen, da man gleichzeitig den Russen vorwirft, Zivilisten in Syrien getötet zu haben

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Bei einem gezielten und wiederholten Luftangriff auf ein von der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) betriebenes Krankenhaus in Kunduz am Samstag in der Früh um 2 Uhr wurden 22 Menschen getötet, darunter 12 Mitarbeiter der Organisation und 3 Kinder. 37 Menschen wurden verletzt (USA bombardieren Krankenhaus in Kundus). Die Organisation fordert eine unabhängige Untersuchung, da es sich um ein Kriegsverbrechen handele. Man dürfe es nicht als "Kollateralschaden" bezeichnen und darüber hinweggehen, twitterte die Organisation. Es habe vor den Luftangriffen keine Kämpfe im Krankenhaus gegeben.

Die Taliban, die Kunduz eingenommen hatten und denen massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, haben es hingegen offensichtlich nicht betreten. Sie werfen nun den Amerikanern "Barbarei" vor und beschuldigen den afghanischen Geheimdienst.

Das brennende Krankenhaus. Bild: MSF

Ärzte ohne Grenzen wollen nun aus verständlichen Gründen die Mitarbeiter abziehen und das Krankenhaus schließen. Vor dem Luftangriff wurden hier hunderte Menschen behandelt, die bei den Kämpfen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften verletzt wurden. Die Lage ist jetzt keineswegs besser, aber der Rückzug der Ärzteorganisation ist verständlich, wobei sie offenbar nicht vor den Taliban Angst haben, sondern vor der US-Luftwaffe. Dass nun just bei dem ersten großen Erfolg der Taliban mit der vorübergehenden Eroberung einer größeren Stadt, der das Scheitern der 14-jährigen Nato-Intervention und dazu vor allem das von den Deutschen hinterlassene Schlamassel deutlich macht, mit einem Massaker an Mitarbeitern einer humanitären Hilfsorganisation und Patienten begleitet wird, ist ein politisches Fiasko, gerade weil die USA und ihre Koalitionäre in der Ukraine und in Syrien sowie im Irak im Wettstreit mit Russland stehen und sich selbst als Macht des Guten bezeichnen.

Das Pentagon erklärte wie üblich bei solchen Vorfällen, man werde den Angriff genau untersuchen, US-Präsident Obama bezeichnete ebenso wie Verteidigungsminister das Massaker als "tragischen Vorfall". Beide wissen sehr wohl, dass niemand anders als US-Kampfflugzeuge für die Bombardierung verantwortlich sein können. Gleichwohl hält auch Obama an der Strategie fest, dass erst einmal eine "genaue" Untersuchung des US-Verteidigungsministeriums abgewartet werden müsse, bevor man eine Beurteilung dazu abgeben könne. Carter erklärte fast zynisch, man werde weiter mit den Afghanen zusammenarbeiten, um die Gewalt in und um Kunduz zu beenden. Dumm nur, dass weder Russen, die Taliban, der Islamische Staat noch andere Akteure verdächtigt werden können.

Das Pentagon hat zwar eingeräumt, dass man in der Nähe Ziele angegriffen habe, aber will angeblich nicht wissen, ob es US-Kampfflugzeuge waren und wohin diese gefeuert haben. Das ist absurd. Vermutlich wird die Schmierenkomödie auch deswegen inszeniert, weil angeblich auch bei den russischen Luftangriffen in Syrien Zivilisten getötet worden sein sollen. Es ging das Gerücht um, dass das US-Militär von afghanischer Seite darauf hingewiesen worden sei, dass sich im Krankenhaus Taliban-Kämpfer verschanzt hätten. Nach Foxnews behaupten dies auch nicht näher genannte Mitarbeiter den Pentagon. Man würde den Verlust unschuldigen Lebens" bedauern, das hätte aber vermieden werden können, wenn die Taliban das Krankenhaus nicht als Stützpunkt benutzt und sich hinter Zivilisten verborgen hätten. Foxnews vergisst zu erwähnen, dass auch dann eine Bombardierung eines Krankenhauses ein Kriegsverbrechen bleibt.

Nach dem Bombenangriff. Bild: MSF

Möglicherweise berufen sich die Pentagon-Mitarbeiter auf Äußerungen von afghanischen Politikern. So behauptet neben dem afghanischen Verteidigungsministerium etwa der jetzige Gouverneur von Kundus, Hamdullah Danishi, der gerade erst nach der Feuerung des amtierenden Gouverneurs durch Präsident Ashraf Ghani nach der Einnahme von Kunduz das Amt erhalten hat, aber schon zuvor 13 Jahre lang stellvertretender Gouverneur gewesen war, dass das Krankenhaus ein Stützpunkt der Taliban gewesen sei. Danishi ist mitverantwortlich für das Wiedererstarken der Taliban, die Macht einiger Warlords wie Dostum und ihrer Milizen und die Korruption und Willkür etwa bei der afghanischen Polizei (ALP), deren Mitglieder illegale Steuern erheben, rauben und vergewaltigen sollen. All das bereitet den Boden dafür, dass mitunter die Taliban als kleineres Übel gesehen werden.

Danishi oder Daneshi gilt als Islamist, der zwischen der iuslamistischen Hizb-i Islāmī von Gulbuddin Hekmatyār und der Dschamiat-i Islāmī-yi Afghanistān pendelte. Er soll dem Warlord Amir Mir Alam, der einst zur Nordallianz gehörte und seit Jahren in Kunduz Milizen unterhält und mit Waffen und Drogen handelt, verbandelt sein. Angeblich stützt er die Milizen, um die Taliban fern zu halten.

Gut möglich also, dass Danishi oder andere interessierte Kreise aus der afghanischen Regierung den USForces Afghanistan den Tipp gegeben haben, das Krankenhaus zu bombardieren, weil das ein "Taliban-Stützpunkt" sei, aus dem schon seit Tagen gefeuert werde. Da die Ärzte ohne Grenzen aber abstreiten, dass zumindest in der Nacht Taliban-Kämpfer im Gebäude waren und alle Türen abgeschlossen gewesen seien, fragt sich nun, ob die US-Militärs so fahrlässig sind, zweifelhaften politischen Führern aufs Wort zu glauben oder ob die Ärzteorganisation lügt. Sie erklärt zwar, dass nach internationalem Recht jeder Verwundete in einem Krankenhaus, als Nichtkämpfer gilt, was darauf hinweist, dass womöglich verletzte Taliban-Kämpfer aufgenommen wurden. Aber auch dies kann keine Bombardierung rechtfertigen. Im Juli waren schon schon einmal afghanische Soldaten eingedrungen und hatten Personal bedroht. Möglicherweise ist Neutralität, um die sich Ärzte ohne Grenzen bemühen, nicht erwünscht.

Nach der Organisation kann es sich auch nicht um einen versehentlichen Angriff handeln. Es sei nur das Krankenhaus, aber keine Gebäude in der Nähe bombardiert worden. MSF betont überdies, dass die Koordinaten der Krankenhäuser und Gebäude der Organisation schon vor Monaten des afghanischen und amerikanischen Streitkräften mitgeteilt worden seien, zuletzt am 29. September. Und selbst nachdem die laufende Bombardierung den afghanischen und amerikanischen Militärs gemeldet worden seien, wurden sie nach MSF noch eine halbe Stunde fortgesetzt.

Das Pentagon rühmt sich gerne - wie jetzt auch die russische Luftwaffe mit ihren Angriffen in Syrien -, dass es sich bei den Luftangriffen um "chirurgische Eingriffe" oder um Präzisionsschläge handelt. Wenn Drohnen im Spiel sind, ist die Rede von "gezielten Tötungen". Die Kehrseite von Präzisionsangriffen sind die Opfer, die durch sie verursacht werden, mithin der "Kollateralschaden", der im "sauberen Krieg" nicht bezweckt wird, aber in der realen Welt halt entsteht, Pech für diejenigen, die entweder zufällig oder nicht den Zielen für die Präzisionsschläge gerade zu nahe waren, was aber die am Drücker nicht hinderte, trotzdem zu feuern, oder für diejenigen, die fälschlicherweise zum Opfer werden.

Auch in Syrien scheint die Möchtegern-Supermacht aus moralischen Gründen einen besseren Krieg zu führen. Man führe den bislang genauesten Präzisionskrieg, während die russische Technik der Präzisionsmunition noch eine Generation hinter der amerikanischen liege, wie die Time berichtet. Die Russen würden teilweise ungezielt bombardieren und damit riskieren, dass sie nicht ihr Ziel treffen. So erklärte am Donnerstag, also vor dem Vorfall in Kunduz, Generalleutnant Bob Otto, stellvertretender Stabschef für Aufklärung bei der US-Luftwaffe, dass die russischen Bomben keine "Präzisionsbomben" seien, sondern "dumb". Das könne man sehen.

"Wir glauben", so fuhr Otto fort, dass dann, wenn man unbeabsichtigt unschuldige Männer, Frauen und Kinder tötet, es einen Rückschlag gibt. Wir können drei töten und 10 Terroristen schaffen. Das geht auf die Frage zurück, ob wir mehr töten, als wir schaffen." Und es wird Leutnant Steve Warren zitiert, der am Donnerstag in Bagdad sagte: "Die Sorgfalt, die wir pflegen, um das Leben von Zivilisten zu schonen, ist ohne Vorbild." Das könnte sich nun erneut als Propaganda entlarven.

Deutschland wird sich mit Kritik zurückhalten. Kunduz ist sowieso ein wunder Punkt, zudem hat man vorbehaltlos schon immer alles gedeckt, auch die gezielten Tötungen und Verschleppungen, und was Massaker an Zivilisten angeht, wird man auch vorsichtig sein. 2009 waren auf Veranlassung des deutschen Oberst Georg Klein durch US-Kampfflugzeuge 139 Menschen bei Kunduz getötet worden, obgleich keine deutschen Truppen gefährdet waren. Klein wurde 2013 zum Brigadegeneral befördert. So sieht in Deutschland die Bewertung von "Kollateralschaden" aus.