Kunst_Newsletter Februar 97

Documenta X, Ulrike Rosenbach, Jeffrey Shaw u.a.

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<FONT SIZE=+1>Galerie Sophia Ungers

Die Galerie Sophia Ungers in Köln schließt. Die international arbeitende Galerie zeigte mit Simon Ungers vom 26. Oktober bis 14. Dezember 1996 die letzte Ausstellung. Sophia Ungers will aber dennoch dem Kunstbetrieb als Händlerin und Kuratorin erhalten bleiben. Ein Büro bleibt im ehemaligen Galeriehaus.

In der vorletzten Ausstellung »Houses for Sale« kündigten sich bereits die Zukunftsabsichten, unter anderem der Handel mit Kunst für Architektur, an. Wohl war immer schon die »Kunst am Bau« ein wichtiges Ressort, welches die junge Galeristin betreute, doch soll in Zukunft, durch den Wegfall der Ausstellungsbetreung, wieder mehr Zeit darauf verwandt werden. In dieser Ausstellung wurden in Kooperation mit der Immobilienfirma Gisela Precht und Nicole von Klencke 12 Architektenentwürfe für ein Stadt- und ein Landgrundstück gezeigt. Die Konzeptionsidee basierte auf einer Ausstellung von Leo Castelli aus dem Jahre 1981 in New York. Dort wurden ebenfalls Zeichnungsentwürfe und Architekturmodelle geladener Architekten gezeigt. Die Ausstellung bei Ungers versucht zudem, zwei konkret existierende Grundstücke samt Architekturentwurf Kunden anzubieten, beziehungsweise die Architekturentwürfe an anderer Stelle zu realisieren. Sowohl jungen und ambitionierten, wie auch von den renomierten Architekten wurde die Villa als ein Refugium, ein programmatisches Kompendium der Großstadt, die zugleich Öffentlichkeit adressiert und privaten Freiraum eröffnet, verstanden.

Die ehemalige Galeristin wird sich neben der freien Kuratorentätigkeit in Zukunft sich auch wieder der Schreibtätigkeit und Kunstkritik widmen.

Tel.: 0221 / 2401289

Documenta X / Kassel

21. Juni bis 28. September 1997

Das Herzstück der documenta X wird der Ausstellungsparcours beginnend am alten Hauptbahnhof sein. Die Unterführungen, die Treppenstraße, das bekannte Fridericianum, der Theaterbau Otteneum sollen dann die weiteren Besucherorte in der topographischen Inszenierung der Kassler Innenstadt sein. Die documenta-Halle und die Orangerie werden dann die letzten zu besuchenden Punkte sein.

Außerdem wird die documenta X erstmals im Netz vertreten sein. Der documenta-Server wird im wesentlichen auf drei verschiedenen Ebenen nutzbar. Einerseits ist seit Januar 1997 ein Informationsdienst im World-Wide-Web installiert, und andererseits werden darauf Projekte von Künstlern präsentiert. Am 21. März soll es eine Pressekonferenz geben, auf der diese Projekte beziehungsweise die inhaltlichen Vorgaben der Serverkonzeption in Bezug zur Gesamtkonzeption der documenta X vorgestellt werden. Die dritte Ebene im Internet soll ein Inter Realy Chat-Server sein, welcher das Programm »100 Tage - 100 Gäste« begleitet.

»100 Tage - 100 Gäste« soll ein Aktionsforum werden, in dem die dokumenta-Leiterin Cathérine David jeden Tag in der documenta-Halle einen Gast mit einem Vortrag, einer Diskussion oder einem künstlerischen Vortrag vorstellen wird. Cineasten, Künstler, Philosophen, Architekten, Wirtschaftswissenschaftler - Vor-Denker aller Art - sollen in diesem Programmteil eine Untersuchung der ästhetischen Produktion in Zusammenhang eines im weitesten Sinne gefaßten politischen Umfeldes vornehmen.

Generell will die documenta X den Versuch unternehmen, die Aktualität des Bildes im Spannungsfeld zwischen den schönen Künsten und den Medien zu analysieren und zu präzisieren. Cathérine David und Jean-Francois Chevrier führen damit ihr Konzept der Ausstellung »Passages de l'image« aus dem Jahre 1990, welche im Centre Pompidou stattfand, fort. »Die Kritik der Fernsehbilder verleiht, wie jede Medienkritik, eine merkwürdige Befriedigung. Ein Glaube an die Bilder, aber ein verlogener Glaube, der sich in der traurigen Leidenschaft äußert, stets das letzte Wort haben zu müssen.«, steht im »documenta-documents II« geschrieben. Das Zitat stammt von Serge Daney, Chefredakteur der Cahiers du Cinéma, Leitartikler und Fernsehberichterstatter der Pariser Tageszeitung Libération. Als einer der größten französischen Filmkritiker wurde seine Geisteshaltung schon für die Ausstellung im Centre Pompidou zur ideologischen Grundlage. »Die Ausdünnung der Bilder beginnt, wenn die beiden eng verwandten Handlungen des Sehens und Zeigens nicht mehr natürlich ablaufen, sondern wie Aktionen des Widerstands. Was man nicht mehr sieht, kann man sich nur mehr vorstellen. Die Einbildung ist das gespenstische Trugbild des Bildes. Sie ist unser bitter schmeckender Sieg.« Serge Daney vertritt die Auffassung, daß es zwei Arten von Bildbegriffen gibt. Einerseits den der undifferenzierten Bilderflut des Visuellen.

Kultur: ein geglücktes Mißverständnis. Das Gegenteil von Kultur: die Kommunikationsschleife, bei der nur herauskommt, was vorher schon drin war.

Serge Daney

Kommunikation in dieser Bilderflut kehrt immer wieder nur zu sich selbst zurück. Andererseits gibt es das unauffällige Bild, das spezifische, welches nicht alles preisgibt und auf das verweist was nicht im Bild ist, auf das »andere«. Das Bild soll in unseren komplexen sozialen Systemen der Medienwelt neu auszudifferenziet werden. Ein Server bei der documenta X ist die logisch-konsequente Folge des Programmes.

- email: email: ksg@kassel.de. - Infopage: http:www.documenta.de - Der Newsletter der documenta X wird ausschließlich per Fax versendet. Der nächste Newsletter erscheint am 3. Februar 1997. - Bestellung der Publikationen: Cantz Verlag Tel.: 0711 / 44 99 30 Fax.: 0711 / 4414579 Die documenta-documents I-IV erschienen ebenfalls in diesem Verlag. Nr. I ist aber bereits vergriffen. - documenta-Führungsdienst Tel.: 0561 / 7072725 Fax.: 0561 / 7282724 - Zimmerreservierung: Tel.: 0561 / 7077160 Fax.: 0561 / 7077169

Ulrike Rosenbach / Im Palast der neugeborenen Kinder

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn / 7. März bis 27. April 1997

In einem panoramatischen Rundumblick mischen sich in einer Komposition von sieben Videobildprojektionen dokumentarische Aufnahmen, Kommentare von Kindern und poetische Videobearbeitungen. Hoffnungen, Ängste und Visionen heutiger Kinder werden von der Künstlerin mit journalistischer Genauigkeit zu einer Bestandsaufnahme gefaßt.

Jeffrey Shaw / Place - a user's manual

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn / Ende Mai bis Anfang Juli 1997

In der Installation »Place« von Jeffrey Shaw können sich die Besucher mittels einfachen Bedienungselementen im Zentrum einer 360-Grad-Leinwand in virtuellen Räumen bewegen. Zusätzlich kann durch ein Mikrophon einerseits das Computerprogramm gesteuert werden, und andererseits können dreidimensionale Textfragmente in das Panorama projeziert werden.

In William Gibsons genialen und zum Klassiker gewordenen Roman »Neuromancer« ist zu lesen: »Im Nicht-Raum der Matrix besaß das Innere einer beliebigen Datenkonstruktion grenzenlose subjektive Dimension;«. Die computergestützte Gestaltung von Computerprogrammen, Computer aided software engineering, also die Gestaltung von mannigfach unterschiedlichen, visuellen Räumen und Datenräumen kürzt man mit dem Akronym CASE ab. CASE ist auch die Gestalt, der Held des neuen kybernetischen Raumes den dieser Roman 1984 bereits vorwegnahm. Case ist der Bastian einer unendlichen Computergeschichte, einer Weltflucht in den Cyberspace. Case folgt nur dem Traum der Programme, ist verloren im Daten-Raum, dem Schaltplan eines Weltrechners - »the matrix«, der die konsensuellen Halluzinationen und Aggregatzustände körperloser Bewußtseine ermöglicht.

Mit dem Fortschreiten der industriellen Revolution sind die alten Bildmetaphern: Fenster, Ausschnitt der Wirklichkeit usw. zunehmend verloren gegangen. Die Entwicklung des Bildes machte sich unabhängig von der Malerei, panoramatische Apperzeption sprengte die Rahmenschau. Paul Valery's Diktum »Ich sehe mich mich sehen«, die raumerklärende Zentralperspektive des Quatrocento wurde abgelöst durch ein »man will selbst im Geschehen sein«. Die Eroberung der Welt als integrales Bild, das auf Allsichtigkeit zielte, übernahm das Kino dann vom Panorama. Mit der Cybertechnologie vollzieht sich dann konsequenterweise der alte Menschheitstraum, in anderen, möglichen Welten wirklich zu sein, vollzieht sich der Eintritt des Beobachters in den Bildraum. Zum blinden Fleck des integralen Bildes schrumpft er willig, und er konstituiert die Totalität der Bilder, in dem er sich um die eigene Bildachse dreht. Er tritt dem Bild nicht mehr als grimmige Entität gegenüber, er will im Bild sein. Ein Sein-im-Bild verdrängt das hermeneutische Sein zum Bild. Ein Beschwören der Ferne, so nah sie auch sein mag. Klar, daß unter solchen Bedingungen weder Subjektivität noch Intersubjektivität unversehrt bleiben. Allerorts wird heute die Verlustrechnung dafür aufgemacht. Der Mensch ist unendlich mehr Möglichkeit als Wirklichkeit, auch ästhetisch betrachtet.

Jenseits von Kunst

/ Neue Galerie Graz / Graz, 7. Februar bis 31. März 1997

Die Ausstellung »Jenseits von Kunst« zeigt die Neue Galerie Graz in Kooperation mit dem Ludwig Museum als einen Beitrag zum österreichischen Millennium und ungarischen Millecentenarium 1996. Im ungarischen Museum wurde diese bereits vom 17. Oktober bis 23. November 1996 präsentiert. Leistungen und Werke von rund 100 österreichischen und ungarischen Künstlern und ebenso vielen Wissenschaftlern werden so vernetzt, daß eine innovative und informative Karthographie einer Kulturlandschaft entsteht, daß beliebig austauschbare Klischeevorstellungen, abgelaufene Geschichtsbilder im Dienste reaktionärer Ideologien und geschichtsverzerrende Anektoten der gemeinsamen Kultur- und Geistesgeschichte von Österreich und Ungarn konterkariert, entzerrt und korrigiert werden. So lautet das Programm des künstlerischen Leiters der Neuen Galerie Graz, Peter Weibel.

In zehn grobe Sektionen wurde das Mammutprojekt unterteilt. Erstens: Wahrnehmung und Bewegung, zweitens: Symmetrie und Symmetriebrechung, drittens: Messen und Beobachtungen, viertens: Mathematik und Physik, fünftens: Kybernetik, Informatik und Computerkunst, sechstens: System, Spiel und Evolution, siebtens: Wissenschafts- und Kunsttheorie, achtens: Psychoanalyse und Aktionismus, neutens: Vision und Dekonstruktion und zehntens: visuelle Kommunikation. Schon die zehn Headlines der Sektionen lassen einen vermuten: Nichts für banalen Kunstkonsum; eine Ausstellung - nein besser: Ein Projekt der totalen intellektuellen Vernetzung auf allen Ebenen; ein Kunstkonsum für Mit-Denker und Vor-Denker.

In der fünften Sektion beispielsweise wird die Entwicklung von der Automatentheorie, der Kybernetik bis zu den neuesten Entwicklungen in den Netzwerken und Telematie eines Marc Adrian, Richard Krische, Franz Xaver u. a. nachgezeicnet. Mit dem Buch »Cybernetics: Control and Communication in the Animal and the Machine« wurde 1948 von Norbert Wiener erstmals der Gesichtspunkt der Steuerbarkeit von Lebewesen im Vergleich mit Maschinen definiert. Heinz von Foerster führte dann die Kybernetik zweiter Ordnung ein.

Die Ausstellung hätte wegen Ihrer Größe und inhaltlichen Tragweite durchwegs auch einen größeren Rahmen, wie das Naturhistorische und Kunsthistorische Museum, das Museum des 20. Jhdt oder das Museum für angewandte Kunst vertragen.

René Magritte / Die Kunst der Konversation

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 23. November bis 2. März 1997

Die Ausstellung wurde wegen des großen Publikumerfolges (78 000 Besucher) bis Ostermontag, den 31. März 1997, verlängert. Öffnungszeiten: Täglich 10.00 - 18.00 Uhr Freitags von 10.00 - 20.00 Uhr Montags geschlossen

Infopage: http://rp-online.de (Rheinische Post - Kunstsammlung)

Jackie McAllister / Galerie Christian Nagel, Köln

7. März - 27. April 1997

Aus einem Konglomorat von Möglichkeiten Informationseinheiten zu gewinnen, das heißt Information im Sinne einer Möglichkeit zu informieren, war wesentliches Kalkül des abstrakten Expressionismus. Das action painting Jackson Pollocks zeichnete sich hierfür durch seine Organisation, einem Prinzip der Gleichverteilung von abstrakten Elementen aus. Die Mehrdeutigkeit dieser Signifikanten - um es mit Umberto Eco zu formulieren - stellt ein »Feld interpretativer Möglichkeiten«1 dar. Für Eco ist das action painting Pollocks das beste Beispiel eines offenen Kunstwerks, ein Tafelbild, strukturiert »als Konfiguration von mit substantieller Indeterterminiertheit begabten Reizen, so daß der Perzipierende zu einer Reihe stets veränderlicher "Lektüren" veranlaßt wird«. Die Bildstruktur, die Komposition wird dann konsequenterweise in denselben Satz »als Konstellation von Elementen, die in wechselseitige Relationen eintreten können« definiert.

Zwei jeweils 183 x 244 cm große Tafelbilder des in New York lebenden schottischen Künstlers Jackie McAllister weisen diese all-over-Struktur, Merkmal des action paintings, auf. Dem »Lochness-Monster«, so der Titel eines der beiden Bilder, liegt ein dubioses Foto vom angeblichen Geheimnis Lochness zugrunde, welches immer wieder als Beweismittel für dieses Mysterium diente. Darauf zu sehen ist ein U-förmiger Hals des angeblichen Monsters, den der Künstler als schemenhaftes Image auf die Leinwand projizierte. Ausschließlich mit Scotch, süßen Vermuth und gelber Tusche vollführte er darüber seinen dance of dripping, seinen Malakt, ohne daß dabei dieses ursprüngliche Image verloren ging. Die Differenz von schlichter Präsenz und Valenz ist durch die beiden Bildebenen aufgehoben - sie wird zum konstitutierenden konzeptuellen Element. Ähnlich gingen bereits Art&Language in ihren Bildern, beispielsweise im »Portrait of V.I. Lenin with Cap, in the style of Jackson Pollock I« vor. Auch dieses Bild erfordert zwei Betrachtungsdistanzen. Aus der Nähe rezipiert, ist es die all-over-Struktur, Zeichen für die autonome moderne Kunst. Bei einer zweiten fernen Betrachtung verdichten sich die Farbstrukturen des all-overs zu einem Lenin-Portrait des sozialistischen Realismus. Bei beiden Arbeiten stehen beide Wahrnehmungen als differenzierte Entitäten gegenüber, sind sie nur die eine oder die andere Form. Sie sind faktisch koexistent und nicht dialektisch vermittelt, weder simultan, noch kontinuierlich zu erfahren.

Ähnlich wie in den Bildern Pollock bemüht wird, zitiert eine zusätzlich gezeigte dreidimensionale Arbeit von McAllister Hans Haacke. Eine Skulptur mit dem Titel »Wisky-Condensation-Cube« aus Plexiglas mit 25 cm Kantenlänge spielt auf dessen Condensationsobjekte an. In einer vor dem Galeriefenster positionierten Box ist eine kleine Menge Wisky gefüllt, die dann bei Sonnenlicht verdampft, eine herb riechende Duftnote absondert und am Abend wieder kondensiert, sich also wieder in Wisky zurückbildet.

Das zweite großformatige Bild »Rob Roy« und neun kleinere Bilder im hinteren Raum der Galerie sind ebenfalls im dance of dripping-Verfahren produziert. Ersteres ist über den Arbeitstitel zu entschlüsseln und spielt auf eine schottische historische Figur der McDonald-Dynastie an, welche die Rebellion gegen die englische Krone anführte. Die Arbeit lädt sich schon alleine wegen der erst kürzlich gezeigten gleichnamigen Hollywoodverfilmung mit einer zweiten Bedeutungsebene und Aktualität auf.

Bedeutungs- und Bildebenen in den Arbeiten von Mc Allister sind im besten Sinne des abstrakten Expressionismus Möglichkeit zu informieren. Das Prinzip der frei fluktuierenden temporären Referenzialitäten zwischen den Elementen in einem Ordnungsprinzip ohne Anfang und Ende verlagert sich auf diese Bild- und Bedeutungsebene. Die Arbeiten von Jackie McAllister erheben den Anspruch, auf eine Aktualisierung der historischen Situation und den Anspruch, Stilmittel der Moderne zu legitimieren ohne eklektizistisch die Rückkehr zum Tafelbild zu fordern.