Kunst der Neandertaler

Seite 3: Älteste Höhlenmalerei weltweit

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Die aktuelle Science-Veröffentlichung stellt nicht nur den Neandertaler als Schöpfer, sondern zugleich die weltweit älteste Höhlenmalerei vor. Rekordhalter waren zuvor Höhlenkunstwerke von der indonesischen Insel Sulawesi mit einem Alter von 40.000 Jahren. Sie können nicht von Neandertalern geschaffen worden sein, denn diese Menschengruppe lebte nie dort (vgl. Die älteste Höhlenmalerei der Welt in Indonesien).

In Afrika gibt es bis zu 100.000 Jahre alte Belege für sehr frühes symbolisches Denken und Handeln des Homo sapiens in Form von Schmuck und geometrisch verzierten Ockerbrocken (vgl. Beschleuniger der Expansion und Muschelkette als Statussymbol). Mit Sicherheit hat der anatomisch moderne Mensch auf seinem Weg von Afrika aus in die ganze Welt einige Kulturtechniken und sein eigenes symbolisches Denken mitgenommen.

Nun muss ernsthaft diskutiert werden, was die Neandertaler (und vielleicht noch weitere Steinzeit-Menschenformen wie Denisova) zum kulturellen Erbe der Menschheit vor und während der jungpaläolithischen Kultur-Revolution in Europa und Asien beigetragen haben. Kunst zu schaffen ist kein Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens mehr.

Muschelschale mit Farbresten aus der Cueva de los Aviones. Sie ist zwischen 115.000 und 120.000 Jahre alt. Foto: J. Zilhão

Dazu trägt eine weitere Studie mit einer Neudatierung von Neandertalerfunden bei, die aktuell in Science Advances erscheint. Ein Forscherteam aus Deutschland, Italien, Spanien und Portugal rund um Dirk Hoffmann nahm die Höhle Cueva de los Aviones in Südost-Spanien erneut genau unter die Lupe, sie untersuchten ebenfalls mit der Uran-Thorium-Datierungsmethode das Alter einer Sinterschicht, unter der durchbohrte Muscheln, rote und gelbe Farbpigmente sowie Pigmentmischungen gefunden wurden.

Es zeigte sich, dass die Fundstücke circa 115.000 Jahre alt und damit deutlich älter als vergleichbare Stücke aus Afrika sind. Homo neanderthalensis war weder dumm noch primitiv, noch litt er unter einem Mangel an symbolischem Denken.

"Die Entstehung der symbolisch-materiellen Kultur ist eine fundamentale Schwelle im Laufe der menschlichen Evolution. Sie ist eine der tragenden Säulen dessen, was uns zum Menschen macht", sagt Dirk Hoffmann. "Objekte, deren funktioneller Wert nicht so sehr in ihrer praktischen, sondern in ihrer symbolischen Verwendung liegt, repräsentieren fundamentale Aspekte menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Denkens, so wie wir sie heute kennen."

Viele Fragen zu den Initialzündungen der menschlichen Kultur, ihrer Weitergabe und ständiger Veränderung von Generation zu Generation sind noch offen. Aber die Neandertaler sind jetzt als neue Figuren im Spiel der kulturellen Evolution. Sie waren nicht wie die anatomisch modernen Menschen, aber sie haben ihren Beitrag geleistet - potentiell ebenbürtig.

Die Debatten um die Intelligenz des Neandertalers sind damit sicherlich nicht beendet, wie schon der begleitende News-Artikel in Science verdeutlicht (Europe's first artists were Neandertals, deutsche Übersetzung in der Süddeutschen Zeitung: Neandertaler schufen Höhlenkunst). Nicht zuletzt war die geistige und kulturelle Unterlegenheit bislang eine wichtiger Baustein in den Theorien zum Verschwinden des Homo neanderthalensis nach der Ankunft des modernen Menschen in Europa und Asien.

João Zilhão vom Catalan Institution for Research and Advanced Studies in Barcelona, Co-Autor beider Studien und leidenschaftlicher Verfechter der Gleichwertigkeit des Neandertalers, zieht das Fazit:

Unseren neuen Daten zufolge konnten auch Neandertaler symbolisch denken und waren kognitiv nicht vom modernen Menschen zu unterscheiden. Auf der Suche nach den Ursprüngen von Sprache und entwickeltem menschlichen Wahrnehmungs- und Denkvermögen müssen wir deshalb viel weiter in unsere Vergangenheit zurückblicken: mehr als eine halbe Million Jahre, auf den gemeinsamen Vorfahren von Neandertalern und modernen Menschen.

João Zilhão