Kunst der Neandertaler

Seite 2: Kein wilder Halbaffe aus dem Neandertal

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1856 fanden Steinbrucharbeiter in der Nähe von Düsseldorf die Knochen einer Menschenart, die nach dem Fundort Neandertaler genannt werden. Schnell galten die Männer und Frauen der Art Homo neanderthalensis den Experten als "rohes Urvolk". Abgebildet wurden sie meist als gebückt gehende, stark behaarte Wesen, die eher wie halbe Affen aussahen, ohne menschliche Sprache oder Kultur. Ein Bild, das sich vor allem in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat.

Neandertaler sind enge Verwandte des modernen Menschen, aber es gibt doch große Unterschiede. Sie waren durchschnittlich nur etwa 1,60m groß, hatten stärkere Knochen und waren untersetzter und viel muskulöser als der moderne Mensch, außerdem hatten sie einen langen und abgeflachten Schädel mit niedriger Stirn, großer Nase, starken Überaugenwülsten sowie ein fliehendes Kinn.

Sie verfügten über Sprache, aber durch ihren Körperbau klang ihre Stimme nicht so wie die des modernen Menschen, die Geburt war für Neandertalerinnen schwerer und schneller (vgl. Ähnlich und doch ganz anders) und ihre Kinder erreichten viel schneller das Erwachsenenalter (vgl. Schneller erwachsen und nur entfernt verwandt).

Sie glichen uns, gehören in geringen Anteilen zu unseren direkten Ahnen (vgl. Frühmenschlicher Sex-Reigen) und waren doch ganz anders (vgl. Anderes Hirn und jede Menge Sex).

Auf jeden Fall verständigten sich diese Ureuropäer mit den anatomisch modernen Frauen und Männern, die vor rund 40.000 Jahren aus Afrika kommend zuwanderten. Vieles weist auf einen Austausch von Ideen und Technik hin - und sie zeugten miteinander Nachkommen.

Zeichnung des Panels 78 in La Pasiega. Die rote Leiter hat ein Alter von mindestens 64.000, wobei unklar bleibt, ob die Tiere und anderen Symbole später gemalt wurden. Bild: Credit: Breuil et al. (1913)

Schmuck, Körperbemalung und Kunst

In den letzten Jahren haben sich die wissenschaftlichen Hinweise stark vermehrt, dass Homo neanderthalensis dem modernen Menschen durchaus ebenbürtig war und zu symbolischen Denken und Vorgehen fähig. Das Bild vom blöden Wilden löste sich zunehmend auf.

Seit langem ist bekannt, dass Neandertaler geschickte Jäger waren und ausgefeilte Werkzeuge herstellten, sich Birkenpech als Klebstoff kochten und Kleidung nähten. Sie beherrschten das Feuer und bereiteten Nahrung wohl bereits seit 300.000 bis 400.000 Jahren vor unserer Zeit mit Hitze zu.

Neandertalerinnen und Neandertaler fertigten vieles aus Leder und schufen sich dafür eigene spezialisierte Gerätschaften wie Lissoirs aus Knochen zum Glätten der Häute, die in ähnlicher Form im traditionellen Handwerk bis heute verwendet werden (vgl. Einzigartiges Erbe aus der Zeit der Neandertaler).

Erst vor einigen Jahren erwies sich, dass sie nicht nur ihre Körper bemalten, sondern auch Schmuckstücke aus Muscheln und Federn fertigten (vgl. Großes Gehirn und intelligenter als gedacht).

Umstritten blieb aber, ob die Neandertaler wirklich symbolische Bedeutungen kannten. Insoweit ihnen kulturelle Fähigkeiten zuerkannt werden, gingen die Experten meist davon aus, dass diese Entwicklung im direkten Austausch mit dem anatomisch modernen Menschen entstanden sei.

Frühe Kunstwerke wie Höhlenmalerei, figürliche Kunstobjekte, wie die auf der schwäbischen Alb gefundenen, oder Musikinstrumente galten stets als dem Homo sapiens zugeordnet. Vor der entscheidenden Begegnung mit unseren direkten Vorfahren wurde dem Neandertaler sehr wenig zugetraut.

Mit Löchern versehene Muscheln aus der Höhle Cueva de los Aviones, zwischen 115.000 und 120.000 Jahre alt. Foto: J. Zilhão

Diese gängige Theorie befindet sich nun immer mehr in Auflösung. Vor zwei Jahren stellten französische Wissenschaftler rund 175.000 Jahre alte Kreise und weitere von Menschenhand aus Tropfsteinbruchstücken erreichte Formationen in den Tiefen der Bruniquel-Höhle im Südwesten Frankreichs vor.

Insgesamt wurden mehr als 400 Stalagmiten-Stücke dafür verwendet, die zusammen 2,2 Tonnen wiegen. Die Tropfsteine wurden für den Bau bearbeitet, sie sind ungefähr gleich lang und bei der Hälfte sowohl Spitze wie Fuß abgebrochen. Wozu auch immer sie dienten, die Bauarbeiten in tiefer Dunkelheit verlangten eine sorgfältige Planung und Umsetzung (vgl. 176.500 Jahre alte Kreise, tief in der Dunkelheit). Ähnlich wie die Malereien in den spanischen Höhlen La Pasiega, Maltravieso und Ardales.

Paul Pettitt, Co-Autor der aktuellen Science-Studie hält fest:

Neandertaler schufen bedeutungsvolle Symbole an bedeutungsvollen Orten. Die Kunst ist kein einmaliger Zufall. Wir haben Beispiele aus drei Höhlen, die 700km voneinander entfernt sind und Beweise, dass sie für eine lang gelebte Tradition stehen. Es ist gut möglich, dass ähnliche Höhlenkunst in anderen Höhlen Westeuropas ebenfalls vom Neandertaler stammt.

Paul Pettitt