Ähnlich und doch ganz anders
Neandertalerkinder kamen schwer zur Welt
Er sah uns so ähnlich, dass er in Jeans und Hemd in einer Großstadtmenge heute kaum auffallen würde. Aber immer mehr stellt sich heraus, dass der Neandertaler doch in vielen Punkten sehr verschieden war. Neben den neuen Erkenntnissen der Genetik ein Beleg dafür, dass er nicht unser direkter Vorfahr ist.
Der Neandertaler war kein wilder sprachloser Wilder, wie ihn die Schulbücher lange zeichneten. Er lebte schon lange in Europa, als die ersten anatomisch modernen Menschen hier auftauchten (vgl. Mehrere Auswanderungswellen), er war gut an das kalte Klima des Kontinents angepasst, er bemalte seine Haut, stellte Kleidung aus Leder her, baute Hütten, fertigte Werkzeug und Klebstoff aus Birkenpech. Homo neanderthalensis war ein hervorragender Jäger, er kümmerte sich um kranke Sippenmitglieder und bestattete seine Toten.
Ungefähr 10.000 Jahre lang lebte er in Europa Seite an Seite mit unseren Homo sapiens-Vorfahren, bevor er plötzlich verschwand. In Südspanien finden sich seine letzten Spuren. Warum er ausstarb, darüber wird immer noch eifrig spekuliert, aber es zeichnet sich ab, dass er einen toten Ast der Menschheitsgeschichte darstellt – er hinterließ keine Nachkommen.
Die fortschreitende Analyse seines Erbguts spricht dafür, dass wir nicht direkt mit ihm verwandet sind, wir haben kein Gen von ihm in uns (vgl. Sex ja, Kinder nein).
Vor rund 150 Jahren fanden sich seine Knochen im Neandertal bei Mettmann (vgl. Neanderthal-Museum). Erst langsam dämmerte danach die Erkenntnis, dass der Homo neanderthalensis ein Mensch gewesen ist, der viel mit uns gemeinsam hatte, und kein Keulen schwingender Halbaffe war.
Eine Weile standen dann die Ähnlichkeiten im Vordergrund, so dass er sogar als Homo sapiens neanderthalensis bezeichnet wurde (vgl. Neues vom wilden Mann). Aber je mehr über ihn (und damit indirekt auch über uns) die Wissenschaft detailliert analysiert, umso deutlicher werden die Unterschiede zwischen dem Früheuropäer und allen Menschen, die heute auf der Welt leben.
Heute gilt es als sicher, dass er durch Sprache kommunizierte. Seine Stimme war wahrscheinlich lauter als unsere und er artikulierte vor allem die Vokale anders (vgl. Stimme der Neandertaler simuliert), ein im Computer rekonstruiertes E von ihm klingt in unseren Ohren ziemlich quäkend (vgl. Simulation). Er spielte Musik, tanzte und sang. Allerdings sind Klangkompositionen wie das kürzlich von Simon Thorne im National Museum Wales aufgeführte Stück Neanderthal pure zeitgenössische Fantasie (vgl. Simon Thorne/Projects).
Anderer Körperbau und andere Geburt
Nicht nur sein Stimmapparat war anders gebaut als der des Homo sapiens, mit durchschnittlich 1,60m Köpergröße war er kleiner, aber untersetzter. Seine Knochen waren massiver, er war das reinste Muskelpaket, hatte einen lang gezogenen Schädel mit ausgeprägten Überaugenwülsten, großer Nase und einer ziemlich niedrigen Stirn. Im Neanderthal-Museum kann man sich ansehen, wie man selbst als Neandertaler aussehen würde, eine Vorstellung davon gibt es auf der ansonsten sehr wissenschaftlichen Site NESPOS (Neanderthal Studies Professional Online Service).
Funde der Überreste seiner Jagdbeute wie auch Analysen seiner Knochen ergaben, dass er sich weit überwiegend, wahrscheinlich zu 90 bis 95 Prozent von Fleisch ernährte. Fisch stand dagegen nicht auf seinem Speiseplan – während der Homo sapiens zur selben Zeit in Europa schlicht alle aß, was ihm seine Umgebung bot (vgl. Klug und voller Fleischeslust).
Jetzt haben Anthropologen den Körperbau erneut analysiert, um nachzuvollziehen, wie die Neandertaler-Babys auf die Welt kamen. Timothy D. Weaver von der University of California in Davis und Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig erstellten eine 3D-Rekonstruktion des Geburtskanals einer Neandertalerfrau und simulierten den Ablauf des Gebärens. Die beiden Forscher publizierten ihre Erkenntnisse unter dem Titel "Neandertal birth canal shape and the evolution of human childbirth" in einer Online-Veröffentlichung der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).
Das Becken ist ein Teil des Skeletts, der nur sehr selten einigermaßen komplett ausgegraben wird. Deswegen waren bislang Aussagen über den Ablauf der Geburt eines Homo neanderthalensis schwierig. Timothy Weaver und Jean-Jacques Hublin verwendeten fragmentierte Beckenknochen aus einer Grabung im israelischen Tabun – bislang die komplettesten Bruchstücke des Unterleibs einer Neandertaler-Frau – und vervollständigten sie im Computer (vgl. Reconstruction of Tabun pelvis).
Funde von Neandertaler-Säuglingen zeigen, dass ihr Schädel vergleichbar groß war wie der eines anatomisch modernen Menschen, nur etwas länger. Eine evolutionäre Voraussetzung für die hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten, allerdings zum Preis schwerer und sehr schmerzhafter Geburten – ein Problem auch des Homo sapiens. Durch den aufrechten Gang, der ein starres Becken erfordert, und die großen Köpfe der Säuglinge, die gerade eben noch durch die enge Öffnung passen, wird das Gebären zur Tortur. Auch die Neandertaler-Frau, die vor mindestens 60.000 Jahren im Nahen Osten lebte, muss starke Schmerzen bei der Geburt erlitten haben. Aber die Form des rekonstruierten Geburtskanals verdeutlicht, dass der Ablauf anders gewesen sein muss.
Moderne Babys schrauben sich sozusagen auf die Welt, eine Folge von Drehungen ermöglicht ihnen den Weg aus ihren Müttern hinaus (vgl. Drehungen des Kindes bei der Normalgeburt). Das Neandertalerkind kam dagegen auf direktem Weg durch den Beckenboden, was sowohl für Mutter wie für das Kind eine noch größere Strapaze gewesen sein muss. Immerhin ging es schneller als beim modernen Menschen, aber der Ablauf ist weit weniger komplex.
Die Forscher kommen zu dem Schluss:
Es ist also erst relativ spät in der menschlichen Evolution, während der letzten 400.000 bis 300.000 Jahre, zu einer entscheidenden Veränderung im Geburtsprozess gekommen. Der menschliche Geburtsvorgang ist deswegen einzigartig. Die Neandertaler haben offensichtlich einen evolutionären Weg beschritten, der von der Abstammungslinie des heute lebenden Menschen abweicht.
Die Ergebnisse bestätigen ähnliche Modell-Untersuchungen von Anthropologen der Universität Zürich, die sich bereits im vergangnen Jahr mit demselben Problem und unter anderem auch der virtuellen Rekonstruktion des Neandertaler-Beckens aus Tabun beschäftigt hatten (vgl. Christoph Zollikofer und M. Ponce de Leon: Überraschendes zur Entwicklung der Neandertaler).
Ähnlich und doch ganz anders – der Neandertaler ist mit uns verwandet, aber der letzte gemeinsame Vorfahre von Homo neanderthalensis und Homo sapiens hat wohl vor mehreren hunderttausend Jahren gelebt. In Europa trafen vor 40.000 Jahren zwei Menschenarten aufeinander, die letztlich doch sehr unterschiedlich waren – und sich bei ihren seltenen Begegnungen möglicherweise auch so wahrnahmen.
Interessant bleibt in diesem Zusammenhang die andauernde Debatte um die Dauer der Kindheit des Neandertalers, seine Ausbildungszeit, und damit möglichen weiteren Unterschieden in Verhalten und Sozialgefüge (vgl. Schneller erwachsen und nur entfernt verwandt).