176.500 Jahre alte Kreise, tief in der Dunkelheit
Älteste bekannte Bauten: Tropfsteinformationen in einer französischen Höhle, errichtet von Neandertalern
Es wird immer deutlicher, dass der Neandertaler viel mehr Fähigkeiten hatte, als ihm die Experten lange zutrauten. Er war kein tumber, affenähnlicher Primitivling, der seine Keule schwang, sondern ein anderer Mensch, der feine Werkzeuge schuf, höchst erfolgreich jagte, Kleidung und Schmuck trug. Längst ist klar, dass sich Neandertaler und Neandertalerinnen über Sprache verständigten. Dennoch halten gängige Modelle bisher an der Vorstellung der Überlegenheit des anatomisch modernen Mensch fest und schreiben jeden Fund künstlerischer Artefakte automatisch dem zu.
Symbolisches Denken wird dem Homo neanderthalensis generell abgesprochen, seine Unterlegenheit soll sich nach Meinung vieler Anthropologen vor allem in einer minderwertigen sozialen Organisation manifestiert haben, was letztlich zu seinem Verschwinden führte.
Ein Bild, das immer mehr Risse bekommt. Jetzt zeigen aktuelle Forschungsergebnisse, dass die Neandertaler vor 176.000 Jahren aus Tropfsteinbruchstücken mehrere kreisförmige Strukturen sehr tief in einer Höhle errichteten.
Im Südwesten Frankreichs, im Departement Tarn-et-Garonne, hoch über dem Fluss Aveyron befindet sich die Bruniquel-Höhle, die seit dem Pleistozän durch einen Felssturz verschlossen war, bis sich 1990 Höhlenforscher einen Zugang frei gruben. Die Speläologen fanden eine faszinierende Unterwelt voller Tropfsteine und einen unterirdischen See, schon im früheren Eingangsbereich Spuren von Höhlenbären, Fußabdrücke und Klauenritzungen und ganz tief im Innern der lang gezogenen Höhle eine Halle mit seltsamen Kreis-Formationen auf dem Boden.
336 Meter vom einstigen Eingang entfernt wurden hier zwei ringförmige Strukturen aus Stalagmiten (vom Boden nach oben wachsender Tropfstein) errichtet, die in ihrer Form an alte Weidezäune erinnern. Die größere misst 6,7m mal 4,5m, die kleinere 2,2m mal 2,1m. Zudem gibt es zusätzlich vier Tropfstein-Stapel mit einem Durchmesser von 0,55 bis 2,6 Meter. Zwei von ihnen liegen in der Mitte des größeren Kreises, zwei außerhalb.
Insgesamt wurden mehr als 400 Stalagmiten-Stücke dafür verwendet, die zusammen 2,2 Tonnen wiegen. Die Tropfsteine wurden für den Bau bearbeitet, bei der Hälfte sowohl Spitze wie Fuß abgebrochen. Sie sind fast alle ungefähr gleich lang, im großen Ring messen sie durchschnittlich rund 34 cm Länge, im kleineren durchschnittlich knapp 30 cm. Manche sind durch die Einwirkung von Hitze rot oder schwarz verfärbt.
Die Steinwälle erregten sofort die Neugier von Wissenschaftlern, die Radiokarbondatierung eines verkohlten Knochens aus der größeren Kreisformation ergab 1995 ein Alter von mindestens 47.600 Jahren, womit die technische Grenze der Methode erreicht war.
Große Überraschung bei der Neudatierung
Ein internationales Team rund um Jacques Jaubert von der Université de Bordeaux, Sophie Verheyden vom Institut royal des Sciences naturelles de Belgique und Dominique Genty vom französischen Laboratoire des Sciences du Climat et de l'Environnement (LSCE) begannen 2013 eine neue eingehende Untersuchung der von Menschen gemachten Kreise. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature.
Zunächst legten sie eine genaue Liste aller Stalagmiten-Fragmente an und kartografierten die steinernen Wälle mit größter Präzision, um ein 3D-Modell zu erstellen. Zudem vermaßen sie die einst erhitzten Steine für eine archäomagnetische Datierung. Die Untersuchung von verbrannten Knochen, die am Rand der Kreise gefunden wurden, vervollständigten das Bild.
Mittels u.a. der Uran-Thorium-Datierung von 18 Proben der von Kalzit überkrusteten Formationen kam das Team auf das erstaunliche Alter von 176.500 Jahren für die Tropfstein-Kreise.
Zu dieser Zeit lebten noch keine anatomisch modernen Menschen in der Region. Europa war das Reich der Neandertaler, sie waren von 400.000 bis mindestens vor 40.000 Jahren die Herren des Kontinents (vgl. Vom Werden und Vergehen des Neandertalers).
Das Alter ist sehr erstaunlich, weil nicht bekannt war, dass derartig früh in der Steinzeit menschliche Wesen bereits die tiefen Bereiche von Höhlen nutzten. Sie haben mit Sicherheit nicht dort gelebt - selbst in den vorderen Bereichen von Höhlen haben weder Neandertaler noch anatomisch moderne Menschen gelebt, sie haben sie nur vorübergehend als Schutzräume aufgesucht. Als Lagerstätten bevorzugten sie Plätze unter Felsüberhängen.
Nach bisheriger Erkenntnislage drangen Menschen erst sehr viel später in die Bereiche von Höhlen vor, in die kein Sonnenlicht mehr dringt, tauchten in die tiefe Dunkelheit ein, um - warum auch immer - dort Felsritzungen und Wandmalereien zu hinterlassen. In Europa sind das die Höhlen von Chauvet (vor 36.000 Jahren), Lascaux (vor 22.000 -20.000 Jahren), Altamira und Niaux (vor 18,000 -15,000 Jahren). Oder um dort in der Unterwelt ihre Toten zu bestatten wie in Cussac in der Dordogne (vor 28,500 Jahren). Aber selbst in diesen viel jüngeren Kultstätten findet sich keine vergleichbaren Bauwerke, höchstens mit Steinbrocken eingefasste Feuerstellen.Sophie Verheyden erklärt:
Das sind die ältesten von Menschen gemachten komplexen Konstruktionen, die je unter der Erde gefunden wurden
Fähigkeiten des Neandertalers
Dem Neandertaler hätte bislang niemand auch nur zugetraut, dass er in solche Tiefen einer Höhle vorgestoßen ist.
Er beherrschte das Feuer und bereitete seine Nahrung wohl bereits seit 300.000 bis 400.000 Jahren vor unserer Zeit mit Hitze zu. Er war in Europa das erste menschliche Wesen, das diese Fähigkeit hatte (vgl. On the earliest evidence for habitual use of fire in Europe). Aber dass er mit Fackeln die Unterwelt erforschte, um dann dort Feuer zu entzünden und eine derartig komplexe Kreisanlage zu erbauen, das hätte in der Fachwelt niemand vermutet.
Die meisten Experten gehen davon aus, dass der Neandertaler erst durch den Kontakt mit den modernen Menschen etwas wie Kultur entdeckte und symbolisches Denken kennen lernte. Diese Unterlegenheit soll letztlich seinen Untergang bedeutet haben. Dabei ist seit längerem klar, dass er einige Kulturtechniken beherrschte. Neandertalerinnen und Neandertaler bemalten ihre Körper und trugen Schmuck aus Knochen, Klauen, Federn und Muscheln (vgl. Großes Gehirn und intelligenter als gedacht). Ihr Werkzeug war technisch auf der Höhe der Zeit, sie klebten mit gekochtem Birkenpech und fertigten sich Kleidung aus Leder und Pelzen (vgl. Einzigartiges Erbe aus der Zeit der Neandertaler).
Dennoch wurde ihnen bislang die Herstellung von Kunstwerken nicht zugetraut. Deshalb werden alle Fels- und Höhlenzeichnungen genau wie Kleinskulpturen stets dem anatomisch modernen Menschen zugeschrieben. Aber Felsgravierungen in einer Höhle in Gibraltar brachten im vergangenen Jahr diese Annahme ins Wanken. Es tauchten dort Muster in Stein auf, die nicht zufällig z.B. bei Schneiden von Fleisch oder Fell entstanden sein können. Mit großem Aufwand schlug der Urzeitkünstler die sich kreuzenden Linien vor mehr als 39.000 Jahren gezielt in den Fels.
Es gibt längst viele Hinweise auf abstraktes Denken und symbolische Aktivitäten des Homo neanderthalensis. Sie waren anders, aber nicht unterlegen (vgl. Anderes Hirn und jede Menge Sex). Was eine Studie von 2014 belegt, die sich mit den Unterlegenheitsszenarien auseinandersetzte und feststellte, dieses Modell beruhe vor allem auf Vorurteilen und veraltetem Denken der Wissenschaft (vgl. Neandertal Demise: An Archaeological Analysis of the Modern Human Superiority Complex).
Soziale Organisation
Die ringförmigen Tropfstein-Mauern stehen für eine sorgfältige Planung und Umsetzung der Bauarbeiten. Die Steine wurden zusammengesucht, bearbeitet, transportiert und aufeinander geschichtet. Das Baumaterial bestand aus fast gleich großen Stalagmiten-Stücken, mit neben und übereinander gelegten Steinbrocken wurden die Kreise von Innen und Außen verstärkt und gestützt. Aneinander gereiht würden die verwendeten Steine eine Strecke von 112 Metern ergeben. Jacques Jaubert erläutert:
Die Struktur legt nah, dass diese Gruppe von damaligen Neandertalern eng zusammen hielt und bereits eine elaborierte soziale Organisation hatte - auf jeden Fall 'moderner', als bisher gedacht. Die Studie zeigt, dass die Neandertaler das Feuer perfekt beherrschten, denn ohne diese Fähigkeit hätten sie sich kaum so weit in eine Höhle hinein getraut, wo komplette Dunkelheit sie erwartete.
Viele Fragen bleiben vorerst offen, darunter auch die nach der Funktion der Stalagmiten-Kreise. Die Feuerstellen fanden sich vor allem oben auf den Steinhaufen. Ob die Wälle für Kulte oder Riten genutzt wurden, ist reine Spekulation). Sie könnten auch eine technische Funktion gehabt haben, z.B. als Wasserspeicher.
Aber warum die Ur-Europäer in einer klimatisch warm und feuchten Epoche einen Wasserspeicher so tief in einer Höhle hätten bauen sollen, bleibt ebenfalls mysteriös. Nach dieser Entdeckung ist anzunehmen, dass Homo neanderthalensis auch außerhalb von Höhlen eigene Konstruktionen aus vergänglichen Materialien wie Holz, Knochen und Tierhäuten errichtete, die der Zahn der Zeit längst komplett vertilgte.