Learning by dying
Nicht nur Corona hat tödliche Auswirkungen für Behinderte, sondern sie können auch Folge von Sozialkürzungen sein: Heute ist großer Europäischer Protesttag online ab 14 Uhr mit Raul Krauthausen und Samuel Koch
Samuel Koch war bundesweit in den Schlagzeilen, nachdem er 2010 einen schweren Unfall in "Wetten, daß … ?" erlitt. Thomas Gottschalk gab daraufhin die Sendung auf. Dank seines guten Umfeldes konnte sich Samuel Koch von seinem Schicksalsschlag erholen und wurde Schauspieler, unter anderem ist er festes Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim. Der ehemalige Soldat der Deutsch-Französischen Brigade der Bundeswehr wurde auch von Til Schweiger engagiert für seinen Erfolgsfilm "Honig im Kopf" und spielte unter anderem im ARD-"Großtstadtrevier" auf St. Pauli und der ARD-Telenovela "Sturm der Liebe" mit, bei der er selber seine große Liebe fand und später heiratete. Von einem Tag auf den anderen war er seit 2010 querschnittsgelähmt - es kann jeden treffen.
Von heute auf morgen - Schwerstbehinderung kann jeden treffen
Koch meinte einmal, er hätte Glück mit seinem Umfeld gehabt nach dem Unfall. In dieser Woche kritisiert er gegenüber Telepolis nun aber auch die systematische Ausgrenzung von Behinderten durch die Gesellschaft: "Viele Menschen mit Behinderungen (MmB) haben Hoffnung in die UN-Behindertenrechtskonvention gelegt. Heute, über zehn Jahre nach Inkrafttreten in Deutschland, fällt mir auf, dass das Hauptziel Inklusion nicht erreicht wurde. Anfänglich gab es eine Aufbruchsstimmung - inzwischen haben sich die Strukturen der "Wohlfahrtsindustrie" noch mehr gestärkt. Noch nie haben so viele MmB in Sondereinrichtungen gelernt, gearbeitet und gewohnt. Heute ist der Anteil tatsächlich behinderter Kinder in Sonderschulen wesentlich höher als vor 10 Jahren, ebenfalls gibt es mehr MmB in Werkstätten, den sogenannten WfbH."
Ob es gar keine Fortschritte gab in den letzten zehn Jahren? "Nur beim Wohnen, Pflege und gesundheitlicher Versorgung." Obwohl in der Corona-Krise Milliarden-Pakete geschnürt wurden, reiche das nicht im Ansatz: "Das ist ja das Groteske: Es gibt ganz viel Geld, das für MmB ausgegeben wird und die Summe steigt jedes Jahr. Aber das allermeiste Geld geht eben in diese Sonderstrukturen. Vielmals werden die hohen Kosten der Inklusion kritisiert. Keiner fragt, wie teuer eigentlich Exklusion ist."
"Geld wäre ausreichend da", sagt Aktivist Raul Krauthausen
Darum soll es beim heutigen europaweiten Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung gehen: "Behinderte und Krüppel veranstalten Deutschlands breiteste Behindertenrechts-Demo als Online-Livestream" unter dem Motto "Behinderung macht #UNsichtbar!" Heute ab 14.00 Uhr auf maiprotest.de, unter anderem mit Laura Gehlhaar, Constantin Grosch und Ninia LaGrande. Der Inklusions-Aktivist, Sport1/Sat1-Moderator und Schauspieler Raul Krauthausen, der für SternTV (RTL) mit Günther Wallraff undercover in Pflegeinrichtungen unterwegs war mit skandalösen Ergebnissen und extrem aktiv gegen Multi-Diskriminierung jeder Art kämpft, begründet die Notwendigkeit dieser Aktionen noch einmal für Telepolis:
"Wir befürchten, dass Menschen mit Behinderung auf der Strecke bleiben. Die Probleme sind vielschichtig. Angefangen von der unklaren Beschulung nach den Lockerungen, über die Sorge um die Triage-Regelungen, die diskutiert werden, die hohe Ansteckungsrate in Behindertenheimen oder die einfache Versorgung von Behinderten Menschen die auf Assistenz angewiesen sind. Wie soll verfahren werden, wenn die Assistenzen oder die Betroffenen erkranken? Notfallpläne gibt es selten. Wir haben vor allem den Eindruck, dass behinderte Menschen nicht gesehen werden. Geld wäre sicherlich ausreichend da."
"Die Dunkelziffer der Corona-Toten ist höher, fürchte ich"
Corona habe das nicht nur nicht geändert, sondern Negatives im Alltag für Behinderte noch verstärkt: "Ich fordere, dass wir die Lockerungsdebatten nicht auf dem Rücken der Schwachen, Vulnerablen austragen. Es darf nicht sein, dass nur 'die Fitten' raus dürfen und 'die Schwachen' zuhause eingesperrt werden. Das Motto sollte sein: Gemeinsam rein, gemeinsam raus."
Mit dem Protest gehe es "um das Sichtbarmachen". Dass in Italien und anderen Ländern die Corona-Pandemie die schon zuvor Allerschwächsten und -ärmsten getötet hat, ist für Krauthausen, der 2017 den Bundespräsidenten mitwählte, noch untertrieben dargestellt: "Das ist furchtbar. Ich fürchte, dass die Dunkelziffer hier auch höher ist als im Bevölkerungs- und Jahresdurchschnitt."
Für Samuel ist es auch Ausdruck der gesellschaftlich hergestellten, tragischen Lebenssituationen: "Das ist tragisch. Ganz furchtbar finde ich, dass viele alleine sterben mussten und niemand sie besuchen durfte oder konnte. Dies erleben wir ja in Deutschland auch in einigen Einrichtungen. Ich bin eigentlich überzeugt davon oder glaube, dass es noch mehr gibt. Dietrich Bonhoeffer hat das mal, meiner Meinung nach, ganz schön formuliert. Alles, was uns hier auf der Welt begegnet an Leid, Schmerz, Kummer und Trauer ist nur das Vorletzte und das Letzte erwartet uns noch."
Samuel Koch klagt den Unterschied zwischen Recht auf dem Papier und der Rechtspraxis an
Obgleich es viele Konventionen und festgeschriebene Rechte gäbe, sei das im Alltag oft nicht zu merken: "Ich wünsche mir, dass MmB nicht immer um ihre Rechte kämpfen müssen, denn leider ist Recht haben und Recht bekommen nicht immer dasselbe."
Das sei schon vor Corona so gewesen - aber jetzt werde es unerträglich: "Für Menschen mit Behinderungen, die besonders gefährdet sind (wie Menschen, die Mukoviszidose haben), wird die Isolation noch stärker. Die Angst um den Arbeitsplatz ist auch größer. Weil MmB es wesentlich schwerer haben, wieder nach einer Kündigung einen Arbeitsplatz zu erhalten. Über die Öffnung von Sonderschulen wird als letztes geredet - von Unterricht über Internet etc. in solchen Einrichtungen habe ich auch noch nicht viel gehört. Auch machen mir Diskussionen über den Lebenswert, die wir ja schon verstärkt bei der Pränataldiagnostik kennen, im Zusammenhang mit Gesundheitsressourcen Sorgen. Gerade jetzt ist Inklusion, also die Schaffung von gemeinsamen Lebenswelten, wichtig."
Das einzig Gute daran sei nun: "Vielleicht fällt Menschen ohne Behinderungen jetzt mehr auf, was es bedeutet, isoliert von der Umwelt zu sein und wenig Kontakt zu anderen Menschen zu haben."
"Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben!" (Samuel Koch)
Im Moment drehen sich die Sars-Cov-2-Diskussionen immer mehr um die "Zweite Welle" und auch um Behandlungsprioritäten. Wer darf noch behandelt werden? Wer ist wichtiger? Ob das zynisch sei, frage ich Samuel:
"Ja, natürlich. Jeder Mensch hat Würde und Lebensrecht. Deswegen sollte weder Behinderung noch Alter ein Grund sein, jemanden von einer Behandlung auszuschließen. Wenn jetzt Richtlinien diskutiert werden, wer behandelt werden soll und wer nicht, sollten auch MmB mitdiskutieren. Zielführend ist es, miteinander statt übereinander zu entscheiden. Das habe ich zum Beispiel auch gespürt, als sich Menschen mit Down-Syndrom das Recht genommen haben, auch über vorgeburtliche Diagnostik mitzureden."
Aktionen wie die heutige und die jährliche Pride Parade durch Berlin-Neukölln könnten gerade angesichts von Covid-19 Start für eine gesamtgesellschaftliche Kampagne für die Freiheits-, Lebens- und Teilhabe-Rechte aller sein. Millionen Menschen in Deutschland leben mit Behinderungen verschiedenster Grade und Auswirkungen und mit Behinderungen durch Umfeld und Gesellschaft. Freiheitlich und demokratisch - danach war das Grundgesetz nach Auschwitz und T4 ausgerichtet. Die jetzige und zukünftige Situation von Kranken und Behinderten dürfte Gradmesser dafür sein, wie liberal unsere Gesellschaft wirklich ist, "weil der Mensch ein Mensch ist" (Rio Reiser).