Leben im Kriegsgebiet im Südosten der Türkei

Der ezidische Abgeordnete Ali Atalan berichtete per Facebook live aus der belagerten kurdischen Stadt Nusaybin - und bekräftigte den Willen der HDP zum Dialog

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70 Tage ist die Grenzstadt Nusaybin in der kurdischen Provinz Mardin im Südosten der Türkei unter Belagerung durch türkisches Militär. Das bedeutet Zerstörung und Not, Massenflucht und unzählige Tote und Verletzte. Der ehemalige LINKEN-Politiker und ezidischer Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) im türkischen Parlament, Ali Atalan, berichtete am vergangenen Sonntag auf seiner Facebook-Seite in einem Live-Video über das Leben im Kriegsgebiet.

Krieg im digitalen Zeitalter ist kurios: Das direkte Gespräch in der unmittelbaren Nachbarschaft ist aufgrund der Ausgangssperre nicht möglich - dafür aber der Chat oder eine Videobotschaft per Internet. Und zwar in die ganze Welt.

Die Toten werden nicht gezählt

"Irgendwann geht alles zur Neige", schilderte Atalan. "Alles was eingekauft wurde, ist irgendwann verbraucht." Zwar gebe es die Möglichkeit, im Einkaufszentrum Nachschub zu bestellen, dafür müsse dann im Büro der türkischen Spezialeinheiten angerufen werden. Zwei bis drei Wochen lang habe es allerdings nicht einmal Trinkwasser gegeben.

Von den 115.000 Menschen, die ehedem in Nusaybin lebten, hätten viele in großer Eile ihre Wohnungen verlassen müssen. "Sie mussten sozusagen ins Ungewisse auswandern." 60% der Stadt sei unterdessen dem Erdboden gleich gemacht, dabei seien schätzungsweise 3.000 Wohnungen zerstört worden.

"Das Innenministerium sagt, 400 Kurden und 60 Soldaten sind bislang umgekommen", so Atalan. Gezählt hat die Toten aber niemand. Ob es den Angehörigen möglich ist, Verletzte und Tote zu bergen, diese zu behandeln und bei den Todesfällen zu bestatten, diese schriftlich gestellte Frage konnte Atalan im Chat nicht beantworten.

Explosion in Nusaybin am 21. Mai. Bild: Ali Atalan

Deutsche Waffen in Kurdistan?!

Es würden modernste Waffen eingesetzt, so Atalan. Unbestätigten Angaben zufolge auch Kampfjets. Dass die Stadt bombardiert werde, darüber berichtete Atalan schon vor geraumer Zeit (Türkei: Eskalation im Krieg zwischen Regierung und PKK). Das bestätigte auch der Bericht von Kamal Sido, Nahostexperte der Organisation "Gesellschaft für bedrohte Völker" (GfbV), der die Region bereiste ("Neben Al-Assad ist Erdogan der Hauptverursacher des schmutzigen Krieges in Syrien").

Es besteht der Verdacht, dass auch aus der BRD importierte Rüstungsgüter in diesem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung zum Einsatz kommen. Das ist derzeit aber eine Vermutung, die durch nichts zu belegen ist.

Sowohl die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE als auch der Grünen haben sie der Klärung dieser Frage angenommen. "Wir haben gehört, dass deutsche Waffen eingesetzt werden", bestätigte Tanja Momberg, Mitarbeitern der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Sprecherin für Sicherheitspolitik und Abrüstung der Grünen-Fraktion, gegenüber Telepolis. "Aber die Situation ist die, dass die Türkei NATO-Mitglied ist, und demzufolge auch mit Waffen beliefert wird." Laut Momberg arbeitet die Abgeordnete Brugger derzeit an einer Schriftlichen Anfrage an die Bundesregierung zu diesem Thema.

Einzige Möglichkeit, das wirklich verlässlich feststellen zu können, wären Fotos der eingesetzten Waffen. Diese Fotos wird es aber vermutlich nicht geben. Die türkische Presse ist quasi gleichgeschaltet, laut Atalan sind etwa 80-90% der türkischen Medien unter Kontrolle der AKP. Regierungskritische Medienleute sind entweder bereits inhaftiert, oder ihnen droht die Haft. Die Region für unabhängige Berichterstattung zu bereisen, ist nahezu unmöglich. Selbst internationale Journalisten werden an der Einreise gehindert, wie jüngst der ARD-Korrespondent Volker Schwenck (Türkei: Regierung offenbar nicht kritikfähig).