Leben und Künstliches Leben

Überraschung, Sex und Tod

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Der Mathematiker und Science-Fiction-Autor Rudy Rucker, der mittlerweile auch in der Artificial-Life-Forschung tätig ist und ein Programm mit dem Namen "Boppers" geschaffen hat, umreißt in seinen Ausführungen die Grundlagen und Perspektiven der Schaffung Künstlichen Lebens. Meist versteht man unter Künstlichem Leben lediglich Computerprogramme, die Leben simulieren, wie es sein könnte. Für Rucker geht es dabei um alle Systeme, die von Menschen so gebaut werden, daß sie sich so verhalten, als wären sie lebendig. Das Spektrum reicht mithin von biochemischen Forschungen über Roboter oder simulierte Lebewesen bis hin zu den Memen, den Viren des Geistes. Natürlich kommt man um Frankenstein und auch um Spekulationen nicht herum, wie künftige künstliche Lebewesen aussehen und handeln könnten. Jedenfalls, so macht uns Rucker klar, ist Leben durch Reproduktion, überraschendes Verhalten und Tod definiert. Wer individuelle Unsterblichkeit erlangen will, der ist mit dem Künstlichen Leben, das auf evolutionäre Mechanismen setzt, auf dem falschen Dampfer.

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Wer Interesse hat, sein AL-Programm Boppers laufen zu lassen, der kann es sich hier herunterladen.

Künstliches Leben nennt man die Forschungsrichtung, die untersucht, wie sich von Menschen geschaffene Systeme bilden lassen, die sich so verhalten, als wären sie lebendig. Zweck dieser Forschungsrichtung ist ein besseres Verständnis, wie das Leben funktioniert. Die Erforschung des Lebens ist wichtig, weil die interessantesten Dinge, die es auf der Welt gibt, lebendige Wesen sind. Sie wachsen zu wunderschönen Formen heran und entfalten ein anmutiges Verhalten. Sie fressen, paaren sich, kämpfen und entwickeln sich über die Generationen.

Aus einer planetarischen Sicht lassen sich Gesellschaften und ganze ökologische Systeme als lebendige Organismen verstehen. In einem noch abstrakteren Sinn können auch unsere Gedanken als gutartige parasitäre Informationsviren gesehen werden, die von Geist zu Geist zu springen. Leben gibt es überall um uns herum, und es würde von großem Wert sein, es besser zu verstehen.

Forscher im neuen Bereich des Künstlichen Lebens oder des A-Life beginnen, mit selbstgebrauten Simulationen des Lebens herumzubasteln. A-Life kann man wegen seiner wissenschaftlichen Aspekte, wegen seines ästhetischen Gefallens oder als Quelle der Einsicht in wirkliche lebendige Systeme untersuchen. In praktischer Hinsicht eröffnet Künstliches Leben neue Methoden der chemischen Synthese, sich selbst verbessernde Techniken zur Steuerung komplexer Systeme und Möglichkeiten, automatisch optimal zugeschnittene Computerprogramme zu schaffen. In der Zukunft wird Künstliches Leben eine wesentliche Rolle in der Robotik, in der Virtuellen Realität und bei der Gewinnung von Information aus unübersichtlichen riesigen Datenbanken spielen.

Man kann zur Schaffung Künstlichen Lebens durch den Bau von Robotern oder beim Zuschneiden biochemischer Reaktionen gelangen. Auf diese Optionen werden wir später eingehen. Der am wenigsten aufwendige Weg jedoch, mit A-Life zu experimentieren, ist die Verwendung von Computerprogrammen. Welche wesentlichen Merkmale sollen unsere A-Life-Programme besitzen? Wir wollen Programme, die visuell attraktiv sind, die sich bewegen, die mit ihrer Umwelt interagieren, die sich fortpflanzen und weiterentwickeln.

Drei Merkmale lebendiger Systeme werden unsere Untersuchung leiten: Gnarl, Sex und Tod.

Gnarl (Überraschung)

Die ursprüngliche Bedeutung von "Gnarl" war einfach "ein Knorren an einem Baum". Im kalifornischen Surferslang wurde "gnarly" zur Bescheibung schwieriger, sich schnell verändernder Surfbedingungen verwendet. Und schließlich entstand durch Erweiterung die Bedeutung, daß "gnarly" all das bezeichnet, was eine Menge an überraschenden inneren Details enthält.

Lebendige Systeme sind insofern "gnarly", als sie unvermeidlich Dinge tun, die viel komplexer sind, als man sich das vorgestellt hatte. Das Holz eines Eichenstammes ist natürlich im herkömmlichen Sinne des Wortes "gnarly" (knorrig), aber der Lebenszyklus beispielsweise einer Qualle ist dies im neuen Sinne. Die dreidimensionalen Flugbahnen, die ein Kolibri ausführt, sind ebenfalls "gnarly", und, wenn man die Wahrheit sagen darf, auch Ihre Ohren.

Eine einfache Daumenregel für die Schaffung von Künstlichem Leben auf dem Computer lautet, daß das Programm etwas herstellen sollte, das "gnarly" wirkt. Natürlich ist das nicht das Wort, das die meisten Wissenschaftler verwenden. Sie sprechen vom Leben als einem chaotischen oder komplexen Phänomen.

Chaos wurde als wissenschaftlicher Begriff in den 80er Jahren populär. Man kann es so definieren, daß es etwas Kompliziertes, aber nicht Zufälliges bedeutet. Surfen an der Küste des Ozeans ist chaotisch. Die Muster des Wassers sind offensichtlich sehr kompliziert, aber, und das ist entscheidend, sie sind nicht zufällig. Die Muster, in denen sich die Wellen bewegen, sind durch die Gesetze der Flüssigkeitsbewegung jeden Augenblick vorhersagbar. Wellen entstehen und verschwinden nicht plötzlich. Wasser bewegt sich nach gut verstandenen physikalischen Gesetzen. Der Grund, warum manche denken, daß Wellen zufällig seien, rührt daher, daß die Rechenleistung, die das Wasser ausführt, jene um viele Größenordnungen überragt, die unsere Computer simulieren können. Praktisch gesehen sind Wellen zwar unvorhersagbar, aber in Wirklichlichkeit sind sie chaotisch und nicht zufällig.

Es hat sich herausgestellt, daß man zur Generierung eines unvorhersagbaren Chaos kein derart kompliziertes System wie einen Ozean benötigt. Während der beiden letzten Jahrzehnte haben Wissenschaftler entdeckt, daß eine sehr einfache Regel manchmal zu einem Ergebnis führen kann, das zumindest oberflächlich so kompliziert wie ein physikalisches Chaos erscheint. Computersimulationen des Chaos kann man erhalten, wenn man einen Algorithmus viele Male (wie die bekannte Mandelbrot-Gleichung) laufen läßt oder indem man einen Schauplatz konstruiert, auf dem viele Arten eines einzigen Algorithmus (wie beim A-Life auf dem Computer) interagieren können.

Manche chaotische Systeme explodieren in ein voll entfaltetes, zufällig aussehendes Muster, während andere sich in verzerrten, "gnarly" aussehenden Muster niederschlagen, die man als chaotische Attraktoren kennt. Wenn sich ein Computerbildschirm mit einem Muster füllt, das wie ein zappelnder Flohzirkus aussieht, dann kann dies ein chaotisches System sein. Aber auch die chaotischen Bilder, die man auf T-Shirts oder Kalendern sieht, sind Bilder des Chaos. Wie alle anderen Systeme können auch chaotische Systeme zwischen einer geringen und einer großen Unordnung existieren. Die weniger ungeordneten Formen des Chaos werden oft chaotische Attraktoren genannt.

Man kann beobachten, daß Wellen, um auf das Beispiel des Surfens zurückkommen, dazu neigen, in der Nähe eines Felsens immer wieder ein bestimmtes Brandungsmuster anzunehmen. Ein solches wiederkehrendes Muster würde ein chaotischer Attraktor sein. Genauso werden chaotische Computersimulationen manchmal in charakteristischen Rhythmen und Strukturen erstarren, die als chaotische Attraktoren wirken. Aber wenn ein Sturm kommt, können die Wellen ganz außer Rand und Band geraten und ohne Muster sein. Das ist dann ein vollständiges Chaos. Wenn die Unordnung zunimmt, kann ein chaotisches System von einem nahezu periodischen Zustand über den fraktalen Bereich von seltsamen Attraktoren bis hin zu einer unfaßbaren Unordnung reichen.

Seit kurzem gebrauchen Wissenschaftler den neuen Begriff der Komplexität für eine bestimmte Art des Chaos. Ein System ist komplex, wenn es sich um ein chaotisches System handelt, das sich in keiner allzu großen Unordnung befindet. Die Begriffe Chaos und Komplexität entstanden aus der Betrachtung einer großen Breite von Systemen, die mathematisch, physikalisch, chemisch, biologisch, soziologisch und ökonomisch sein können. In jedem Bereich kann ein sich entfaltendes System in einem Spektrum der Unordnung klassifiziert werden. Am geordneten Ende liegen Konstanz und ein vollständiges Fehlen von Überraschung vor. Einen Schritt davon entfernt ist das periodische Verhalten, bei dem sich dieselbe Sequenz immer wieder wiederholt - wie in einer Kristallstruktur. Am ungeordneten Ende des Spektrums handelt es sich um vollständige Unordnung. Eine Stufe unterhalb der vollständigen Unordnung befindet sich die Zone des "Gnarl".

Unordnung/ Keine Gering Gnarly Hoch

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Mathematik/ Konstant Periodisch Chaotisch Zufällig

Materie/ Vakuum Kristall Flüssigkeit Gas

Muster/ Leer Schachbrett Fraktal Staub

Strömung/ Unbewegt Ruhig Turbulent Schäumend

Als Beispiel für Unordnung in der Mathematik kann man sich verschiedene Arten mathematischer Funktionen anschauen, bei denen eine Funktion eine Regel oder eine Handlungsanweisung ist, Zahlen als Input zu nehmen und andere Zahlen als Output zu erzeugen. Wenn f eine Funktion für jede Eingangszahl ist, dann ergibt f eine bestimmte Zahl f(x) für die Ausgabe. Eine Funktion f wird oft als Kurve der Gleichung y = f(x) dargestellt.

Die geordneste Art einer mathematischen Funktion ist eine konstante Funktion, z.B. eine Funktion f, bei der f(x) stets 2 ergibt. Die Kurve einer solchen Funktion ist nur eine waagrechte Linie. Auf der nächsten Stufe der Unordnung könnten wir eine Funktion f betrachten, bei der f(x) periodisch mit dem Wert von x variiert. Ein Beispiel dafür ist die Sinusfunktion sin(x). Der mathematische Bereich, bei der "Gnarl" auftritt, ist Chaos. Chaotische Funktionen haben finite komplizierte Definitionen, aber unvorhersagbare Muster. Eine chaotische Funktion kann nahezu periodisch sein und bis zu einer verschmierten Unordnung reichen.

Eine wirklich mathematische Zufallsfunktion ist eine verschmierte Unordnung, der jeder Sinn und jede Vernunft fehlt. Eine typische Zufallsfunktion weist eine Kurve auf, die in eine Punktwolke zerbricht. Formal gesehen ist dann etwas wirklich zufällig, wenn es keine finite Definition zuläßt. In der Wissenschaftsphilosophie ist es eine alte Frage, ob etwas im Universum wirklich zufällig in diesem Sinn einer unendlichen Kompliziertheit ist. Es könnte sein, daß das ganze Universum einfach ein chaotisches System ist, dessen zugrundeliegende finite Erklärung nur jenseits unseres Verständnisses liegt.

Bevor wir auf die Grade der Unordnung von Materie, Mustern und Strömungen kommen, lassen Sie uns kurz innehalten, um in das Unordnungsspektrum des mathematischen Feldes innerhalb des Chaosbereiches hinein zoomen, der "gnarly" ist.

Unordnung/ Gering Höher Kritisch Hoch

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Chaos/ quasiperiodisch Attraktor Komplex Pseudozufällig

Das Chaos mit der höchsten Ordnung ist "quasiperiodisch" oder fast periodisch. Etwas derartiges könnte eine periodische Funktion mit einer leichten unvorhersagbaren Drift sein. Danach kommt die Zone des "Attraktors", in der chaotische Systeme leicht erkennbare Strukturen erzeugen. Darauf folgt ein "kritischer" Bereich des Übergangs. Hier sind Komplexität und "Gnarl" zuhause. Am Ende des Spektrums befinden sich "pseudozufällige" chaotische Systeme, deren Verhalten empirisch von wirklicher Zufälligkeit ununterscheidbar ist, wenn man nicht den Algorithmus kennt, der das Chaos erzeugt.

In der klassischen Physik vor der Quantenmechanik ist ein Vakuum die einfachste und am meisten geordnete Form der Materie: Es passiert überhaupt nichts. Ein Kristall besitzt eine Ordnung in einer vorhersagbaren, periodischen Form. In einer Flüssigkeit sind die Teilchen noch lose miteinander verbunden, doch in einem Gas brechen sie aus und prallen scheinbar zufällig aufeinander. Die Trajektorien der Gaspartikel können, worauf ich hinweisen sollte, in der klassischen Physik im Prinzip von ihren Ausgangspunkten vorhergesagt werden, ähnlich wie die Pfade der gegeneinander stoßenden Kugeln auf einem idealisierten Billiardtisch. Deswegen ist ein klassisches Gas in Wahrheit ein pseudozufälliges chaotisches System und kein wirkliches Zufallssystem. Auch hier bedeutet chaotisch "sehr kompliziert, aber mit einem zugrundeliegenden finiten Algorithmus."

Den komplexen, überraschenden Bereich der Materie würde man auf jeden Fall eher mit dem flüssigen Zustand identifizieren als mit dem pseudozufälligen oder wirklich zufälligen gasförmigen Zustand. Der kritische Punkt, an dem eine erhitzte Flüssigkeit sich in Dampf verwandelt, würde dabei von besonderem Interesse sein, weil hier Überraschung (gnarl) auftritt.

Leere ist das Muster mit der höchsten Ordnung, danach käme ein schachbrettartiges Muster. Fraktale sind als Muster bekannt, die regelmäßig, aber auch unregelmäßig sind. Die am einfachsten definierten Fraktale sind wie das bekannte Mandelbrot-Männchen komplexe und chaotische Muster, die man über die Durchführung von vielen Iterationen einer einfachen Formel erhält. Das Muster mit der höchsten Unordnung ist ein zufälliger Pixelstaub, wie er manchmal bei zufälligen Wackeleffekten verwendet wird, um Farbschatten und grau abgestufte Texturen zu erzeugen. Fraktale sind in einer klaren Weise Beispiele für "Gnarl"

Wasserströmung ist eine reichhaltige Quelle an Beispielen für verschiedene Formen der Unordnung. Stillstehendes Wasser befindet sich natürlich im Zustand der größten Ordnung. Wenn man Wasser ziemlich langsam einen Kanal durchlaufen läßt, bewegt sich das Wasser ruhig und kräuselt sich vielleicht in einem regelmäßigen Muster. Wenn eine enorme Menge Wasser durch einen steilen Kanal geleitet wird, dann bilden sich immer kleinere Wirbelkaskaden aus den größeren, was schließlich zu einem Zufallszustand führt, in dem das Wasser schäumt. Hier ist der überraschende Bereich an der Stelle, an der die Strömung begonnen hat, sich in Wirbel mit kleineren Wirbeln aufzulösen, ohne schon in das zufällige Schäumen übergegangen zu sein.

In jedem Fall kann der überraschende ("gnarly") Bereich irgendwo am Übergang zwischen Ordnung und Unordnung gefunden werden. Wenn man sich einfach in der Welt umsieht, dann erscheint es vernünftig, daß dies der für Lebewesen zu erwartende Ordnungsgrad ist. Lebewesen haben Ordnung, aber nicht zu viel; sie sind chaotisch, jedoch auch nicht zu viel. Leben ist überraschend ("gnarly"), und A-Life sollte dies auch sein.

Sex

Wenn ich behaupte, daß Gnarl, Sex und Tod zum Leben gehören, dann verwende ich das auffällige Wort "Sex" für vier verschiedene Dinge:

  1. für den Besitz eines Körpers, der aus Genen entstanden ist,
  2. für Reproduktion,
  3. für Paarung,
  4. für zufällige genetische Veränderungen.

GENOM UND PHÄNOTYPEN

Alle bekannten Lebensformen haben eine genetische Grundlage, d.h. alle Lebewesen lassen sich aus Eiern oder Samen züchten. In Lebewesen sind Gene Ketten von DNA-Molekülen, die irgendeine Art Programm zum Bau des gesamten Körpers eines Organismus enthalten. Darüber hinaus enthalten Gene auch Anweisungen, die einen Großteil des Verhaltensrepertoires eines Organismus determinieren.

Eine vollständige Genreihe wird Genom genannt, und der Körper eines Organismus sowie dessen Verhalten bezeichnet man als den Phänotyp eines Organismus. Wie ein Körper aussieht und wie er handelt, ist ein Ausdruck des Phänotyps. Es ist der Teil der Lebewesen, der sich zeigt (Das Wort "Phänotyp" ist abgleitet vom griechischen Wort "erscheinen"; man denke auch an das Wort "Phänomen"). Moderne Erkenntnisse über die genetische Grundlage des Lebens haben gezeigt, daß jedes Lebewesen mit einem Genom beginnt. Das Genom stellte eine Reihe von Anweisungen zur Erzeugung des Phänotyps eines Lebewesens.

Man kann sich vorstellen, daß es irgendwo im Universum Dinge mit Phänotypen geben könnte, die wir lebendig nennen, die aber nicht aus einem Genom entstanden sind. Solche fremdartigen Wesen ohne Gene könnten wie Wolken oder wie Tornados aussehen. Doch alles, was wir normalerweise als lebendig betrachten, basiert auf einem Genom. Daher ist es auch vernünftig, unsere Untersuchungen über A-Life auf der Grundlage von Systemen anzusetzen, die ein genetisches Fundament besitzen.

Wenn wir davon ausgehen, daß wird computerbasiertes A-Life betrachten wollen, dann ist es angmessen, mit Formen des A-Life zu arbeiten, deren Phänotypen aus einem Genom entstehen. Bei einem Computer kann man das Genom als ein Programm und den Phänotyp als dessen Output betrachten. Ein A-Life-Wesen auf einem Computer besitzt ein Genom, das eine Kette von Bits ist (ein Bit ist das kleinste Bestandteil einer binären Information, eine Null oder eine Eins). Zu dessen Phänotyp gehört auch sein graphisches Aussehen auf dem Computerbildschirm. Man beachte, daß der Phänotyp ebenfalls das Verhalten des Geschöpfes einschließt, weswegen die Weise, wie sich sein Aussehen verändert und wie es auf andere Geschöpfe reagiert, zum Phänotyp gehört.

REPRODUKTION

Der große Vorteil bei der Entstehung des Phänotyps aus einem kleinem Genom liegt in der einfachen Möglichkeit, Kopien des Phänotyps erzeugen zu können. Man muß nicht den großen und komplizierten Phänotyp als Ganzes kopieren, sondern nur das relativ kleine Genom, und dann das kopierte Genom seinen eigenen Phänotyp erzeugen lassen. Der neue entstandene Phänotyp sollte folglich genauso aussehen wie das Original. Auch wenn diese Art der Reproduktion eine einsame Aktivität ist, handelt es sich doch noch um eine Form der Sexualität und wird von niederen Lebewesen wie den Amöben praktiziert.

Die Fähigkeit, das Genom zu kopieren, ist direkt in die DNA aus dem bekannten Grund eingebaut, daß die DNA die Form einer Doppelhelix aus zwei komplementären Proteinketten besitzt. Jede Kette enthält die gesamte Information des Genoms. Um sich selbst zu reproduzieren, löst sich die Doppelhelix der DNA zuerst voneinander, so daß zwei getrennte Ketten jeder DNA-Hälfte erzeugt werden können. Beide sind lange verbundene Ketten aus Molekülen, die man Basen nennt. Diese Basen gibt es in der Flüssigkeit jeder lebenden Zelle reichlich. Jede DNA-Hälfte versammelt nun um sich herum ausreichend viele Basen, um eine Kopie ihrer komplementären DNA-Hälfte zu erzeugen. Die neue DNA-Hälfte wird in der richtigen Position zusammengebaut und schlängelt sich um die alte Kette, so daß sich schließlich das ursprüngliche Genom verdoppelt hat. Es hat sich reproduziert, eine Kopie seiner selbst geschaffen.

In den meisten A-Life-Welten geschieht Reproduktion auf eine sehr einfache mechanische Weise. Die Bitkette oder die Bitfolge, die das Programm des Lebewesens codiert, wird durch das "Weltprogramm" in einen neuen Speicherplatz kopiert. Dann laufen beide Programme der Lebewesen gleichzeitig, so daß zwei Phänotypen in Erscheinung treten können.

PAARUNG

Die meisten Lebewesen reproduzieren sich in Paaren, wobei das entstehende Genom eine Kombination der elterlichen Genome enthält. Normalerweise vereinigen sich Genome mittels eines Prozesses, den man Crossover nennt, und fügen sich die Basen der elterlichen DNA nicht zufällig zusammen. Beim Crossover wird ein Punkt ausgewählt und werden die zwei Genome an diesem Punkt des Crossover auseinandergebrochen. Die auseinandergebrochenen Genome lassen sich nun miteinander verbinden und auf zwei möglichen Weisen paaren. Im wirklichen Leben wird nur eine der Paarungsmöglichkeiten als Genomursprung des neuen Organismus gewählt. Im computerbasierten A-Life erlauben wir oft, daß beide neu gepaarten Genome überleben können. Die gebräuchlichste Form der A-Life-Reproduktion besteht in der Ersetzung der zwei ursprünglichen Genomprogramme der Eltern durch die zwei neuen Programme, die durch das Crossover entstanden sind. Deswegen pflanzen sich zwei A-Life-Eltern oft gleichzeitig fort.

In einer Welt, in der verschiedene Arten existieren, kann es manchmal geschehen, daß das Genom einer Art Information vom Genom einer anderen Art einbaut! Obwohl das nur selten vorkommt, scheint es in der wirklichen Welt doch zu geschehen. Man hat behauptet, daß Teile unserer DNA mit Bits der modernen Katzen-DNA identisch seien. Man knebele mich mit einem Haarballen! Das Boppers-Programm - Sie können es sich herunterladen - enthält eine Version dieser Fortpflanzungart mit dem Namen Exogamie.

MUTATION, TRANSPOSITION UND ZAPPING

Paarung ist eine große Quelle genetischer Diversität bei Lebewesen, aber auch Genome können ihre Information durch Zufallsverfahren wie Mutation, Transposition und Springen verändern. Während Paarung jeweils zwischen einem Genompaar geschieht, verändern Zufallsverfahren jeweils ein Genom zu einer bestimmten Zeit.

Bei bekannten Lebensformen der Wetware wie bei uns werden Mutationen durch Einflüsse wie Gifte oder kosmische Strahlen verursacht. Manche Mutationen sind tödlich, aber viele führen zu keinerlei sichtbarem Ergebnis. Hin und wieder wird eine Mutation oder eine Akkumulation von Mutationen den Phänotyp so beeinflussen, daß er ein radikal neues Aussehen oder Verhalten erwirbt. Vielleicht wird er genial, erhält er eine Hasenscharte, wird er schön oder zu einem Idioten. Im Kontext von A-Life, in dem wir uns das Genom normalerweise als eine Folge von Nullen und Einsen vorstellen, führt eine Mutation zum Aufsuchen einer Stelle und zur Umschaltung des Bits von Null zu Eins oder von Eins zu Null. Neben der Mutation gibt es noch weitere Formen der zufälligen Erzeugung eines Genoms, von denen einige in der wirklichen Welt erst noch entdeckt werden müssen und die bislang noch kaum verstanden sind.

Eine interessante Veränderung des Genoms ist als Transposition bekannt. Hier werden zwei Teile von Genomen ausgetauscht. Eine weitere von uns verwendete Möglichkeit der Zufallsveränderung des Genoms nennen wir Zapping. Dabei werden hin und wieder alle Genombits eines einzelnen Lebewesens einer zufälligen Verteilung unterworfen. In der wirklichen Welt ist Zapping keine gangbare Methode zur genetischen Variation, da dadurch fast mit Sicherheit ein Lebewesen erzeugt wird, das sofort stirbt. In dem nachsichtigeren Spielfeld von A-Life kann aber auch Zapping sinnvoll sein.

In der natürlichen Welt haben Arten normalerweise sehr große Populationen und ein großes Genom. Hier sind die Folgen des Paarens - der sexuellen Reproduktion - die hauptsächliche Quelle genetischer Diversität. Aber bei den kleinen Populationen und dem kleinen Genom der A-Life-Experimente ist es für alle Lebewesen gefährlich einfach, daß sie dasselbe Genom erhalten. Und wenn man zwei identische Genome durch Crossover kreuzt, sind die Nachkommen mit den Eltern identisch. Es entsteht keine Diversität! Aus der Perspektive der Praxis ist die zufällige Genomvariation für Simulationen des Künstlichen Lebens daher ziemlich wichtig.

Tod

Wie würde Leben aussehen, wenn es keinen Tod gäbe? Alles wäre sehr überfüllt oder würde ziemlich stagnieren. Wenn man sich eine kontrafaktische Situation wie die vorstellt, daß es keinen Tod gibt, dann ist es immer eine Herausforderung, ein konsistentes mentales Szenario zu entwickeln. Da ich ein Science-Fiction-Autor bin, werde ich mich gerne daran versuchen. Unterstellen wir, daß der Tod seit dem Zeitalter der Dinosaurier verschwunden ist. Wie würde dann die Erde heute aussehen?

Es würde noch immer eine Menge Dinosaurier geben. Das wäre sicher ganz nett. Aber wenn sie sich während der ganzen Zeit weiter reproduziert hätten, dann würden sich die Dinosaurier und ihre Zeitgenossen viele Hundert Meter hoch auf der ganzen Erdoberfläche stapeln. Auch jede verzerrte und deformierte Mutation der Dinosaurier würde es im Überfluß geben. Man könnte erwarten, daß sie alle Pflanzen aufgefressen hätten, aber natürlich gäbe es auch für Pflanzen keinen Tod, so daß ein riesiger Dschungel unter den Bergen aus Dinosauriern existieren würde. Alle Dinosaurier würden sich nach unten drehen und winden, um einen Bissen zu ergattern. Die Meere wären, Kiemen an Kiemen, von Leben erfüllt. Ich stelle mir dabei die mythischen Gemälde der Erde vor der Sinftlut von Hieronymus Bosch vor.

Wären in einer solchen Welt Säugetiere und Menschen entstanden? Wahrscheinlich nicht. Auch wenn viele der seltsamen Geschöpfe, die unsere Ahnen waren, in dem riesigen Durcheinander leben würden, so gäbe es keine Möglichkeit für sie, sich auszuwählen, zusammen zu kommen und ihr Genom zu stärken.

Eine andere Sicht auf eine vom Tod befreite Erde ist eine Welt, in der es auch keine Geburten mehr gibt. Was für eine Welt würde sich daraus ergeben? Eine ganz und gar langweilige. Es gäbe nichts anderes, als die immer gleichen alten Geschöpfe, die für immer durch dieselbe Umwelt stampfen. Das sieht so ähnlich wie der Arbeitsmarkt für einen jungen Menschen aus, der zu arbeiten beginnen will!

Sinnlose Fortpflanzung oder bloße Stagnation sind die beiden einzigen Alternativen zum Tod. Auch wenn der Tod individuell schrecklich ist, ist er für die Evolution von neuen Lebensformen wunderbar. Evolution wird möglich, wenn es (1) Reproduktion, (2) Variation des Genoms und (3) natürliche Selektion gibt. Wir haben bereits über die Reproduktion und die Weise gesprochen, wie Paarung und Mutation eine Variation des Genoms bewirken, so daß Kinder nicht unbedingt ihren Eltern gleichen müssen. Der Tod kommt mit der natürlichen Selektion herein: nicht jedes Lebewesen kann sich vor seinem Tod fortpflanzen. Die Lebewesen, die sich reproduzieren, besitzen ein Genom, das durch den natürlichen Wettbewerb, zu überleben und Kinder zu gebären, die überleben, ausgesiebt wurde.

Für A-Life bedeutet das, daß man gewöhnlich eine maximale Anzahl von Speicherplatz für das Genom der Lebewesen einrichtet. Man läßt die Phänotypen der Lebewesen für eine Zeitlang miteinander konkurrieren und setzt dann eine Fitness-Funktion ein, um zu entscheiden, welche Lebewesen die erfolgreichsten sind. Die erfolgreichsten Lebewesen werden an den bestehenden Speicherplätzen reproduziert, und das Genom der weniger erfolgreichen wird gelöscht.

Die Natur hat eine sehr einfache Methode, um die Fitness eines Lebewesens zu bestimmen: es gelingt ihm, sich vor dem Tod zu reproduzieren, oder es schafft dies nicht. Die Zuweisung eines Fitness-Grades an konkurrierende A-Life-Phänotypen ist ein künstlicherer Vorgang. Man kann auf der Grundlage dessen, welche Lebewesen man sich entwickeln lassen will, verschiedene Fitness-Funktionen wählen. In den meisten Boppers-Experimenten beruht die Fitness auf der Fähigkeit eines Lebewesens, positiv gewichtete Futterzellen zu finden und zu fressen, während es so wenig wie möglich negativ gewichtete Futterzellen frißt.

Bislang haben wir über Leben hinsichtlich der drei allgemeinen Begriffe Gnarl, Sex und Tod gesprochen. Im Folgenden schauen wir uns noch einige Ansätze des Künstlichen Lebens im Bereich der Biochemie, der Robotik und der Kultur an.