Lebenszeit zwischen Ankommen und Abreisen

Seite 3: Zusammenrücken und auseinander

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Leonardo Di Chiara ist mit seinem selbstgebauten Minihaus aus Italien angereist. An der Tiny-House-University gibt er Anleitungen zum Hausbau. Nicht nur muss die Konstruktion stimmen, sondern es soll vermieden werden, dass Gartenzwerg-Häuser herauskommen. Der junge Architekt weist auch auf die Gefahr zu starker Sonneneinstrahlung hin. Aber die Häuser können je nach Sonnenstand gedreht werden.

Di Chiaras eigenes Haus hat seitlich keine Fenster. Er denkt städtebaulich. Tiny Houses können aus allen Himmelsrichtungen zusammenströmen und Seite an Seite zusammenrücken. Für Höfe, kleine Plätze und Gassen können Zwischenräume gebildet werden. Das neue Städtchen pulsiert. Einer verlässt die Häuserreihe, ein anderer kommt. Di Chiara spricht von "Migratory Neighbouhoods" und hat ganz nebenbei kompakte europäische Kleinstädte, von denen es in seiner Heimat noch so viele gibt, aus mobilen Häusern nach mittelalterlichem Vorbild rekonstruiert.

Bauhaus-Archiv, Haus "35 Kubik Heimat" und "Lemon Loft". Bild: Ishka Michoka / Refunc/Silocity.space

Aus der Vergangenheit, die noch nicht das ständige Mehr aus der Verwertung des sachlichen Kapitals und des menschlichen Bewusstseins kannte, werden auf dem Bauhaus-Campus Elemente der Zukunft geschöpft. Die Tiny-House-University erschließt "Dritte Orte" erläutert Le-Mentzel. Der erste Ort ist der, wo man aufwacht. Der zweite Ort ist der, wo man tags hingeht. Der dritte Ort ist alles, was nicht erstens und zweitens ist. Er hebt die getrennten Funktionen von Wohnraum und Arbeitsraum auf. Das "gemeinsame Dritte" kann ein Café sein, eine Bibliothek, ein Museum, der Strand oder ein beliebiger städtischer Begegnungsraum für Coworking. Die Arbeit der Zukunft findet am Dritten Ort statt.

Der Dritte Ort bietet ebenso die Möglichkeit, uns aus der Dauererreichbarkeit auszuklinken und in analoge Begegnungen, aber auch unberührte Räume einzutauchen. Gemeinschaft ist ein Wechselspiel aus physischer Annäherung und Entfernung. Die neue migratorische Mobilität ist ein Drittes aus Ankommen und Verschwinden. Die traditionelle Lebensweise ist zur Last geworden: Je größer die Wohnung ist, desto länger müssen wir im Büro arbeiten, und wenn wir uns schließlich "nach Hause" zurückziehen, steht das Büro leer.

Aus dem Teufelskreis ist der Rentner Joachim Klöckner ausgebrochen. Er ist dem Bauhaus-Campus verbunden und sagt: "Wenig tote Dinge erlauben mir viel Zeit, Energie und Raum für Lebendiges". Er hat den Minimalismus, auch des Einkommens, für sich entdeckt und genutzt. Er lebt in asketischem Komfort. Small is beautiful. Man kann auch die Häuser besser machen, indem man sie kleiner macht. Die Verbesserung zeigt sich schon beim Energieaufwand.

Tiny Houses auf Rädern sind eine Mischung aus Vehikel und Haus. In der harmlosen Mischung steckt eine Anklage gegen den größten städtebaulichen Sündenfall des 20. Jahrhunderts: die autogerechte Stadt. Sie beruht auf der Arbeitsteilung zwischen Wohnen, Arbeit und Freizeit. Um die räumliche Trennung zu überwinden, bedurfte es des automobilen Verkehrs, der außer Kontrolle geriet.

Der Bauhaus-Campus muss sich einer Reihe von Einwänden stellen:

  1. Der Zwang zu kleineren Wohnungen ist aus der Wohnungsnot geboren. Die Wohnungsbauindustrie springt gern auf diesen Zug auf, indem sie mit den Quadratmeterzahlen zugleich den Wohnstandard absenkt. Sie verzichtet auf intelligente Lösungen, die gerade der Clou des Neuen Bauens (Bauhaus usw.) waren.

  2. Die Abreise pseudoreligiöser Gruppen aus der bestehenden Gesellschaft und die Gründung neuer kleiner Kolonien etwa in Amerika ("New Harmony", Ikarien) ist ein Merkmal des utopischen Sozialismus, der im Gefolge der Französischen Revolution entstand. Hängen die neuen Reisenden des Bauhaus-Campus mit ihren ökologischen Thematiken jenem alten Eskapismus nicht lediglich ein Nachhaltigkeitsmäntelchen um?

  3. Saugt die Kulturindustrie nicht spielend solche kleinen ideellen Bewegungen auf und nutzt sie als Antrieb für eigenes Marketing? Kommerzialisierungseffekte haben bereits eingesetzt. Die bekannteste österreichische Firma für "Wohnwagons" aus Holz nimmt für Modelle zwischen 15 und 33 m2 zwischen 50.000 und 123.000 Euro. Und unter dem Label Tiny House oder "Nano House" werden inzwischen edle und gar nicht so kleine Designer-Villen in den Schweizer Bergen platziert, womöglich mit Ausnahmeregelung.

Die Argumente treten mit dem Anspruch logischer Konsequenz auf und enthalten doch einen Fehler: Sie sind eine Vorverurteilung. Gegen alle Voraus-Urteile kann das Völkchen des Bauhaus-Campus erst durch Handeln herausfinden, wie groß der Spielraum wirklich ist. Den Spielraum des Widerstandes zu nutzen und zu weiten, empfahl auch Hannah Arendt, die jedwede Konsequenz-Logik ablehnte. In ein paar Jahren könnte man nachschauen und die Tiny-Bauhäusler fragen: Wo steht Ihr? Wohin geht die Reise?

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