Leere statt Lehre: Sachsen-Anhalt testet Vier-Tage-Schulwoche
Was am fünften Tag passiert, steht in den Sternen. Kritiker geißeln Modellprojekt als staatlich verordneten Unterrichtsausfall und Manöver zur Verschleierung des Lehrermangels
Weniger Unterricht von der Stange, mehr selbstbestimmtes Lernen, größere Praxisanteile – Sachsen-Anhalt geht bildungspolitisch neue Wege. Das jedenfalls ist die optimistische Lesart eines Modellversuchs, der nach den Sommerferien an ausgewählten Schulen des Landes startet. Aber längst nicht alle sehen rosarot: Kritiker wittern vielmehr ein billiges Manöver, um dem grassierenden Pädagogenmangel beizukommen.
Stand jetzt wird demnächst an zwölf Lehranstalten nur noch an vier Tagen regulär, also im Präsenzmodus, unterrichtet. Der fünfte Tag solle alternativen Lernformen vorbehalten sein, wie das Bildungsministerium Ende der Vorwoche mitteilte. Demnach könnten zum Beispiel "digitale oder hybride Formate" praktiziert werden, "auch Phasen des selbst organisierten Lernens oder Besuche in Firmen oder Unternehmen, um den Schülerinnen und Schülern vor Ort Praxiswissen zu vermitteln, sind möglich".
Konzept aus dem Zauberhut
Das Projekt läuft unter dem Namen "Unterrichtsorganisations-Modellprojekt 4+1". Grundlage ist nach Darstellung von Bildungsministerin Eva Feußner (CDU) ein mit der Regierungsmehrheit von CDU, SPD und FDP getroffener Beschluss des Magdeburger Landtags vom 24. Januar. Nach dem Wortlaut des damaligen Antrags sind den Schulen "zusätzliche Freiräume in der konzeptionellen Unterrichtsplanung und -durchführung zu geben". Allerdings und darauf weist die Fraktion Die Linke hin, "wurde zu keinem Zeitpunkt eine Vier-Tage-Woche erwähnt".
Konkret ging es damals um die Option, von der klassischen 45-Minuten-Unterrichtsstunde abzuweichen, indem man beispielsweise fünf Minuten abknapst. Die eingesparte Zeit soll dann Lehrerinnen und Lehrern Spielraum für wöchentlich drei weitere Schulstunden verschaffen, die sie etwa als Klassenleiter- oder Vertretungsstunden nutzen lassen könnten.
Nach Angaben der Koalition hat die Lessing-Gemeinschaftsschule in Salzwedel mit einem ähnlichen Modell, allerdings getaktet mit "80+10-Minuten", bereits seit Längerem gute Erfahrungen gemacht. Damit werde der Unterricht "pädagogisch und lernpsychologisch sinnvoll rhythmisiert" und der Einsatz der Lehrkräfte "effizient und passgenau festlegt".
"Jede zehnte Stunde fällt flach"
Das mag schon sein. Aber wo nimmt die Ministerin plötzlich dieses "4+1"-Konzept her? Selbst die mitregierende SPD hat von den Neuigkeiten erst aus der Presse erfahren. Der Vorschlag sei innerhalb der Koalition nicht abgestimmt, stellte Fraktionschefin Katja Pähle klar. Feußner versuche, die Verantwortung dem Parlament zuzuschieben, dabei habe sich die zu Jahresanfang abgestimmte Vorlage um "Unterrichtsorganisation in der Schule" gedreht, "nicht um Verlagerung aus der Schule".
Krachend durch fällt das Projekt bei Bildungsverbänden. "Es liegt auf der Hand, dass damit der eklatante Mangel an Lehrkräften kaschiert werde soll", äußerte sich die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Eva Gerth, gegenüber Telepolis und weiter: "Das ist amtlich sanktionierter Unterrichtsausfall."
Wie in der gesamten Republik fehlen auch in Sachsen-Anhalt massenhaft Pädagogen. Laut Gerth sei es so auch "kein Zufall", dass ausgerechnet Gemeinschafts- und Sekundarschulen für den Testlauf auserwählt wurden. Dort seien die Defizite am größten. "Derzeit fällt mehr als jede zehnte Stunde flach."
Planlos im Homeoffice
Über einen "Bankrotterklärung" empört sich der Verband Bildung und Erziehung (VBE). "Vier Tage Schule und dann?", fragte der Landesvorsitzende Torsten Wahl in einer Stellungnahme. Antwort Fehlanzeige. Denn was konkret am fünften Tag fernab des Klassenzimmers passieren soll, ist offenbar völlig offen. Auch Pähle von der SPD hat keine Kenntnisse, "wie die Grundlagen und Rahmenbedingungen aussehen sollen". Zudem habe sie Sorge, dass die Betreuung der Kinder in den unteren Klassen nicht gewährleistet sei.
Ziemlich absehbar dürfte das, was mit "Entlastung" und "mehr Freiraum" für Lehrerinnen und Lehrerinnen beworben wird, ins genaue Gegenteil umschlagen. Denn wer sonst soll die Leere am Tag fünf mit Inhalt füllen? "Engagierte Lehrkräfte und Schulleitungen werden verschlissen, weil von ihnen die entsprechenden konzeptionellen Überlegungen zusätzlich zu ihrer normalen Arbeit erwartet werden", monierte die GEW in einer Pressemitteilung.
Kinder und Jugendliche "ohne konkretes Bildungsangebot einfach zu Hause zu lassen", sei "keine Lösung", erklärte Linke-Vizefraktionschef Thomas Lippmann. Er verwies auf einen Antrag seiner Partei mit der Zielstellung, "einen guten, berufspraktischen Unterricht" zu organisieren. Dieser sei von der Koalition niedergestimmt worden, "denn das kostet Anstrengung und Geld".
Nachahmer gesucht
Ungereimtheiten gibt es allerhand mehr. Wie beispielsweise will man sicherstellen, dass alle Daheimgebliebenen beim Lernen aus der Distanz ans Internet angeschlossen sind, über die passenden Geräte verfügen oder adäquat beaufsichtigt werden? Sollen sich berufstätige Eltern am fünften Tag frei nehmen und wird dann überhaupt noch die Schulpflicht erfüllt? Augenscheinlich wolle das Ministerium "nicht mit solchen ‚Kleinigkeiten‘ der Umsetzung" behelligt werden, bemerkte Gerth.
Dabei sei die Diskussion um neue Modelle und "zusätzliche Freiräume in der konzeptionellen Unterrichtsplanung und -durchführung für die Schulen" sowie selbstorganisiertes Lernen "notwendig und wichtig", führte die GEW-Chefin aus. Dafür brauche es aber "Zeit zur Konzeptentwicklung, intensive Absprachen mit allen am Schulleben Beteiligten, Beschlüsse der Gesamtkonferenzen, Beratung, eventuell eine wissenschaftliche Begleitung und vor allem Ressourcen".
Fürs Bildungssystem gibt es davon bekanntlich und angeblich viel zu wenig, während die Bundesregierung mal eben 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr locker macht. Angesichts der chronischen Unterfinanzierung der Schulen gepaart mit einem historisch nie dagewesenen Lehrermangel ist der Vorstoß aus Sachsen-Anhalt – so konfus und unausgereift das Ganze wirkt – durchaus ernst zu nehmen. Und vielleicht finden sich in naher Zukunft schon die ersten Nachahmer.
Vom Test- zum Normalfall
Nur ein Beispiel: Auch die Umstellung auf die achtjährige Gymnasialzeit (G8) – in erster Linie eine Sparmaßnahme – vollzogen zwischen 2012 und 2015 nahezu alle Bundesländer. Erst mit den lauter werdenden Klagen seitens Wirtschaft und Hochschulen über nachlassende Fertigkeiten und mangelnde Reife von Schulabgängern setzte ein Umdenken ein und wurde die sogenannte Reform praktisch allerorten wieder revidiert.
Freilich versucht Sachsen-Anhalts Bildungsministerin Feußner den Eindruck zu zerstreuen, "4+1" könnte alsbald zum Normalfall werden. Es beziehe sich "nur auf das Schuljahr 2022/2023, wird vom Landesschulamt und vom Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung begleitet, evaluiert und anschließend im politischen Raum diskutiert", ließ sie verlauten. Und natürlich verstehe sich das Projekt "explizit nicht als Instrument gegen den Lehrkräftemangel".
Aber Zweifel bleiben. So heißt es in besagtem Antragstext vom Januar, in dem von "4 + 1" gar nicht die Rede ist: "Die gewonnenen Erfahrungen zu alternativen Unterrichtsorganisationsmodellen sollen (...) auf Übertragbarkeit in den schulischen Regelbetrieb hin überprüft werden."
Und in der Begründung zum Beschluss liest man: "Es ist angesichts des landesweiten Lehrkräftemangels unbedingt notwendig, den Schulleiterinnen und Schulleitern weitere Instrumente zur Flexibilisierung der Unterrichtsorganisation und zum effizienteren Personaleinsatz in die Hand zu geben."
Für Lippmann von der Linkspartei gibt es deshalb kein Vertun: "Man muss sich schon die Hosen mit der Kneifzange anziehen, wenn man die wirklichen Zusammenhänge nicht erkennt!" Nichts Gutes ahnt auch VBE-Chef Wahl: "Hier wird eindeutig Lebens- und Lernzeit auf Kosten der Schülerinnen und Schüler vergeudet."
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