Lehren aus der Pandemie über Schule und Familie

Deutschland im Winter-Lockdown. Eine Zwischenbilanz (Teil 3)

Als weites Feld epidemiologisch relevanter Kontakte ist dem Staat auch der nationale Schulbetrieb in den Blick geraten. Anders als in der Arbeitswelt eröffnet sich der Politik beim Blick auf die Kinder die Möglichkeit, auf Kontaktreduzierung zu bestehen, ohne dass es gleich um existenzielle Fragen geht.

Und so wurden, nach der schrittweisen Verschärfung von allerhand Hygieneauflagen, die Schulen schließlich weitgehend dichtgemacht und der Regelschulbetrieb unterbrochen.

Dessen Leistungen für die Bildung des Nachwuchses sind dem Staat gleichwohl alles andere als egal, und so wurde ein Kontakte vermeidender Ersatzbetrieb angeordnet: Fernunterricht mit Rückgriff auf die Errungenschaften der Digitalisierung, der der Bildungssektor schon so lange entgegenfiebert, und selbstständiges Lernen von zu Hause aus. Für die betroffenen Familien, auf die der Schulbetrieb damit abgewälzt wird, ist das in mehrfacher Hinsicht eine Zumutung eigener Art.

Vom Gebrauchswert und Tauschwert schulischer Bildung

Das großflächig angeordnete Homeschooling und der Erfolg des Lernens stoßen in den Familien recht schnell auf soziale Schranken, die dem schulischen Ideal der Chancengleichheit zuwiderlaufen: Die Verfügung über die nötige Technik zur Teilnahme am Fernunterricht ist schlicht eine Geldfrage, sodass es in den "sozial schwachen Schichten" schon mal zu Problemen kommt und manche Schüler, wie man hört, über Wochen "unter dem Radar" der Lehrer verschwinden; zudem ist das eigene Kinderzimmer mit Schreibtisch oder ein vergleichbarer "Lernraum" in den modernen Behausungen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung keine Selbstverständlichkeit.

Zur materiellen Armut kommt die geistige hinzu: Die meisten Eltern sind schlicht nicht dazu imstande, den Kindern einen über die Grundschule hinausweisenden Lernstoff zu vermitteln oder ihnen dabei zu helfen. Das gilt nicht nur für Familien "bildungsferner Schichten", sondern ist in der Wissensgesellschaft, in der das Wissen und seine Vermittlung staatlich organisierte Parallelwelten zum bürgerlichen Alltag darstellen, ziemlich normal.

Die Meldungen über Lerndefizite des Nachwuchses in sämtlichen Altersstufen und über einen messbaren Anstieg des funktionalen Analphabetismus infolge des ersten Lockdowns des Jahres 2020, als die Schulen schon einmal geschlossen waren, ließen nicht lange auf sich warten. Darüber hinaus haben die Experten auf breiter Front einen Verlust sozialer Kompetenzen, von Konzentrationsfähigkeit, Disziplin usw. zu beanstanden.

Was das Homeschooling durch alle guten und schlechten Elternhäuser hindurch offenbar nicht zu ersetzen imstande ist, sind die schulischen Beiträge zur Charakterbildung des Nachwuchses: Eine Disziplinierung, die sich über feste Unterrichtszeiten und einen Stundenplan mit einem unabhängig von Interesse und Neigung des Schülers definierten Stoffpensum einstellt, bleibt aus, wenn der Zwerg alleine hinter seinem Buch oder Tablet am Küchentisch sitzt.

Gleiches gilt für soziale Tugenden, die der von der Schule ständig praktizierte Vergleich der individuellen Lernleistungen herausfordert und herausbildet, mit dem der Lernende auf ein instrumentelles Verhältnis zu seinem Verstand und seinem Wissen geeicht wird.

Kurzum: Das schulische Lernen als Leistungskonkurrenz ist zu Hause einfach nicht gescheit zu imitieren, sodass das Heranwachsen des Schülers zum bürgerlichen Konkurrenzindividuum nicht nur dort leidet, wo die Wissensvermittlung an der familiären Armut scheitert.

Was unter "Corona" jedoch ganz sicher nicht leidet, ist die entscheidende Funktion des Unterrichts fürs spätere Leben: Denn Abschlusszeugnisse, das hat die Politik versprochen und dafür tun Bildungspolitiker alles, gibt es trotzdem; und wenn mit dem Zeugnis der Qualifikationsnachweis als Eintrittskarte in das nachschulische Studiums-, Ausbildungs- und Berufsleben einmal vorliegt, ist völlig egal, mit wie viel Herz und Verstand es zustande gekommen ist.

Für den ambitionierten Einstieg in die Konkurrenz um die besseren Jobs, die dann ohnehin ganz anders abläuft und in der Wissen mit Erfolg nicht zusammenfällt, taugen die Corona-Zeugnisse allemal; ebenso, wie sie am anderen Ende der Notenskala die Selektion nach unten komplettieren und massenhaft Nachwuchs in aller Form als Versager abstempeln. Eine entsprechend vorsortierte Generation liefert die Schule auch in Corona-Zeiten zuverlässig ab.

Die Betroffenen – die Elite-Abteilung des Nachwuchses vorneweg – sehen es gerne anders und fürchten, im Auslandssemester oder sonst wo auf der Leiter nach oben als Corona-Jahrgang stigmatisiert und um beruflichen Erfolg, der ihnen eigentlich zusteht, schon in so jungen Jahren betrogen zu werden.

Sie halten es ganz mit der Lebenslüge der Wissensgesellschaft und ihrer Erfolgsressource Bildung: Weil der qualifizierende Abschluss eine unabdingbare Voraussetzung für weite Teile der Job-Konkurrenz darstellt, wird die Bildung zum subjektiven Erfolgsmittel hochstilisiert – als wäre "Qualifikation" etwas für sich und als hätten die eifrig Gebildeten irgendetwas in der Frage zu melden, was sie am Ende "wert ist".

Wen sie einstellen und wie viel sie der Arbeitskraft bezahlen, entscheiden alleine die, die die Bewerber nach ihren Bedürfnissen und Maßstäben sortieren; und deren "Bewertungsmaßstab" für die Bezahlung liegt sicher nicht in stattgefundenen resp. ausgefallenen Schulstunden oder anderen kindischen Bildern zur Quantifizierung des erworbenen Wissens-"Schatzes".

In ihrer ganzen interessierten Albernheit auf den Punkt gebracht wird diese dreifache Verwechslung von erworbenem Wissen, ergatterten Zeugnissen und in Geld bemessenem Konkurrenzerfolg von der bildungsökonomischen Expertise des Ifo-Instituts, das in jeder Lebenslage berechnen kann, wie es um das Wachstum bestellt ist:

Die ökonomischen Folgen ihres Wissensverlustes werden gigantisch sein. Jedes zusätzliche Schuljahr erhöht laut Experten das Lebenseinkommen eines Schülers im Schnitt um rund zehn Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das: Geht ein Drittel des Schuljahres verloren, schrumpft das Einkommen um drei bis vier Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, liegt zudem höher. Der Lernausfall summiert sich im späteren Arbeitsleben nach Rechnung des Ifo-Instituts auf einen gesamtwirtschaftlichen Verlust von 5,4 Billionen Euro. Die geringere Bildung der künftigen Erwerbstätigen schmälert das Sozialprodukt über viele Jahre um rund 2,8 Prozent... Damit könnten Deutschland laut IfW-Chef Felbermayr zwei bis drei Prozent an Wirtschaftsleistung entgehen. Weniger Schule kostet viel Geld, und einen Großteil müssen die Schüler tragen - ohne es zu wissen. Das ist mitnichten eine theoretische Spielerei, denn "nichts ist so gut belegt wie der Zusammenhang von Bildung und Wachstum", sagt Ifo-Bildungsexperte Ludger Wössmann.

Handelsblatt, 19.6.20

Wenn man nur so tut, als würden Arbeitnehmer von ihren Arbeitgebern nicht für ihre Dienste am Unternehmensgewinn, sondern für das Quantum der Kenntnisse eingestellt und bezahlt, die sie früher einmal in der Schule gelernt haben, kann man umstandslos von ausgefallenen Schulstunden auf versäumtes Lebensentgelt und das anonyme Risiko "arbeitslos zu werden" hochrechnen.

Das verlorene hypothetische Lebenseinkommen der heutigen Corona-Jugend dient hier freilich als drastischer Ausdruck und Indikator eines Versäumnisses noch ganz anderer Art, nämlich des befürchteten Gewinnverlustes der Gesamtwirtschaft samt ihrem Sozialprodukt.

Sodann sind die Wirtschaftsexperten am Ziel ihrer Untersuchung und halten fest: Bildung macht Wachstum, also schadet der Lockdown der Bildungsstätten der deutschen Wirtschaft. Und wie schlimm das ist, wird eben am schönsten deutlich, wenn das alles als Schaden – verursacht nicht etwa durch die Stifter schlechter Einkommen, sondern durch pandemiebedingt ausgefallene Schulstunden – am materiellen Lebenserfolg der Corona-Generation gefasst wird.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.