"Leider war es heute nicht möglich, Ihnen Ihre Sendung zuzustellen"
- "Leider war es heute nicht möglich, Ihnen Ihre Sendung zuzustellen"
- Jugendschutz ohne Verfallsdatum
- 5 Euro für den Jugendschutz
- Opern-Durcheinander
- Mit der klebrigen Frau im Postamt
- Ghettobildung mit FSK-Aufdruck
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Ich ist ein anderer: Nachrichten aus dem Leben eines Filmliebhabers in drei Abteilungen - Folge 1
Tückisch ist der deutsche Jugendschutz. Manchmal ist er der Realsatire zum Verwechseln ähnlich. Dann trägt er die Züge einer sich selbst genügenden Regelwut, deren Protagonisten längst vergessen haben, worum es einmal gehen sollte. Da man es bei meinen jüngsten Erfahrungen auf diesem Gebiet mit einer eher drögen und keineswegs flamboyanten Variante des Absurden zu tun hat, mit Geistlosigkeit und nicht mit Phantasie, will ich es nicht mit der Schilderung meiner diesbezüglichen Erlebnisse bewenden lassen. Die Leser werden vielmehr eingeladen, mich auf einer Reise in die Wunderwelt des frühen Kinos zu begleiten. Das ist angewandter Jugendschutz, kein stupides Exekutieren von Verwaltungsakten.
"In a sense, I am Jacob Horner." So lautet der erste Satz von The End of the Road einem Roman von John Barth. Er ist nicht so berühmt wie der erste Satz von Herman Melvilles Moby-Dick, "Call me Ishmael", aber auch nicht schlecht. Melvilles Ich-Erzähler bietet uns, wenn denn ein Name erforderlich ist, den biblischen Ismael an, den von Abraham in die Wüste vertriebenen Sohn der Hagar, bevor er mit der Geschichte von Ahab und der Jagd auf den weißen Wal beginnt. Damit teilt er uns mit, dass er vielleicht Jim, Jack oder Horatio heißt, aber jedenfalls nicht Ishmael. Barth, der es immerhin auf Platz 34 einer von der Zeitschrift American Book Review erstellten Liste mit den hundert besten Romananfängen der Weltliteratur brachte (Melville belegt Platz 1), fragt auch nach der Identität seines Helden, aber bei ihm hat sich der Akzent verschoben.
In gewisser Weise, sagt der Ich-Erzähler, bin ich Jacob Horner - und in gewisser Weise, soll man ergänzen, bin ich es nicht. Jacob Horner hat 30 Dollar dabei und sitzt die ganze Nacht auf einer Bahnhofsbank, weil er nicht weiß, welche Fahrkarte er kaufen soll. Es gibt zu viele mögliche Ziele. Jake leidet an "Cosmopsis". Den Blick in die Ewigkeit gerichtet, und auf das große Ganze, kann er sich nicht entscheiden, welche aus einer Vielzahl von Möglichkeiten er auswählen soll, was ihn paralysiert. Die Lähmung ergreift sein ganzes Leben und auch die eigene Persönlichkeit. Er könnte Jacob Horner sein, oder vielleicht doch ein anderer. Wer mag das schon bestimmen? Mein Fall ist so ähnlich und trotzdem grundverschieden. Mit Jacob Horner kann ich sagen: In gewisser Weise bin ich Hans Schmid. Und in gewisser Weise bin ich es nicht. Im Gegensatz zu Jake besteht mein Problem nicht darin, dass ich mich nicht entscheiden konnte. Mein Objekt der Begierde war klar umrissen. Dieses und kein anderes sollte es sein. Ein Paket mit sieben DVDs. Nur für Erwachsene, sagte der Jugendschutz. Darüber geriet mein Ich ins Wanken. Mehrfach wurde mir versichert, dass ich meine Identität nicht nachweisen konnte. Vielleicht bin ich doch ein anderer.
DVD als Liebesbotschaft
Eingangs sollte "ich" erklären (also das Ich, für das ich mich gerade halte), um welche DVDs es sich da handelt. Die Rede ist nicht von Hardcore-Pornos, Splatter Movies oder Enthauptungsvideos. Weder wird die Verrohung des Publikums befördert noch zur Gewalttätigkeit angereizt oder wie das seit Kaisers Zeiten immer heißt, wenn Sachen verboten werden (die Terminologie hat sich in über hundert Jahren nur geringfügig verändert, und das Denken vermutlich ebenso). Der "gefährdungsgeneigte" Zuschauer wird schwer etwas finden, das ihm beim Nachgehen dieser seiner Neigung behilflich wäre. "Gefährdungsgeneigt" ist ein Lieblingswort der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, kurz BPjM, die 1954 gegründet wurde, um Sachen zu verbieten und das seitdem unverdrossen macht. In einem Land mit langer autoritärer Tradition wie dem unseren wirken Verbote wie ein Betablocker. Wenn eine urdeutsche Behörde wie die Bundesprüfstelle eine Gefährdung feststellt und dies zu Verboten führt verbreitet sich das beruhigende Gefühl von Ordnung und Sicherheit. Die Wirklichkeit ist dann nicht mehr so wichtig.
Nicht einmal die BPjM hätte an den Filmen, denen ich zuneigte, etwas auszusetzen. Sogar an den Umweltschutz hat der Hersteller gedacht. Die ansprechend gestaltete Verpackung kommt ganz ohne Plastik aus. Die sieben DVDs sind in einem schmalen Karteikasten aus Pappe aufbewahrt. Jede DVD hat eine eigene Karte mit Einstecktasche, Photo und Auflistung der auf der Disc enthaltenen Filme. Auf der Schachtel steht: "Gaumont. Le cinéma premier. 1897 - 1913. Volume 1." Stummfilme also, entstanden vor dem Ersten Weltkrieg, inszeniert von Alice Guy, Louis Feuillade und Léonce Perret. Dazu gibt es ein hundertseitiges, schön illustriertes Booklet im Vierfarbdruck.
Léon Gaumont fing als Lehrling im Optikerhandwerk an und stieg zum Geschäftsführer eines Unternehmens namens Comptoir général de photographie auf, das Photoausrüstungen herstellte. Mit der Unterstützung von Investoren wie Gustave Eiffel (der Erbauer des nach ihm benannten Turms) übernahm er 1895 die Firma und gab ihr seinen Namen: Société L. Gaumont et compagnie. 1896 konstruierte der Chefingenieur der Firma den "Chronophotographen": eine auch als Projektor einsetzbare Filmkamera, die sich an den Apparaten der Gebrüder Lumière und von Georges Demenÿ orientierte und diesen sehr ähnlich war. Wie die Lumières filmte Gaumont kleine, eine halbe Minute oder mal 45 Sekunden dauernde Szenen aus dem Alltag ab: Männer beim Kartenspiel, exerzierende Soldaten, einen in den Bahnhof einfahrenden Zug.
Zunächst dienten diese Filmstreifen der Vermarktung des Chronophotographen. Auf den Gedanken, dass ein profitables Unterhaltungsmedium aus ihnen werden könnte, kam der Firmenchef erst etwas später. Heute ist die Gaumont die älteste noch aktive Filmfirma der Welt. Einen ersten Eindruck davon, wie das Unternehmen die Schätze in seinem Archiv pflegt, erhält der Käufer durch die liebevolle Verpackung der in den letzten Jahren erschienenen DVD-Ausgaben. Man lässt sich da stets etwas Neues einfallen. Die vier Discs mit Feuillades Les Vampires beispielsweise liegen in einer schwarzen Pralinenschachtel. Jede DVD steckt in einem dem Billet-doux vergangener Jahrhunderte nachempfundenen Umschlag. Das Billet-doux war ein gefaltetes, unauffällig weiterzugebendes Stück Papier mit einer geheimen Liebesbotschaft.
Solche Liebhabereditionen sind auch für Leute von Interesse, die keinen Schnickschnack wollen, wohl aber alte Filme in bestmöglicher Qualität. Sie sind ein Weg, sorgfältig gemachte DVD-Ausgaben jenseits des Massengeschmacks, also für eine zahlenmäßig begrenzte Käufergruppe, so an den Mann oder an die Frau zu bringen, dass es sich rechnet und ein Anbieter danach das nächste Projekt angehen kann, statt erst mal verdauen zu müssen, dass er rote Zahlen geschrieben hat. Wer im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit bestehen will muss ein Gesamtpaket anbieten, das sich so nicht einfach herunterladen lässt. In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien klappt das recht gut. Deutschland hinkt da leider hinterher wie eigentlich fast immer, wenn das filmische Erbe bewahrt werden soll. Diese - oft auf 3000 Stück limitierten - Liebhabereditionen sind ein Indikator für den Stand der Filmkultur in einem Land.
Von der Blumenkohlfee zu Jesus Christus
Die Sekretärin von Léon Gaumont hieß Alice Guy. 1896 war sie 23 Jahre alt. Das, was der Chef da abfilmte, war ihr zu imitativ und zu wenig ambitioniert. Sie fragte, ob sie nicht selber ein paar Filme drehen dürfe. Gaumont war einverstanden, solange sie ihre Pflichten als Sekretärin nicht vernachlässigte. Einer ihrer ersten Versuche, La Fée aux choux, gehört zu jener Gruppe von Filmen aus dem ersten Jahrzehnt, für die sich der Begriff "Kino der Attraktionen" eingebürgert hat. Das waren Filme von ein oder zwei Minuten, die sich ganz auf ein einziges Ereignis von hohem Schauwert konzentrierten. Die Blumenkohlfee von "Mademoiselle Alice", wie Gaumonts Sekretärin genannt wurde, stand in einem Garten, zauberte aus Kohlköpfen Babys hervor und legte sie auf den Boden, als Beweis für ihre magischen Fähigkeiten. Das war die "Handlung" des 1896 entstandenen Films, von dem keine Kopie überliefert ist. Es gibt nur das Remake von 1900, das Alice Guy vermutlich drehte, weil das Negativ des enorm erfolgreichen Originals nicht mehr zu gebrauchen war. Als Fee im tief ausgeschnittenen Kleid war wieder Yvonne Mugnier-Serrand zu sehen, eine gute Freundin von Mademoiselle Alice.
Alice Guy hatte nun bald ihre eigene Sekretärin (den Job übernahm Yvonne), machte Karriere und wurde die erste Produktionschefin einer großen Filmfirma. Aus dem Gewerbe zog sie sich zurück, als sie 1907 den Kameramann und Regisseur Herbert Blaché heiratete und mit ihm in die USA ging, wo ihr Gatte der dortigen Gaumont-Niederlassung vorstand. Das Leben einer Hausfrau wurde ihr rasch zu langweilig. In Fort Lee, New Jersey gründete sie 1910 mit ihrem Mann ein eigenes Studio, dessen künstlerische Leitung sie übernahm. Filme inszenierte sie noch bis Anfang der 1920er, als sie die Regiekarriere nach einigen Kassenflops endgültig an den Nagel hängte.
"Le cinéma premier" versammelt auf zwei DVDs die 65 erhaltenen Filme von Alice Guy, die sie in Frankreich für die Gaumont drehte. Da die Kinematographie gerade erst erfunden worden war, gab es noch keine Kinos. Als Abspielstätte nahm man, was bereits vorhanden war. Die Filme liefen auf Jahrmärkten, in Music Halls oder im Vaudeville, die Sujets waren häufig der Umgebung angepasst. Gezeigt wurden Attraktionen, die es auch im regulären Programm der Etablissements gab, in denen die Filme projiziert wurden. Bei Alice Guy sieht man Zauberer und Magnetiseure, Slapstick-Szenen, Miss Dundee mit ihrer Hundedressurnummer und Nachahmerinnen der Amerikanerin Loïe Fuller, einer Pionierin des modernen Tanzes, die von 1892 bis 1899 in den Folies Bergère auftrat und mit ihren Schlangentänzen; weltberühmt wurde. Auch Voyeure kamen auf ihre Kosten. Sehr beliebt waren Szenen mit hübschen jungen Mädchen, die in freier Natur ein Bad nahmen oder als Nymphen Ringelreihen tanzten und dabei etwas mehr Bein zeigten als sonst üblich (am Fluss oder an der Quelle in züchtiger Bademode).
Von Tugendwächtern und Ordnungshütern wurden die frühen Filme misstrauisch beäugt. Daher war es ratsam, sich als ein der Moral verpflichtetes Medium zu präsentieren. Au Cabaret etwa und La Bonne Absinthe (beide 1899) warnen vor den Gefahren des Alkohols, dies aber nicht ohne Komik. Die frühen Filme waren in einer Einstellung gedreht, mit statischen Totalen. Allmählich wurden die Filme länger, mit aufeinander folgenden Szenen, doch die statischen Totalen behielt man vorerst bei. 1906 wagte sich Alice Guy an ein Projekt, das für damalige Verhältnisse ein Monumentalfilm war. La Naissance, la vie et la mort du Christ ist 33 Minuten lang und erzählt in 25 Tableaus das Leben Jesu nach, von der Geburt in Bethlehem bis zur Auferstehung. Die Regisseurin hatte 300 Darsteller und Statisten zur Verfügung sowie allerlei Tiere, für jedes Tableau wurde ein elaboriertes Bühnenbild geschaffen, als Experten überwachten zwei Jesuiten die Produktion, die manch ein Filmhistoriker für das Hauptwerk Alice Guys hält. Aber warum, dürfte sich der werte Leser inzwischen fragen, muss man über 18 sein, um die Blumenkohlfee sehen zu dürfen, Miss Dundee mit ihren Hündchen und Jesus bei der Auferstehung?
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