"Leider war es heute nicht möglich, Ihnen Ihre Sendung zuzustellen"

Seite 2: Jugendschutz ohne Verfallsdatum

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Alles fing mit einer Aufwallung patriotischer Gefühle an. "Le cinéma premier", der liebevoll gemachte Karteikasten mit den 7 DVDs, wird von der Gaumont nur in Frankreich angeboten. Eine lizensierte Auswahl (3 DVDs, halbierte Gesamtlaufzeit, Region 1) gibt es in den USA, "Gaumont Treasures": 1897-1913". Einen deutschen Partner haben die Franzosen nicht gefunden. Darüber soll hier nicht lamentiert werden. Als Filmliebhaber ist man es gewöhnt, sich im Ausland umzuschauen, weil man von deutschen Anbietern meistens im Stich gelassen wird. Zum Glück gibt es den Versandhandel im Internet. Das geht schnell, und wenn man vergleicht und nicht den erstbesten Händler nimmt spart man sogar Geld. Für "Le cinéma premier" hatte ich rasch zwei geeignete Bezugsquellen entdeckt. Eine hatte ihren Sitz in Frankreich, die andere war ein deutscher Internethändler, der neue und gebrauchte DVDs und Bücher verkauft. Der Preisunterschied war gering. Warum nicht in Deutschland ordern, dachte ich mir, damit ein deutsches Unternehmen mit meiner Bestellung Geld verdient? Wahrscheinlich wurde ich ein Opfer der "Flüchtlingskrise" und ihrer Folgen. Statt europäisch zu denken entsolidarisierte ich mich, ließ den alten Nationalstaatsgedanken in mir aufflammen und wurde umgehend dafür bestraft. Das Verhängnis nahm jetzt seinen Lauf.

Französische, englische oder amerikanische DVDs haben logischerweise keine Freigabe der deutschen FSK. Mit solchen FSK-Freigaben schützt man aber bei uns die Jugend. Darum kann es heikel werden, DVDs ohne FSK-Aufkleber in den Handel zu bringen. Ich glaube, mich vage an Bestrebungen zu erinnern, ausnahmsweise pragmatisch zu sein und nicht auf Prinzipien herumzureiten. Für alte, vor einem bestimmten Stichtag hergestellte Filme (sagen wir: der 1. Januar 1960) sollte die FSK-Einteilung nach Altersgruppen generell abgeschafft werden. Dieser Vorstoß wurde abgeschmettert. Bestimmt gab es dafür die allerbesten, schlicht unwiderlegbaren Argumente, weil wir hier in diesem unseren Lande alles zum Schutz der Jugend tun und uns dafür ein Regelwerk gegeben haben, um das uns andere Kulturnationen wie Franzosen oder Amerikaner nur beneiden können. Oder fand der Aufruf, etwas mehr Flexibilität zu wagen, nur in meinen Träumen statt? Ausschließen würde ich das nicht. Die Erfahrung lehrt, dass man einmal eingeführte Regeln im Land der Ordnungsliebenden selbst dann nicht wieder los wird, wenn alle längst vergessen haben, wozu sie dienen sollten. Das führt zu Defaitismus und Antriebslosigkeit im Umgang mit Behörden und behördenähnlichen Organisationen. Für die Kultur ist das nicht gut.

Jeder ist ein Produkt der Zeit, in der er lebt. Wertvorstellungen ändern sich, genauso wie der gesellschaftliche Konsens darüber, was für Kinder geeignet ist und was nicht. FSK-Freigaben haben aber kein Verfallsdatum. Was einmal beschlossen wurde gilt, solange keiner eine neue Prüfung beantragt. Bei älteren Filmen stammen viele dieser Entscheidungen noch aus den 1950ern. Damals wurde fleißig herumgeschnippelt. Je niedriger die Altersfreigabe, desto größer das potentielle Publikum und desto höher die Gewinnerwartung. Das erhöhte auch die Bereitschaft, Sachen herauszuschneiden, im Austausch für eine abgesenkte Altersfreigabe. Die damals verfügten Schnittauflagen sind aus heutiger Sicht unverständlich oder nachgerade peinlich. Solche Kürzungen würde heute keiner mehr verlangen. Die 1960er waren - aus dem zu schließen, was ich an Protokollen gelesen habe - auch nicht besser.

Jahrzehnte zurückliegende Entscheidungen kann man überprüfen und korrigieren (den gegenwärtigen Wertvorstellungen anpassen) lassen. Umsonst ist die neue Prüfung nicht. DVD-Anbieter kommen da schon mal in Versuchung, sich das Geld zu sparen und eine Fassung auf den Markt zu bringen, die vor einem halben Jahrhundert gekürzt wurde, weil das damals andere Zeiten waren. Der Käufer erfährt davon nichts. Bonjour Tristesse ist ein Meisterwerk des großen Regisseurs Otto Preminger, der zeitlebens gegen die Zensur kämpfte, weil er der Überzeugung war, dass sie mehr schadet als sie nützt. 1958 stufte die FSK den Film mit Jean Seberg, David Niven und Deborah Kerr als "jugendgefährdend" ein. Heute würde man dafür ausgelacht. Trotzdem ist die 2005 in Deutschland erschienene DVD erst ab 18 Jahren freigegeben. Wer den Film einem 17-Jährigen zeigt macht sich strafbar. Der Anbieter, die Firma Sony, kam offenbar zu dem Schluss, dass die zu erwartenden Verkaufszahlen die Ausgabe für eine neue FSK-Prüfung nicht rechtfertigten. Das hat weniger mit Jugendschutz als mit Profit zu tun. Die Frage muss erlaubt sein, was das Ganze soll?

Für kleine, engagierte Anbieter kann die Neuprüfung durch die FSK zum existentiellen Problem werden. Vor einigen Jahren habe ich miterlebt, wie zwei geplante DVD-Editionen mit Filmklassikern (keine Nacktheit, keine Gewalt) daran scheiterten, dass die Prüfung durch die FSK, an sich eine reine Formsache, rund 3000 Euro gekostet hätte. Bei Nischenprodukten ist die Gewinnspanne mitunter so gering, dass solche Kosten nicht zu stemmen sind. Oft sind es aber gerade die Nischenprodukte, an denen sich die Vitalität (oder das Zombietum) einer Filmkultur zeigt, nicht die von den Unterhaltungskonzernen auf den Markt geworfenen Megaseller.

Parallelgesellschaft

Ich habe hier schon über Nazi-Propagandafilme geschrieben, die bis heute verboten sind, weil sie nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur mehr zufällig als im Rahmen einer durchdachten Strategie auf eine schwarze Liste gerieten. Ich habe auch schon über Nazi-Propagandafilme geschrieben, die jeder problemlos sehen kann. Die gelben ("FSK 6"), grünen ("FSK 12") und blauen ("FSK 16") Aufdrucke suggerieren einen Schutz für Kinder und Jugendliche, den das dahinter stehende System überhaupt nicht gewährleisten kann. Man muss kein böswilliger Mensch sein, um auf den Gedanken zu kommen, dass etliche der Honoratioren, die in der Nachkriegszeit darüber zu befinden hatten, wer was sehen durfte und in welchem Alter, die Welt nach zwölfjähriger Gehirnwäsche im Dritten Reich noch immer durch eine braune Brille sahen (dies umso mehr, als man sich entschlossen hatte, die Vergangenheit zu verdrängen und nicht aufzuarbeiten).

Blickt man vom Jahr 2016 aus auf die 1950er ist man frappiert, wie flott da Filme voller Negativität und Menschenverachtung wieder freigegeben wurden, auch für Kinder. Das bedeutet nicht, dass die Prüfgremien der damaligen FSK von überzeugten Nazis dominiert waren, die das braune Gedankengut auch in Adenauers Deutschland unters Volk bringen wollten. Es reichte völlig aus, wenn da Leute saßen, welche die im Dritten Reich eingeübten Vorurteile und Ressentiments so internalisiert hatten, dass sie nicht mehr in der Lage waren, diese als solche zu erkennen (bei Vorurteilen ist das immer so). Die Murnau-Stiftung beantragt hin und wieder eine neue Überprüfung durch die FSK. Aber welcher kommerzielle Anbieter würde in ein Verfahren investieren, bei dem womöglich herauskommt, dass die Altersfreigabe heraufgesetzt wird und die Verkaufserlöse sinken? Dann bleibt es eben bei dem, was in einer Zeit beschlossen wurde, als die meisten von uns noch gar nicht auf der Welt waren. Scheinbar ist das nicht so wichtig.

Selbstverständlich soll man die Jugend schützen. Gesetze, Verordnungen, Regeln aller Art funktionieren aber nur dann wie sie funktionieren sollen, wenn sie auf die Akzeptanz der von ihnen Betroffenen stoßen. Warum sollte man ein System gut finden, das Otto Preminger, Jean Seberg und David Niven in die Pornoecke stellt, Nazipropaganda mal für jugendgefährdend hält und mal mit dem gelben "FSK 6"-Aufkleber beschenkt und es nicht schafft, für Altersfreigaben zu sorgen, die nichts mehr damit zu tun haben, wie viel vom braunen Dreck, den die Nazis den Deutschen eingetrichtert hatten, sich in den Köpfen der FSK-Prüfer abgelagert hatte? Ein Ordnungssystem aber, das man nicht akzeptiert, weil es zu viel Unsinn produziert, führt dazu, dass die Regeln des Systems früher oder später zum Selbstzweck werden. Es überprüfe jeder selbst, wie weit wir auf diesem Weg schon vorangekommen sind.

Natürlich ist mir klar, dass wir längst in parallelen Welten unterwegs sind. Um den mit der digitalen Variante vertrauten Kommentatoren die Arbeit abzunehmen möchte ich deshalb darauf hinweisen, dass hier zwar die Rede vom real existierenden Jugendschutz ist, nicht aber von durchschnittlich intelligenten Kindern, die wissen, wie man Filme streamen oder herunterladen kann und ein vorsintflutliches System zum Schutz der lieben Kleinen mit ein paar Mausklicks ad absurdum führt. Mir geht es um die Auswirkungen des Jugendschutzes auf Erwachsene, die ein mittlerweile als altmodisch geltendes Speichermedium wie die DVD erwerben wollen, das man sich zuhause ins Regal stellen kann. Die Kinder schützt man ohnehin am besten, indem man ihre Kompetenz im Umgang mit Medien stärkt, von denen man sie nicht fernhalten kann, auch wenn man es sich wünschen würde - es sei denn, man macht die Kinder, die man schützen will, zu Trotteln, deren anspruchsvollste Kulturtechnik in der korrekten Handhabung einer Sandkastenform besteht.

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