"Leider war es heute nicht möglich, Ihnen Ihre Sendung zuzustellen"

La Fée aux choux

Ich ist ein anderer: Nachrichten aus dem Leben eines Filmliebhabers in drei Abteilungen - Folge 1

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Tückisch ist der deutsche Jugendschutz. Manchmal ist er der Realsatire zum Verwechseln ähnlich. Dann trägt er die Züge einer sich selbst genügenden Regelwut, deren Protagonisten längst vergessen haben, worum es einmal gehen sollte. Da man es bei meinen jüngsten Erfahrungen auf diesem Gebiet mit einer eher drögen und keineswegs flamboyanten Variante des Absurden zu tun hat, mit Geistlosigkeit und nicht mit Phantasie, will ich es nicht mit der Schilderung meiner diesbezüglichen Erlebnisse bewenden lassen. Die Leser werden vielmehr eingeladen, mich auf einer Reise in die Wunderwelt des frühen Kinos zu begleiten. Das ist angewandter Jugendschutz, kein stupides Exekutieren von Verwaltungsakten.

"In a sense, I am Jacob Horner." So lautet der erste Satz von The End of the Road einem Roman von John Barth. Er ist nicht so berühmt wie der erste Satz von Herman Melvilles Moby-Dick, "Call me Ishmael", aber auch nicht schlecht. Melvilles Ich-Erzähler bietet uns, wenn denn ein Name erforderlich ist, den biblischen Ismael an, den von Abraham in die Wüste vertriebenen Sohn der Hagar, bevor er mit der Geschichte von Ahab und der Jagd auf den weißen Wal beginnt. Damit teilt er uns mit, dass er vielleicht Jim, Jack oder Horatio heißt, aber jedenfalls nicht Ishmael. Barth, der es immerhin auf Platz 34 einer von der Zeitschrift American Book Review erstellten Liste mit den hundert besten Romananfängen der Weltliteratur brachte (Melville belegt Platz 1), fragt auch nach der Identität seines Helden, aber bei ihm hat sich der Akzent verschoben.

In gewisser Weise, sagt der Ich-Erzähler, bin ich Jacob Horner - und in gewisser Weise, soll man ergänzen, bin ich es nicht. Jacob Horner hat 30 Dollar dabei und sitzt die ganze Nacht auf einer Bahnhofsbank, weil er nicht weiß, welche Fahrkarte er kaufen soll. Es gibt zu viele mögliche Ziele. Jake leidet an "Cosmopsis". Den Blick in die Ewigkeit gerichtet, und auf das große Ganze, kann er sich nicht entscheiden, welche aus einer Vielzahl von Möglichkeiten er auswählen soll, was ihn paralysiert. Die Lähmung ergreift sein ganzes Leben und auch die eigene Persönlichkeit. Er könnte Jacob Horner sein, oder vielleicht doch ein anderer. Wer mag das schon bestimmen? Mein Fall ist so ähnlich und trotzdem grundverschieden. Mit Jacob Horner kann ich sagen: In gewisser Weise bin ich Hans Schmid. Und in gewisser Weise bin ich es nicht. Im Gegensatz zu Jake besteht mein Problem nicht darin, dass ich mich nicht entscheiden konnte. Mein Objekt der Begierde war klar umrissen. Dieses und kein anderes sollte es sein. Ein Paket mit sieben DVDs. Nur für Erwachsene, sagte der Jugendschutz. Darüber geriet mein Ich ins Wanken. Mehrfach wurde mir versichert, dass ich meine Identität nicht nachweisen konnte. Vielleicht bin ich doch ein anderer.

DVD als Liebesbotschaft

Eingangs sollte "ich" erklären (also das Ich, für das ich mich gerade halte), um welche DVDs es sich da handelt. Die Rede ist nicht von Hardcore-Pornos, Splatter Movies oder Enthauptungsvideos. Weder wird die Verrohung des Publikums befördert noch zur Gewalttätigkeit angereizt oder wie das seit Kaisers Zeiten immer heißt, wenn Sachen verboten werden (die Terminologie hat sich in über hundert Jahren nur geringfügig verändert, und das Denken vermutlich ebenso). Der "gefährdungsgeneigte" Zuschauer wird schwer etwas finden, das ihm beim Nachgehen dieser seiner Neigung behilflich wäre. "Gefährdungsgeneigt" ist ein Lieblingswort der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, kurz BPjM, die 1954 gegründet wurde, um Sachen zu verbieten und das seitdem unverdrossen macht. In einem Land mit langer autoritärer Tradition wie dem unseren wirken Verbote wie ein Betablocker. Wenn eine urdeutsche Behörde wie die Bundesprüfstelle eine Gefährdung feststellt und dies zu Verboten führt verbreitet sich das beruhigende Gefühl von Ordnung und Sicherheit. Die Wirklichkeit ist dann nicht mehr so wichtig.

Packshots: Gaumont

Nicht einmal die BPjM hätte an den Filmen, denen ich zuneigte, etwas auszusetzen. Sogar an den Umweltschutz hat der Hersteller gedacht. Die ansprechend gestaltete Verpackung kommt ganz ohne Plastik aus. Die sieben DVDs sind in einem schmalen Karteikasten aus Pappe aufbewahrt. Jede DVD hat eine eigene Karte mit Einstecktasche, Photo und Auflistung der auf der Disc enthaltenen Filme. Auf der Schachtel steht: "Gaumont. Le cinéma premier. 1897 - 1913. Volume 1." Stummfilme also, entstanden vor dem Ersten Weltkrieg, inszeniert von Alice Guy, Louis Feuillade und Léonce Perret. Dazu gibt es ein hundertseitiges, schön illustriertes Booklet im Vierfarbdruck.

Léon Gaumont fing als Lehrling im Optikerhandwerk an und stieg zum Geschäftsführer eines Unternehmens namens Comptoir général de photographie auf, das Photoausrüstungen herstellte. Mit der Unterstützung von Investoren wie Gustave Eiffel (der Erbauer des nach ihm benannten Turms) übernahm er 1895 die Firma und gab ihr seinen Namen: Société L. Gaumont et compagnie. 1896 konstruierte der Chefingenieur der Firma den "Chronophotographen": eine auch als Projektor einsetzbare Filmkamera, die sich an den Apparaten der Gebrüder Lumière und von Georges Demenÿ orientierte und diesen sehr ähnlich war. Wie die Lumières filmte Gaumont kleine, eine halbe Minute oder mal 45 Sekunden dauernde Szenen aus dem Alltag ab: Männer beim Kartenspiel, exerzierende Soldaten, einen in den Bahnhof einfahrenden Zug.

Zunächst dienten diese Filmstreifen der Vermarktung des Chronophotographen. Auf den Gedanken, dass ein profitables Unterhaltungsmedium aus ihnen werden könnte, kam der Firmenchef erst etwas später. Heute ist die Gaumont die älteste noch aktive Filmfirma der Welt. Einen ersten Eindruck davon, wie das Unternehmen die Schätze in seinem Archiv pflegt, erhält der Käufer durch die liebevolle Verpackung der in den letzten Jahren erschienenen DVD-Ausgaben. Man lässt sich da stets etwas Neues einfallen. Die vier Discs mit Feuillades Les Vampires beispielsweise liegen in einer schwarzen Pralinenschachtel. Jede DVD steckt in einem dem Billet-doux vergangener Jahrhunderte nachempfundenen Umschlag. Das Billet-doux war ein gefaltetes, unauffällig weiterzugebendes Stück Papier mit einer geheimen Liebesbotschaft.

Solche Liebhabereditionen sind auch für Leute von Interesse, die keinen Schnickschnack wollen, wohl aber alte Filme in bestmöglicher Qualität. Sie sind ein Weg, sorgfältig gemachte DVD-Ausgaben jenseits des Massengeschmacks, also für eine zahlenmäßig begrenzte Käufergruppe, so an den Mann oder an die Frau zu bringen, dass es sich rechnet und ein Anbieter danach das nächste Projekt angehen kann, statt erst mal verdauen zu müssen, dass er rote Zahlen geschrieben hat. Wer im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit bestehen will muss ein Gesamtpaket anbieten, das sich so nicht einfach herunterladen lässt. In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien klappt das recht gut. Deutschland hinkt da leider hinterher wie eigentlich fast immer, wenn das filmische Erbe bewahrt werden soll. Diese - oft auf 3000 Stück limitierten - Liebhabereditionen sind ein Indikator für den Stand der Filmkultur in einem Land.

Von der Blumenkohlfee zu Jesus Christus

Die Sekretärin von Léon Gaumont hieß Alice Guy. 1896 war sie 23 Jahre alt. Das, was der Chef da abfilmte, war ihr zu imitativ und zu wenig ambitioniert. Sie fragte, ob sie nicht selber ein paar Filme drehen dürfe. Gaumont war einverstanden, solange sie ihre Pflichten als Sekretärin nicht vernachlässigte. Einer ihrer ersten Versuche, La Fée aux choux, gehört zu jener Gruppe von Filmen aus dem ersten Jahrzehnt, für die sich der Begriff "Kino der Attraktionen" eingebürgert hat. Das waren Filme von ein oder zwei Minuten, die sich ganz auf ein einziges Ereignis von hohem Schauwert konzentrierten. Die Blumenkohlfee von "Mademoiselle Alice", wie Gaumonts Sekretärin genannt wurde, stand in einem Garten, zauberte aus Kohlköpfen Babys hervor und legte sie auf den Boden, als Beweis für ihre magischen Fähigkeiten. Das war die "Handlung" des 1896 entstandenen Films, von dem keine Kopie überliefert ist. Es gibt nur das Remake von 1900, das Alice Guy vermutlich drehte, weil das Negativ des enorm erfolgreichen Originals nicht mehr zu gebrauchen war. Als Fee im tief ausgeschnittenen Kleid war wieder Yvonne Mugnier-Serrand zu sehen, eine gute Freundin von Mademoiselle Alice.

Alice Guy hatte nun bald ihre eigene Sekretärin (den Job übernahm Yvonne), machte Karriere und wurde die erste Produktionschefin einer großen Filmfirma. Aus dem Gewerbe zog sie sich zurück, als sie 1907 den Kameramann und Regisseur Herbert Blaché heiratete und mit ihm in die USA ging, wo ihr Gatte der dortigen Gaumont-Niederlassung vorstand. Das Leben einer Hausfrau wurde ihr rasch zu langweilig. In Fort Lee, New Jersey gründete sie 1910 mit ihrem Mann ein eigenes Studio, dessen künstlerische Leitung sie übernahm. Filme inszenierte sie noch bis Anfang der 1920er, als sie die Regiekarriere nach einigen Kassenflops endgültig an den Nagel hängte.

Le cinéma premier

"Le cinéma premier" versammelt auf zwei DVDs die 65 erhaltenen Filme von Alice Guy, die sie in Frankreich für die Gaumont drehte. Da die Kinematographie gerade erst erfunden worden war, gab es noch keine Kinos. Als Abspielstätte nahm man, was bereits vorhanden war. Die Filme liefen auf Jahrmärkten, in Music Halls oder im Vaudeville, die Sujets waren häufig der Umgebung angepasst. Gezeigt wurden Attraktionen, die es auch im regulären Programm der Etablissements gab, in denen die Filme projiziert wurden. Bei Alice Guy sieht man Zauberer und Magnetiseure, Slapstick-Szenen, Miss Dundee mit ihrer Hundedressurnummer und Nachahmerinnen der Amerikanerin Loïe Fuller, einer Pionierin des modernen Tanzes, die von 1892 bis 1899 in den Folies Bergère auftrat und mit ihren Schlangentänzen; weltberühmt wurde. Auch Voyeure kamen auf ihre Kosten. Sehr beliebt waren Szenen mit hübschen jungen Mädchen, die in freier Natur ein Bad nahmen oder als Nymphen Ringelreihen tanzten und dabei etwas mehr Bein zeigten als sonst üblich (am Fluss oder an der Quelle in züchtiger Bademode).

Le cinéma premier

Von Tugendwächtern und Ordnungshütern wurden die frühen Filme misstrauisch beäugt. Daher war es ratsam, sich als ein der Moral verpflichtetes Medium zu präsentieren. Au Cabaret etwa und La Bonne Absinthe (beide 1899) warnen vor den Gefahren des Alkohols, dies aber nicht ohne Komik. Die frühen Filme waren in einer Einstellung gedreht, mit statischen Totalen. Allmählich wurden die Filme länger, mit aufeinander folgenden Szenen, doch die statischen Totalen behielt man vorerst bei. 1906 wagte sich Alice Guy an ein Projekt, das für damalige Verhältnisse ein Monumentalfilm war. La Naissance, la vie et la mort du Christ ist 33 Minuten lang und erzählt in 25 Tableaus das Leben Jesu nach, von der Geburt in Bethlehem bis zur Auferstehung. Die Regisseurin hatte 300 Darsteller und Statisten zur Verfügung sowie allerlei Tiere, für jedes Tableau wurde ein elaboriertes Bühnenbild geschaffen, als Experten überwachten zwei Jesuiten die Produktion, die manch ein Filmhistoriker für das Hauptwerk Alice Guys hält. Aber warum, dürfte sich der werte Leser inzwischen fragen, muss man über 18 sein, um die Blumenkohlfee sehen zu dürfen, Miss Dundee mit ihren Hündchen und Jesus bei der Auferstehung?

La Naissance, la vie et la mort du Christ

Jugendschutz ohne Verfallsdatum

Alles fing mit einer Aufwallung patriotischer Gefühle an. "Le cinéma premier", der liebevoll gemachte Karteikasten mit den 7 DVDs, wird von der Gaumont nur in Frankreich angeboten. Eine lizensierte Auswahl (3 DVDs, halbierte Gesamtlaufzeit, Region 1) gibt es in den USA, "Gaumont Treasures": 1897-1913". Einen deutschen Partner haben die Franzosen nicht gefunden. Darüber soll hier nicht lamentiert werden. Als Filmliebhaber ist man es gewöhnt, sich im Ausland umzuschauen, weil man von deutschen Anbietern meistens im Stich gelassen wird. Zum Glück gibt es den Versandhandel im Internet. Das geht schnell, und wenn man vergleicht und nicht den erstbesten Händler nimmt spart man sogar Geld. Für "Le cinéma premier" hatte ich rasch zwei geeignete Bezugsquellen entdeckt. Eine hatte ihren Sitz in Frankreich, die andere war ein deutscher Internethändler, der neue und gebrauchte DVDs und Bücher verkauft. Der Preisunterschied war gering. Warum nicht in Deutschland ordern, dachte ich mir, damit ein deutsches Unternehmen mit meiner Bestellung Geld verdient? Wahrscheinlich wurde ich ein Opfer der "Flüchtlingskrise" und ihrer Folgen. Statt europäisch zu denken entsolidarisierte ich mich, ließ den alten Nationalstaatsgedanken in mir aufflammen und wurde umgehend dafür bestraft. Das Verhängnis nahm jetzt seinen Lauf.

Französische, englische oder amerikanische DVDs haben logischerweise keine Freigabe der deutschen FSK. Mit solchen FSK-Freigaben schützt man aber bei uns die Jugend. Darum kann es heikel werden, DVDs ohne FSK-Aufkleber in den Handel zu bringen. Ich glaube, mich vage an Bestrebungen zu erinnern, ausnahmsweise pragmatisch zu sein und nicht auf Prinzipien herumzureiten. Für alte, vor einem bestimmten Stichtag hergestellte Filme (sagen wir: der 1. Januar 1960) sollte die FSK-Einteilung nach Altersgruppen generell abgeschafft werden. Dieser Vorstoß wurde abgeschmettert. Bestimmt gab es dafür die allerbesten, schlicht unwiderlegbaren Argumente, weil wir hier in diesem unseren Lande alles zum Schutz der Jugend tun und uns dafür ein Regelwerk gegeben haben, um das uns andere Kulturnationen wie Franzosen oder Amerikaner nur beneiden können. Oder fand der Aufruf, etwas mehr Flexibilität zu wagen, nur in meinen Träumen statt? Ausschließen würde ich das nicht. Die Erfahrung lehrt, dass man einmal eingeführte Regeln im Land der Ordnungsliebenden selbst dann nicht wieder los wird, wenn alle längst vergessen haben, wozu sie dienen sollten. Das führt zu Defaitismus und Antriebslosigkeit im Umgang mit Behörden und behördenähnlichen Organisationen. Für die Kultur ist das nicht gut.

Jeder ist ein Produkt der Zeit, in der er lebt. Wertvorstellungen ändern sich, genauso wie der gesellschaftliche Konsens darüber, was für Kinder geeignet ist und was nicht. FSK-Freigaben haben aber kein Verfallsdatum. Was einmal beschlossen wurde gilt, solange keiner eine neue Prüfung beantragt. Bei älteren Filmen stammen viele dieser Entscheidungen noch aus den 1950ern. Damals wurde fleißig herumgeschnippelt. Je niedriger die Altersfreigabe, desto größer das potentielle Publikum und desto höher die Gewinnerwartung. Das erhöhte auch die Bereitschaft, Sachen herauszuschneiden, im Austausch für eine abgesenkte Altersfreigabe. Die damals verfügten Schnittauflagen sind aus heutiger Sicht unverständlich oder nachgerade peinlich. Solche Kürzungen würde heute keiner mehr verlangen. Die 1960er waren - aus dem zu schließen, was ich an Protokollen gelesen habe - auch nicht besser.

Jahrzehnte zurückliegende Entscheidungen kann man überprüfen und korrigieren (den gegenwärtigen Wertvorstellungen anpassen) lassen. Umsonst ist die neue Prüfung nicht. DVD-Anbieter kommen da schon mal in Versuchung, sich das Geld zu sparen und eine Fassung auf den Markt zu bringen, die vor einem halben Jahrhundert gekürzt wurde, weil das damals andere Zeiten waren. Der Käufer erfährt davon nichts. Bonjour Tristesse ist ein Meisterwerk des großen Regisseurs Otto Preminger, der zeitlebens gegen die Zensur kämpfte, weil er der Überzeugung war, dass sie mehr schadet als sie nützt. 1958 stufte die FSK den Film mit Jean Seberg, David Niven und Deborah Kerr als "jugendgefährdend" ein. Heute würde man dafür ausgelacht. Trotzdem ist die 2005 in Deutschland erschienene DVD erst ab 18 Jahren freigegeben. Wer den Film einem 17-Jährigen zeigt macht sich strafbar. Der Anbieter, die Firma Sony, kam offenbar zu dem Schluss, dass die zu erwartenden Verkaufszahlen die Ausgabe für eine neue FSK-Prüfung nicht rechtfertigten. Das hat weniger mit Jugendschutz als mit Profit zu tun. Die Frage muss erlaubt sein, was das Ganze soll?

Für kleine, engagierte Anbieter kann die Neuprüfung durch die FSK zum existentiellen Problem werden. Vor einigen Jahren habe ich miterlebt, wie zwei geplante DVD-Editionen mit Filmklassikern (keine Nacktheit, keine Gewalt) daran scheiterten, dass die Prüfung durch die FSK, an sich eine reine Formsache, rund 3000 Euro gekostet hätte. Bei Nischenprodukten ist die Gewinnspanne mitunter so gering, dass solche Kosten nicht zu stemmen sind. Oft sind es aber gerade die Nischenprodukte, an denen sich die Vitalität (oder das Zombietum) einer Filmkultur zeigt, nicht die von den Unterhaltungskonzernen auf den Markt geworfenen Megaseller.

Parallelgesellschaft

Ich habe hier schon über Nazi-Propagandafilme geschrieben, die bis heute verboten sind, weil sie nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur mehr zufällig als im Rahmen einer durchdachten Strategie auf eine schwarze Liste gerieten. Ich habe auch schon über Nazi-Propagandafilme geschrieben, die jeder problemlos sehen kann. Die gelben ("FSK 6"), grünen ("FSK 12") und blauen ("FSK 16") Aufdrucke suggerieren einen Schutz für Kinder und Jugendliche, den das dahinter stehende System überhaupt nicht gewährleisten kann. Man muss kein böswilliger Mensch sein, um auf den Gedanken zu kommen, dass etliche der Honoratioren, die in der Nachkriegszeit darüber zu befinden hatten, wer was sehen durfte und in welchem Alter, die Welt nach zwölfjähriger Gehirnwäsche im Dritten Reich noch immer durch eine braune Brille sahen (dies umso mehr, als man sich entschlossen hatte, die Vergangenheit zu verdrängen und nicht aufzuarbeiten).

Blickt man vom Jahr 2016 aus auf die 1950er ist man frappiert, wie flott da Filme voller Negativität und Menschenverachtung wieder freigegeben wurden, auch für Kinder. Das bedeutet nicht, dass die Prüfgremien der damaligen FSK von überzeugten Nazis dominiert waren, die das braune Gedankengut auch in Adenauers Deutschland unters Volk bringen wollten. Es reichte völlig aus, wenn da Leute saßen, welche die im Dritten Reich eingeübten Vorurteile und Ressentiments so internalisiert hatten, dass sie nicht mehr in der Lage waren, diese als solche zu erkennen (bei Vorurteilen ist das immer so). Die Murnau-Stiftung beantragt hin und wieder eine neue Überprüfung durch die FSK. Aber welcher kommerzielle Anbieter würde in ein Verfahren investieren, bei dem womöglich herauskommt, dass die Altersfreigabe heraufgesetzt wird und die Verkaufserlöse sinken? Dann bleibt es eben bei dem, was in einer Zeit beschlossen wurde, als die meisten von uns noch gar nicht auf der Welt waren. Scheinbar ist das nicht so wichtig.

Selbstverständlich soll man die Jugend schützen. Gesetze, Verordnungen, Regeln aller Art funktionieren aber nur dann wie sie funktionieren sollen, wenn sie auf die Akzeptanz der von ihnen Betroffenen stoßen. Warum sollte man ein System gut finden, das Otto Preminger, Jean Seberg und David Niven in die Pornoecke stellt, Nazipropaganda mal für jugendgefährdend hält und mal mit dem gelben "FSK 6"-Aufkleber beschenkt und es nicht schafft, für Altersfreigaben zu sorgen, die nichts mehr damit zu tun haben, wie viel vom braunen Dreck, den die Nazis den Deutschen eingetrichtert hatten, sich in den Köpfen der FSK-Prüfer abgelagert hatte? Ein Ordnungssystem aber, das man nicht akzeptiert, weil es zu viel Unsinn produziert, führt dazu, dass die Regeln des Systems früher oder später zum Selbstzweck werden. Es überprüfe jeder selbst, wie weit wir auf diesem Weg schon vorangekommen sind.

Natürlich ist mir klar, dass wir längst in parallelen Welten unterwegs sind. Um den mit der digitalen Variante vertrauten Kommentatoren die Arbeit abzunehmen möchte ich deshalb darauf hinweisen, dass hier zwar die Rede vom real existierenden Jugendschutz ist, nicht aber von durchschnittlich intelligenten Kindern, die wissen, wie man Filme streamen oder herunterladen kann und ein vorsintflutliches System zum Schutz der lieben Kleinen mit ein paar Mausklicks ad absurdum führt. Mir geht es um die Auswirkungen des Jugendschutzes auf Erwachsene, die ein mittlerweile als altmodisch geltendes Speichermedium wie die DVD erwerben wollen, das man sich zuhause ins Regal stellen kann. Die Kinder schützt man ohnehin am besten, indem man ihre Kompetenz im Umgang mit Medien stärkt, von denen man sie nicht fernhalten kann, auch wenn man es sich wünschen würde - es sei denn, man macht die Kinder, die man schützen will, zu Trotteln, deren anspruchsvollste Kulturtechnik in der korrekten Handhabung einer Sandkastenform besteht.

5 Euro für den Jugendschutz

Bei großen deutschen Versandhändlern ist es gängige Praxis, Importware ohne FSK-Freigabe wie DVDs mit rotem "FSK 18"-Aufdruck zu bewerten. Die FSK ist daran unschuldig. Sie prüft, wenn einer einen Antrag stellt (und dafür zahlt). Der Rest geht sie nichts an. Die Versandhändler haben ein Interesse daran, sich vor möglichem Ärger mit dem Jugendschutz zu schützen. Der Schutz der Jugend, würde ich vermuten, ist dabei eher nicht so wichtig. Zumindest hat man aus den Augen verloren, was das eigentliche Ziel war, als man sich die Regeln gab, die man jetzt befolgt. Inwieweit die Versandhändler einer Forderung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz nachkommen, des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend oder einer den Ministerien zugeordneten Behörde, ob Staatsanwälte und Polizisten es so verlangten oder ob man es mit einem Fall von vorauseilendem Gehorsam zu tun hat weiß ich nicht genau. Auf Nachfragen kriegt man unbefriedigende Antworten, in denen jeder von seinem Verantwortungsbereich spricht und von der eigenen, sehr begrenzten Zuständigkeit. So funktionieren sich selbst abdichtende Systeme. Jeder verantwortet seinen Bereich, indem er irgendwelchen Regeln folgt. Für das, was am Ende dabei herauskommt, ist man nicht zuständig. Da kann man leider gar nichts machen.

Wie absurd das Ganze geworden ist zeigt ein Blick auf die Webseite von Amazon.de. Neulich habe ich Wagon Master (1950) empfohlen, einen Western von John Ford. Wäre der Film in Deutschland je auf DVD erschienen hätte die Verpackung einen grünen Aufkleber, weil er von der FSK irgendwann - 1965, glaube ich - für Kinder ab 12 Jahren freigegeben wurde. Wagon Master ist bei uns aber nie auf DVD erschienen. Man ist auf Importware angewiesen, also ohne FSK-Freigabe. Der Film ist zwar von der FSK freigegeben, aber bei importierten DVDs zählt das nicht, weil sonst die Kinder in Gefahr geraten würden. Während ich das schreibe, bietet Amazon.de DVDs aus den USA (die würde ich nehmen, weil sie das beste Bild hat, und einen schönen Audiokommentar), Großbritannien und Frankreich an. Die britische Universal-DVD beispielsweise kann man direkt bei Amazon.de bestellen; der Versand erfolgt durch einen Partner in Großbritannien. "Achtung", steht dabei. "Dieser Titel ist nicht FSK-geprüft. Eine Lieferung an Minderjährige ist nicht möglich." Man muss 5 Euro Porto zahlen, bei der eigenhändigen Übergabe (zwingend vorgeschrieben) muss man seine Identität und Volljährigkeit nachweisen.

Wer ein verantwortungsloser Geselle ist wie ich und Unsinn nur mitmacht, wenn es unbedingt sein muss, kauft die gleiche DVD bei einem der britischen Anbieter, die unter Amazon.de Marketplace aufgelistet sind. Da zahlt man 3 Euro für das Porto und kriegt die gleiche DVD ohne den Überprüfungsmist. Amazon.de teilt dazu mit: "Eine Ausweisprüfung findet nicht statt. Amazon.de Marketplace Anbieter sind für eine den gesetzlichen Bestimmungen entsprechende Lieferung selbst verantwortlich." Soll heißen: Der Blödsinn fällt dann weg. Der Zusteller wirft die DVD in den Briefkasten und aus. Lustigerweise ist es so, dass der Amazon-Partner mit den 5 Euro für das Porto meistens auch bei den Marketplace-Anbietern gelistet ist. Man kann also dieselbe DVD beim selben Verkäufer bestellen und trotzdem aussuchen, ob man §14 JuSchG zum Sieg verhelfen will oder nicht. Wem das Wohl der Kinder am Herzen liegt: Bitte die 5-Euro-Option wählen!

Wer sich nicht zwischen Sparsamkeit und Jugendschutz entscheiden kann bestellt den Film bei Amazon.co.uk. Das ist noch immer dieselbe DVD, Alters- und Identitätsprüfungen spielen keine Rolle mehr. Manchmal kauft man bei den Briten günstiger ein, manchmal nicht. Auch ein Vergleich mit dem Angebot bei Amazon.fr ist lohnend. Man kann richtig Geld sparen und mit dem Gesparten eine weitere DVD ohne FSK-Freigabe kaufen, die von der FSK freigegeben wäre, wenn die DVD mit demselben Film auch in Deutschland erschienen wäre. Und der Jugendschutz, wo bleibt der? Die Jugendschützer freuen sich über die von Deutschland aus operierenden Händler, weil sie zu den letzten Bastionen eines in Blei gegossenen Systems gehören, das die Wirklichkeit längst überholt hat.

Strichmännchen und Camargue-Indianer

Der Händler, bei dem ich "Le cinéma premier" erwerben wollte, wies mich also darauf hin, dass ein normaler Postversand nicht möglich sei: "Dieser Artikel verfügt über keine deutsche Altersfreigabe oder ist in Deutschland ab 18 freigegeben. Es erfolgt eine Identitäts- und Altersprüfung bei Zustellung." Gut, denkt man sich. Wenn es dem Schutz der Kinder dient nimmt man diese Unannehmlichkeit gern in Kauf. Da man Unsinn lieber mitmacht, wenn er sich nicht gleich zu erkennen gibt, wäre es allerdings wünschenswert, ein wenigstens in sich schlüssiges System zu haben. Dafür wäre es erforderlich, Importware durchgängig als solche zu erfassen. Völlig unrepräsentative Stichproben meinerseits haben ergeben, dass das nur bei rund zwei Dritteln der angebotenen Artikel der Fall ist. Beim restlichen Drittel hat die Logistikabteilung übersehen, dass es sich um Importe handelt, oder was auch immer. Ich habe keine Ahnung, wie die Erfassung funktioniert und will es gar nicht wissen. Im Gegensatz zum Jugendschutz bin ich nicht an der Beachtung oder Nicht-Beachtung von Regeln interessiert, sondern an konkreten Resultaten.

Derselbe Händler, bei dem ich "Le cinéma premier" bestellt hatte, bot auch "Volume 2" an: sechs DVDs mit französischen Stummfilmen aus der Zeit zwischen 1907 und 1916. Vier der sechs DVDs sind dem Werk von Emile Cohl und Jean Durand gewidmet, die nach dem Weggang von Alice Guy die Produktpalette der Firma Gaumont maßgeblich bestimmten, zusammen mit Louis Feuillade und Léonce Perret ("Volume 1"). Wer das französische Kino mag, oder das Kino generell, sollte die Filme dieser vier Meisterregisseure aus der Frühzeit des Mediums mal gesehen haben. Ich kann diese beiden DVD-Boxen wärmstens empfehlen. Auch von "Volume 2" ist eine Auswahl in den USA erschienen ("Gaumont Treasures Vol. 2"). Besser, man besorgt sich die Karteikästen aus Frankreich. Man kriegt da mehr für weniger Geld. Weil sich die Franzosen selbst genug sind gibt es keine Übersetzung der Zwischentitel. Von wenigen Ausnahmen abgesehen braucht man aber nur sehr rudimentäre oder gar keine Französischkenntnisse, um der Handlung der einzelnen Filme folgen zu können.

Fantasmagorie

Der Karikaturist Emile Cohl gehörte zur Künstlergruppe Les Incohérents, die das Bürgertum mit frechen Späßen ärgerte, die traditionellen Ausdrucksformen der Kunst überwinden wollte und trotz ihrer Kurzlebigkeit großen Einfluss auf die Avantgarde hatte. Die Vorgeschichte des Surrealismus kann man ohne die "Zusammenhanglosen" nicht erzählen. Der wahrscheinlichsten Version nach war es Feuillade, Alice Guys Nachfolger als künstlerischer Direktor, der den damals 50-jährigen Emile Cohl 1907 zur Gaumont holte. Cohls Fantasmagorie gilt heute als der erste durchgängig animierte Film der Welt. Mit Fantasmagorie erblickte Cohls Fantoche das Licht der Leinwand, ein nur auf den ersten Blick primitiv wirkendes Strichmännchen, in dem sich der Protest gegen die übermäßig verfeinerten Ausdrucksmittel einer von der Perfektion in den Manierismus gesteigerten Kunst mit der modernen Abstraktion vereinigt. "Volume 2" bietet 57 Filme des wunderbaren, Behörden, Institutionen und Würdenträgern gegenüber immer respektlosen Emile Cohl, dem man auch in Deutschland viele Zuschauer wünschen würde.

Berthe Dagmar

Jean Durand war Léon Gaumonts Antwort auf Mack Sennett, und zwar noch bevor dieser die Keystone Kops erfunden hatte. Von Hause aus Journalist, liebte Durand den Zirkus und das Varieté. Zur Gaumont brachte er seine eigene Artistentruppe mit, Les Pouittes, mit der er anarchische Komödien und wilde Verfolgungsjagden inszenierte. Für das weibliche Element im Chaos sorgte Durands sportive Gattin Berthe Dagmar, die auch als Raubtierdompteuse eine gute Figur machte. Die zunehmende Konkurrenz durch die Amerikaner kann man daran erkennen, dass Durand neben den Komödien auch Western drehte. Les Pouittes reiten da als Cowboys und Indianer durch die Camargue, die als Ersatz für die amerikanische Prärie herhalten musste. In Un mariage au revolver überwindet die Liebe alle Klassenschranken. Berthe als schöne Erbin weist diverse Freier ab, bis Arizona Bill den Zug überfällt, in dem sie sitzt und mit ihr fliehen kann. Ein Pastor wird mit dem Lasso eingefangen und mit vorgehaltenem Revolver dazu gezwungen, das Paar zu trauen. In Le Railway de la mort zeigt Durand, wie man durch Einfallsreichtum die fehlenden Ressourcen ausgleichen kann. Revisionistische Historiker behaupten allerdings, dass die Einfälle von seiner Gattin (und Co-Regisseurin) gekommen seien. Genaues weiß man nicht.

Un mariage au revolver

Fest der Phantasie

Ein Höhepunkt des Slapstick-Films vor dem Ersten Weltkrieg sind die Komödien, die Durand mit dem Akrobaten Ernest Bourbon in dessen Rolle als Onésime drehte und mit denen er sich über Konventionen aller Art lustig machte, von denen der guten Gesellschaft in Paris bis zu denen des Kinos selbst, das dabei war, auf experimentellem Wege die heute noch gültigen Erzählmuster herauszubilden. In Onésime a un duel à l’américaine ist der Held Mitglied eines vornehmen Clubs, in dem er sich mit einem anderen Herrn darüber streitet, wer als erster die Zeitung lesen darf. Der Streit soll durch ein Duell im amerikanischen Stil beigelegt werden. "Amerikanisch" heißt, dass die beiden unablässig aufeinander schießen, während der eine dem anderen hinterherläuft. Es geht los in einer ländlichen Gegend außerhalb der Stadt. Nach einer wilden Schießerei zwischen Alleebäumen führt uns das Duell zurück nach Paris, wo die unermüdlichen Duellanten für allerlei Konfusion und Zerstörung sorgen, bis sie schließlich von der Polizei in eine Zelle geworfen werden. Am Ende sitzen die beiden gemeinsam auf der Pritsche und lachen in die Kamera. Alles ist wieder gut, nachdem genug kaputtgegangen ist.

Onésime a un duel à l’américaine

In Onésime horloger hat ein Onkel dem Helden sein Vermögen hinterlassen und testamentarisch verfügt, dass der Neffe 20 Jahre auf sein Erbe warten muss - in der Hoffnung, dass er dann nicht mehr ganz so dumm ist. In einer Abhandlung über die Uhrmacherei für den Mann von Welt entdeckt der enttäuschte Onésime, wie man eine Uhr so umbaut, dass sie so schnell läuft wie man will. Mit einem Holzhammer schleicht er sich in das zentrale Uhrenbüro, um die große elektropneumatische Uhr, nach der alle anderen Uhren gestellt werden, seinen Wünschen entsprechend zu modifizieren. Von nun an laufen die Uhren und das Leben schneller, 20 Jahre schnurren auf sieben Filmminuten zusammen. Die Passanten gehen schneller, die Autos fahren schneller, ein Einkauf ist im Nu erledigt, obwohl die Damen weiter viele Sachen anprobieren müssen. Das Familienleben ist schön doch leider kurz, weil die Zeit von der Hochzeit über das Kinderkriegen bis zum Heranwachsen des Sohnes so rasend schnell vergeht, dass der Filius schon die Eltern überragt, obwohl er immer noch die Babysachen trägt. Am Ende sitzt Onésime beim Notar, um sein Erbe in Empfang zu nehmen.

Onésime horloger

Der Film ist ein übermütiges Spiel mit den Möglichkeiten des neuen Mediums und eine Satire auf die Pariser Gesellschaft, die sich von einer Uhr das Tempo des Lebens diktieren lässt. Die Menschen um Onésime herum sind 20 Jahre älter geworden. Nur er selbst hat bei der Beschleunigung nicht mitgemacht und kann sein Erbe antreten, obwohl für ihn lediglich sieben Minuten vergangen sind. So lange dauert es, um den Film zu sehen. Ganz so dumm, wie der Onkel dachte, ist der Neffe gar nicht. Man kann es auch anders formulieren. Während die Pariser atemlos durch ihr Dasein hecheln verwandelt sich Onésime vor unseren Augen vom vermeintlichen Trottel in einen klugen Mann. Damit erfüllt sich die Hoffnung des Onkels und der Neffe steckt völlig zurecht das Geld ein, ohne durch die ihm auferlegte Wartezeit oder die Unterwerfung unter das Diktat der Uhrenzentrale 20 Jahre seines Lebens verloren zu haben wie die Welt um ihn herum. So wird aus Onésime horloger ein Fest des Nonkonformismus und der Phantasie.

Opern-Durcheinander

Ein anderer meiner persönlichen Favoriten unter den Komödien von Jean Durand ist Onésime débute au théâtre, in dem der Film als Speerspitze der Populärkultur in den Tempel der Hochkultur eindringt und dort alles ins Chaos stürzt wie später die Marx Brothers in A Night at the Opera. An der Pariser Oper triumphiert die Diva Lina Tortellini in einem hispano-romanischen Werk mit dem Titel "Die Rache des Panamus". Onésime liebt die schöne Sängerin (Berthe Dagmar, die Frau mit der markanten Nase), wird aber von ihr zurückgewiesen. Als er in einem Café seinen Kummer ertränkt überreicht ihm eine Zauberhand die Visitenkarte des Diplomdiebs Gaston Latrouille. Onésime sucht Latrouilles Büro auf und wählt aus der Preisliste die Dienste einer Gruppe von Gentleman-Dieben aus. Wie vom Drehbuch hervorgezaubert tauchen aus einem Schreibpult vier Mitglieder von Les Pouittes auf und beweisen nicht zum ersten Mal, dass sie Durands Filmen durch ihre immer fein choreographierten Auftritte eine besondere Note geben.

Onésime débute au théâtre

Die Diebesbande denkt sich eine Strategie aus, wie man für den Kunden das Herz der schönen Lina stehlen könnte. Der Weg zum Glück führt über die Musik. In seiner Garderobe wird der dicke Tenor überwältigt und in einem Waschbecken verstaut, nachdem ihm die Einbrecher sein Kostüm samt Perücke ausgezogen haben. Onésime soll nun an seiner Stelle in "Die Rache des Panamus" brillieren und Linas Herz gewinnen. Das Bühnendebüt von Onésime endet jedoch mit einem Tumult, weil er nicht singen kann. Er wird mit allem beworfen, was gerade zur Hand ist: mit Sitzkissen, Stühlen und der großen Basstrommel. Auch ein paar Freunde des amerikanischen Duells scheinen sich im Publikum zu befinden, denn aus den Logen wird scharf geschossen. Polizei, Feuerwehr und ein Kulissenschieber stürmen die Bühne, das Szenenbild fällt um, die Zuschauer fallen um und das Orchester ebenso.

Onésime débute au théâtre

Onésime flüchtet auf das Dach der Oper, gefolgt von Latrouille und seiner Diebesfirma. Nach einer haarsträubenden Kletterei kommt er in der Theaterkneipe wieder herunter, um weiteres Chaos anzurichten. Die Gäste fallen um, im Büro der Opernverwaltung stürzt das Dach ein. Onésime rettet sich in die Garderobe von Lina, wo er der Angebeteten von den Abenteuern erzählt, die er bestehen musste, um sich zu ihr durchzuschlagen. Zur Belohnung darf er bleiben und mit ihr die Arie aus "Die Rache des Panamus" einüben, um in Zukunft immer an ihrer Seite zu stehen, auf der Opernbühne und im Leben. Wahrscheinlich denkt die Diva, dass es auf den Gesang nicht wirklich ankommt, weil das ohnehin ein Stummfilm ist. Die Oper ist auch nicht die Oper. Das Gebäude, auf dessen Dach Onésime herumklettert, ist das für die Pariser Weltausstellung von 1900 errichtete Hippodrom. Léon Gaumont hatte es 1911 gekauft und zum damals größten Lichtspieltheater der Welt umbauen lassen, dem Gaumont-Palace, in dem Onésime débute au théâtre 1913 Premiere hatte.

So zeigte die Kinematographie, dass sie es auch architektonisch mit den etablierten Künsten aufnehmen konnte. 1913 war übrigens das Jahr, in dem sich die Societé des auteurs et compositeurs dazu herabließ, das Kino als etwas anzuerkennen, das mit den traditionellen Formen des Theaters verwandt war und auf das deshalb die Statuten der Vereinigung der Autoren und Komponisten anzuwenden sein könnten. Für die Filmschaffenden war das ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Anerkennung als ernstzunehmende Berufsgruppe. Durand reagierte darauf auf seine Weise. Der angestaubten Bühnenkunst, sagt er, beschert der Film einen dringend notwendigen Energieschub. Die Liaison der Operndiva mit Onésime bringt Leben in die Bude.

Was macht der Zug im Tunnel?

Die ganze Bandbreite der Gaumont-Produktion wird erahnbar, wenn man Durands Slapstick-Filme mit den eleganten Komödien von Léonce Perret vergleicht, in denen der subtile Witz an die Stelle einer athletischen, die Kulissen zum Einsturz bringenden Komik tritt, auch wenn nicht jeder Kuss die richtige Empfängerin erreicht. Zwischen 1912 und 1916 drehte Perret rund 40 Filme von jeweils etwa 15 Minuten Länge, bei denen er das Drehbuch schrieb, Regie führte und selbst die männliche Hauptrolle übernahm. Der Figur (respektive den Figuren), die er in der Léonce-Reihe spielte, gab er den eigenen Vornamen, was für die Zuschauer kein Problem war. Offenbar verfügte das damalige Publikum über eine Souveränität im Umgang mit Namen und Identitäten, die gewisse Mitarbeiterinnen der Deutschen Post AG schmerzlich vermissen lassen (dazu mehr in Folge 2). Léonce traf abwechselnd auf eine von drei Frauen: auf Suzanne Grandais (als Suzanne), die Perret (in seiner Eigenschaft als Regisseur) im Moulin Rouge entdeckt haben soll; auf Suzanne Le Bret (als Poupette, weil es eine Suzanne schon gab); und auf Valentine Petit, die früher in Music Halls als Imitatorin von Loïe Fuller aufgetreten und mit Perret (als Privatmann) verheiratet war.

In L’Express matrimonial soll Léonce seinen Erbonkel in der Touraine besuchen, um die Frau kennenzulernen, die der alte Herr für ihn ausgesucht hat (tatsächlich fährt er nach Niort in der Region Poitou-Charentes, in die Heimatstadt des Regisseurs, der Perret in seinen Filmen immer wieder gern die Referenz erwies). Das passt ihm gar nicht, doch einen reichen Erbonkel will man nicht verärgern. In Paris steigt er widerwillig in den Zug. Er fährt erster Klasse, denn in der Léonce-Reihe spielte Perret stets einen gut betuchten Bourgeois. Seine Laune bessert sich, weil im Nachbarabteil zwei Damen sitzen, die er durch eine Scheibe in der Zwischenwand sehen kann. Mit der jüngeren der beiden Frauen (Valentine Petit) nimmt er Blickkontakt auf, sie scheint einem Flirt nicht abgeneigt. Doch die ältere verhängt die Scheibe mit einem Mantel, als sie bemerkt, was vor sich geht.

L’Express matrimonial

Léonce besticht den Schaffner, damit dieser ihm im Speisewagen einen Platz am Tisch der beiden Damen anweist. Das gibt Gelegenheit, das unterbrochene Techtelmechtel fortzusetzen, und Perret kann zeigen, dass der Film ein visuelles Medium ist, das nicht unbedingt das gesprochene Wort oder die Titelkarte braucht. Bisher befand sich die Kamera im Gang vor den Abteilen, sie beobachtete die Abteile der Protagonisten von außerhalb des Zuges, oder sie war im Abteil der beiden Frauen und warf den Blick von Léonce durch die Scheibe zurück, wodurch das Fensterglas zum Spiegel wurde. Im Speisewagen ist ein echter Spiegel angebracht, in dem wir das Gesicht des Helden sehen, weil die Kamera die beiden Damen ihm gegenüber von hinten über seine Schulter filmt. Léonce, heißt das, ist ein nicht uneitler Poseur, was die Heiterkeit der jüngeren der beiden Frauen - nennen wir sie Valentine - noch souveräner wirken lässt.

L’Express matrimonial

Dann fährt der Zug in einen Tunnel. Natürlich muss jetzt der Kuss im Dunkeln kommen. Als der Zug den Tunnel verlässt ist Léonce der Düpierte, weil die Frauen rasch die Plätze getauscht haben und er statt der jüngeren die alte geküsst hat. Valentine findet das wieder sehr lustig. Am Bahnhof von Niort sind die Frauen verschwunden, ehe Léonce ihnen folgen kann. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu seinem Onkel zu fahren, in dessen Garten er mürrisch auf die ihm zugedachte Braut wartet. Die vom Onkel ausgesuchte Frau ist Valentine, die Dame aus dem Zug. Léonce ist überglücklich und Valentine ist es auch. Der Onkel weiß nicht, wie ihm geschieht. Der Schluss bringt uns zurück zum Bahnhof, wo das Brautpaar in die Flitterwochen fährt.

Der Film ist ein schönes Beispiel für die intellektuell anspruchsvollen, vielschichtigen Komödien, die Perret vor nunmehr über hundert Jahren drehte. Sie zeichnen sich durch eine Raffinesse aus, die Ernst Lubitsch später zur sophisticated comedy vervollkommnen würde. Man darf dabei nicht vergessen, dass Perret nur jeweils eine Viertelstunde zur Verfügung hatte, und manchmal weniger. Es beginnt mit der Aussicht auf eine arrangierte Ehe, eingegangen aus finanziellen Erwägungen. Im Zug sieht Léonce die Chance auf ein sexuelles Abenteuer. Am Bahnhof, als die Unbekannte verschwunden ist, scheint der Film von einer verpassten Gelegenheit zu erzählen, vom Ende eines kurzen Traums, nach dem sich der Held der Wirklichkeit stellen muss. Im Garten des Onkels wird eine Romanze daraus. Es war Liebe auf den ersten Blick zwischen Léonce und Valentine, oder vielleicht tun sie auch nur so, denn schließlich waren sie sofort zu einem Flirt (und mehr) bereit, obwohl sie unterwegs zur Braut bzw. zum Bräutigam waren.

Und was bedeutet das für die finale Zugfahrt? Darf da jetzt, mit Trauschein, die zuvor verbotene Sexualität stattfinden? Werden die beiden auf der Fahrt weg vom Onkel und Valentines strenger Begleiterin den Traum von der Erotik fortsetzen, der auf der Hinfahrt jäh unterbrochen wurde, bei der Ausfahrt des Zuges aus dem Tunnel, von dem nicht nur Hitchcock wusste, dass es sich um ein Sexualsymbol handeln könnte (siehe das Ende von North by Northwes)? Oder ist doch eine konventionelle, vom Onkel arrangierte Vernunftehe daraus geworden? Eine einfache Antwort ist nicht möglich, weil Perret in 13 Minuten eine zunächst banal wirkende und dann doch sehr komplexe Geschichte erzählt hat.

Der lange Arm des Gesetzes ist leider blind

Jean Durand und Emile Cohl kamen, weil beim Versandhändler nicht als Importware erfasst, mit der normalen Briefpost bei mir an, obwohl es in "Volume 2" deutlich mehr Gewalt als in der ersten DVD-Box gibt (in La Prairie en feu führt Häuptling Yellow Fox einen spektakulär inszenierten Aufstand im Indianerreservat an, und in der indianischen Liebesgeschichte Cœur ardent wird schon mal einer der durch die Camargue reitenden Krieger vom Pferd geschossen). Wer Jugendgefährdendes in "Volume 1" entdecken will muss die Poesie bei Léonce Perret mit einer blutrünstigen Brutalität verwechseln. Le Chrysanthème rouge ist ein kinematographisches Gedicht, inspiriert vom Symbolismus. Wer diesen Film nicht bezaubernd findet, dem ist nicht zu helfen. Perret liebt die schöne Suzanne Grandais (die "französische Mary Pickford"). Ein Rivale tut das ebenfalls. Suzanne stellt eine Aufgabe wie im Märchen: Sie wird denjenigen der beiden Galane heiraten, der ihr einen Strauß mit ihren Lieblingsblumen bringt.

Le Chrysanthème rouge

Die beiden ziehen los und kaufen in den Blumenläden der Pariser Boulevards die tollsten Sträuße. Nur Chrysanthemen sind nicht dabei, weil die Herren den Titel der Geschichte nicht gelesen haben, in der sie die Akteure sind (die Filme des Blumenfreunds Perret, der mal poetisch und mal sozialkritisch war, zeichnet eine feine Ironie aus). Sehr schön, sagt Suzanne, aber meine Lieblingsblume ist die Chrysantheme. Also geht es zurück in die Blumenläden, wo die Herren weiße Chrysanthemen kaufen. Es ist die rote Chrysantheme, die ich liebe, sagt Suzanne. Perret rennt wieder los. Sein Rivale bleibt zurück und schneidet sich mit einem Messer in die Hand. In Farbe sehen wir, wie rotes Blut auf weiße Blüten tropft. Suzanne verbindet dem Verehrer die Hand und reicht ihm die ihre zur Eheschließung. Perret kann dem Rivalen nur noch gratulieren.

Ich glaube nicht, dass es den Kindern schaden würde, wenn sie auf die Idee kommen sollten, dass die roten Tropfen auf den weißen Blüten das Blut symbolisieren könnten, das Suzanne nun bald vergießen wird, wenn sie - ordentlich verheiratet oder doch schon früher? - die Jungfernschaft verliert. Viel schädlicher ist das unverständliche Gerede von den Blumen und den Bienen, das man sich in meiner Jugend anhören musste, wenn Lehrer oder Eltern "Sexualkunde" betrieben. Aber um Inhalte geht es bei dieser Form des Jugendschutzes sowieso nicht. Es geht da nur um die Volljährigkeit des Käufers - dachte ich zumindest, bis ich den Film mit der Blumenkohlfee erwerben wollte. Der Hinweis auf die Identitäts- und Altersprüfung schreckte mich einstweilen nicht, weil ich beim selben Internethändler bereits andere, korrekt als französische Importware erfasste DVDs gekauft hatte: Ange und Illusions perdues beispielsweise, zwei Komödien mit Marlene Dietrich (Angel, 1937) und Merle Oberon ( That Uncertain Feeling, 1941), inszeniert von Ernst Lubitsch, der vom deutschen DVD-Markt stiefmütterlich behandelt wird, obwohl wir allen Grund hätten, auf ihn stolz zu sein.

Bisher war es immer so gewesen, dass der Paketbote von der DHL geklingelt und mir nach Vorzeigen meines Personalausweises die Sendung ausgehändigt hatte. Ein Freund hat mir neulich erzählt, dass er in einer solchen Situation das starke Bedürfnis hatte, dem Mann von der DHL zu versichern, dass er keinen Schweinkram bestellt hatte (sondern die US-Edition von Walt Disneys Dschungelbuch, Importware und deshalb ohne FSK-Freigabe). Man ist doch irgendwie darauf dressiert, sich zu fragen, was die Leute denken werden. Meine diesbezügliche Schamgrenze ist inzwischen ziemlich niedrig. Als Filmliebhaber gewöhnt man sich in diesem Land daran, in der Nachbarschaft von Pornographen zu landen, weil man durch ein steinzeitlich anmutendes Regelwerk zum Schutz der Jugend als Erwachsener andauernd in die Schmuddelecke geschoben wird.

Ich persönlich bin der Meinung, dass die Frauen und Männer, die im Akkord unsere Pakete anschleppen, seit das Internet dem Versandhandel zu neuer Blüte verholfen hat, auf skandalöse Weise unterbezahlt sind. Diese Ausbeutung kann ich nicht leiden. Darum habe ich es mir angewöhnt, grundsätzlich ein Trinkgeld zu geben. Das ist mein hilfloser Versuch, mit einer Situation umzugehen, die ich nicht ändern kann. Als ich das gelbe DHL-Auto vor dem Haus stehen sah freute ich mich auf die alten Stummfilme und kramte gerade ein paar Münzen hervor, als der Lieferwagen schon wieder wegfuhr. Geklingelt hatte niemand. Ich hätte mir einen ganz langen Arm gewünscht, um den Paketboten aufhalten zu können, aber so etwas gibt es nur in L’Agent a le bras long von Roméo Bosetti, Durands Vorgänger als Komödienspezialist der Gaumont ("Volume 2").

L’Agent a le bras long

In diesem bizarren Kleinod des frühen Films begleiten wir einen Polizisten, der nach Belieben den Arm ausfahren kann, um Frauen mit komischen Hüten den rechten Weg zu weisen, Straßenräuber einzufangen oder randalierende Spießer zu vertreiben. Auch als improvisierter Steg über den Kanal ist die wunderliche Extremität des Wachtmeisters zu gebrauchen. Manchmal geht die Sache schief, weil die Augen nicht immer sehen können, was die Hand gerade tut. Eigentlich ist das keine schlechte Metapher für den Jugendschutz. Einmal flieht ein Verbrecher über die Dächer von Paris und verschwindet durch einen Kamin. Der lange Arm des Gesetzes folgt ihm und zieht einen friedlich schlafenden Bürger aus dem Bett, weil er nur blind um sich tasten und nichts sehen kann.

Mit der klebrigen Frau im Postamt

Geschichten von Paketboten, die vorfahren, rasch eine Benachrichtigung einwerfen und gleich wieder davondüsen, ohne sich lange mit dem Klingelknopf aufzuhalten, kenne ich zuhauf. Offenbar ist das ein alltägliches Phänomen. Mir passierte es bei der Sendung mit den Stummfilmen, die durch den Jugendschutz und seine Regeln zur hochbrisanten Ware geworden waren, zum ersten Mal. Im Nachhinein wurde mir bewusst, wie viel Glück ich bis dahin gehabt hatte. Ich war immer zur rechten Zeit daheim gewesen, und der Paketbote hatte sich die Zeit genommen, die man braucht, das festzustellen. Jetzt war mein Glück aufgebraucht. Dem Mann, der mir das antat, bin ich nicht wirklich böse. Ich sehe in ihm das Opfer unzumutbarer Arbeitsbedingungen. Wahrscheinlich war er neu im Job, als Aushilfe eingesprungen und jedenfalls so unter Druck, dass eine kleine Zeitersparnis Gold wert war. Eine Benachrichtigung in den Briefkasten zu werfen, dass man nicht angetroffen wurde, geht viel schneller als zu klingeln, eine Reaktion abzuwarten und dann auch noch einen Ausweis kontrollieren zu müssen.

"Ihre Sendung ist da!", stand auf dem Benachrichtigungsschein, in roter Schrift auf gelbem Grund. Am folgenden Tag, aber nicht vor 10 Uhr 30, liege das Paket in der örtlichen Postfiliale bereit. In dem Dorf, in dem ich wohne - verglichen mit dem, was in meiner Kindheit als Dorf galt, ist der Ort eine Schlafstadt, in der von Baufirmen hingestellte, auf kostensparende Uniformität getrimmte Einheitshäuser tumorartig wuchern -, in diesem Dorf also, das keines mehr ist, gab es früher ein echtes Postamt. Heute steht da nur noch das denkmalgeschützte Gebäude. Die neue Postfiliale ist in einem dieser Einheitshäuser untergebracht, die aussehen, als seien sie nur gebaut worden, um bald wieder abgerissen zu werden.

Keinen Post Shop, oder wie das jetzt heißt, um zu suggerieren, dass die straffe Durchkommerzialisierung ein Ausdruck von Modernität und Kundennähe sein könnte, sondern ein richtiges Postamt gibt es in einem meiner Lieblingsfilme von Alice Guy. Er hat den Titel Une femme collante, entstand 1906 und ist mit einer Laufzeit von gut zwei Minuten wahrscheinlich nicht ganz so lang, wie es gedauert hätte, mir die DVD, auf der sie enthalten ist, unter Verwendung des Klingelknopfs zuzustellen. Eine Dame aus den besseren Kreisen hat einen Stapel Briefe sowie ihre Zofe mitgebracht und lässt sich einen Bogen Briefmarken geben. Die Zofe muss die Zunge herausstrecken, damit die Dame im Eiltempo die Marken befeuchten und die Briefe frankieren kann.

Une femme collante

Ein Mann mit Schnurrbart und Zylinder beobachtet das in sichtlicher Erregung. Dazu hat er ausreichend Gelegenheit, weil seine Gattin mit dem Aufgeben einer Sendung beschäftigt ist und nicht sieht, was er so treibt. Während die Dame die Briefe zum Schalter bringt nähert sich der Mann der Zofe mit tänzelnden Bewegungen. Er deutet an, dass er gleich ihre Brüste begrapschen wird, packt sie aber dann am Hals und drückt seinen Mund auf den der Zofe. Nach dem erzwungenen Kuss kommt der Mann nicht mehr von ihr los, er ist an ihr festgeklebt. Ein Laufbursche des Postamts trennt die beiden mit einer Schere. Danach hat auch die Zofe einen Schnurrbart, weil unter ihrer Nase die vom Laufburschen abgeschnittenen Barthaare des Mannes mit Zylinder kleben.

Sex und Ökonomie

Alice Guy ist da eine groteske Szene mit ernstem Hintergrund gelungen. Die erzürnte Gattin des Herrn mit dem Zylinder schlägt mit einem Schirm auf die Zofe ein, weil es damals nicht ganz unüblich war, aus den Opfern sexueller Übergriffe die Männer anlockende Täterinnen zu machen (heute ist das auch noch sehr beliebt, solange es keine Marokkaner sind, die deutschen Frauen zwischen die Beine fassen). Das Detail mit dem Zofenbart diente der Erheiterung des Publikums, war aber vor allem ein Zugeständnis an die Zensur. Warum sollte der Schnurrbart eines Mannes an der Oberlippe einer Frau kleben, die er geküsst hat und deren Zunge - durch das Ablecken der Briefmarken - voller Klebstoff ist? Antwort: Weil ein Zungenkuss zu heikel war. Nach den ersten Jahren der Anarchie war das Bildungsbürgertum auf die echten oder herbeiphantasierten Gefahren durch die Kinematographie aufmerksam geworden. Die Behörden waren zu erhöhter Wachsamkeit angehalten. Ein Film mit einem Mann, der einer Frau die Zunge in den Hals steckt und dabei an der Zunge des Opfers kleben bleibt, hätte der Gaumont viel Ärger einbringen können.

Alice Guy wusste das als Produktionschefin genau und verschob die klebrige Angelegenheit aus der Mundhöhle nach außen, hin zur Oberlippe. In den Köpfen der Zuschauer, würde ich vermuten, stellten sich die Bilder zum eigentlichen Vorgang ein. Das geschah, weil die Zuschauer nicht dumm waren und auch, weil sie eine Interpretationshilfe hatten. Die frühen Filme wurden meistens in Anwesenheit eines Erzählers vorgeführt, der den Kontakt zum Publikum herstellte und das Geschehen auf der Leinwand kommentierte. War kein Erzähler da übernahm das Publikum das Kommentieren selbst. Heute sitzen wir brav auf unseren Kinosesseln und sind aufgefordert, während der Vorstellung nur zu flüstern oder besser ganz den Mund zu halten. Das ist eine später eingeführte Konvention.

Diese frühen Filme sind verblüffend direkt. Die Zofe ist Sexualobjekt und Befeuchtungsmaschine in einem. Alice Guy verschränkt so die sexualisierte Gewalt im öffentlichen Raum mit der Verdinglichung von Menschen in der modernen Arbeitswelt. Beides kommentiert sich gegenseitig. In einer partriarchalischen Gesellschaft glaubt der Mann, die Frau nach Belieben ablecken zu können. Und der Kapitalismus hat eine Form der Leibeigenschaft hervorgebracht, in der die Angestellte die Briefmarken ablecken muss, weil die Arbeitgeberin es verlangt. Wären es die Stiefel gewesen, die zu lecken sind, hätte das wahrscheinlich zu einem Aufschrei der Empörung geführt. Das Ablecken der Briefmarken wirkt gleich viel akzeptabler, weil das schließlich jemand machen muss, damit die Post die Briefe der feinen Dame befördert. Wer sollte es tun wenn nicht die Zofe, die für ihre Arbeit einen Lohn erhält?

Alice Guy zeigt uns eine ins Groteske übersteigerte Wirklichkeit. Da kann einem das Lachen schon mal im Halse stecken bleiben wie dem Mann mit dem Zylinder die Zunge im Hals der Zofe. Der Film mit der klebrigen Frau ist unvermindert sehenswert. In Zeiten, in denen mit Blick auf Zuwanderer und Flüchtlinge erregt vor dem Entstehen von Parallelgesellschaften gewarnt wird, kann er uns daran erinnern, dass es solche Parallelgesellschaften schon gibt. Man braucht dafür gar keine Ausländer. Es gibt die Opfer sexueller Übergriffe und die Vergewaltiger. Die Frauen, die für gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als die Männer. Die jedes Jahr größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Die DHL und ihre unterbezahlten Zusteller. Die Börse mit ihren Aktionären und die Kunden, für die der Börsengang der Deutschen Post nicht unbedingt ein Segen war.

Rote Punkte

Auf dem Weg zur Postfiliale, bei der ich mein Paket mit "Le cinéma premier" abholen sollte, weil der Zusteller keine Zeit gehabt hatte, es mir zuzustellen, kam ich am alten, denkmalgeschützten Postamtsgebäude vorbei. Davor steht ein gelber Briefkasten mit rotem Punkt. Der rote Punkt signalisiert, dass der Kasten auch am Sonntag geleert wird. Das weiß ich, seit ich gelesen habe, dass es den Punkt bald nicht mehr geben wird. Die Sonntagsleerung lohnt sich nicht. Die Post plant, sie in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern abzuschaffen. Das ehemalige Dorf, in dem ich lebe, erreicht diese magische Zahl noch nicht. Die Gemeindeverwaltung müsste dafür sorgen, dass die verbliebenen Wiesen in aller Eile mit Siedlungsbauten zugestellt werden (mit einem Einheits-Rhododendron für jedes Haus), um weiterhin in den Genuss dieser Dienstleistung zu kommen. Der durch die Digitalisierung vom Aussterben bedrohte rote Punkt machte mir wieder klar, dass auch ich Teil einer Parallelgesellschaft bin. Während der moderne Jugendliche Pornos und Hassbotschaften von besorgten Bürgern per Internet konsumiert gehöre ich zur Gruppe der ewig Gestrigen, die ein sentimentales Verhältnis zu im Bücherregal aufzubewahrenden Speichermedien wie der DVD entwickelt haben. Aus Gründen des Jugendschutzes (oder doch zur Strafe für nicht zeitgemäßes Verhalten?) müssen Leute wie ich zur Postfiliale pilgern, um dort ihre Stummfilme ohne FSK-Freigabe abzuholen. Ob das eine erzieherische Maßnahme sein könnte? Zwangsmodernisierung durch schwarze Pädagogik?

Wenn man das Postamt im Film von Alice Guy mit dieser Postfiliale vergleicht fällt gleich die qualvolle Enge auf, die dort herrscht. Die Betreiberin des Ladens, würde ich vermuten, wird von DHL und Deutscher Post so kurz gehalten, dass sie gezwungen ist, ihr Einkommen mit dem Verkauf von Schreibwaren und Krimskrams aufzubessern. Inmitten dieser Waren bleibt für den Kunden wenig Platz. Besonders unangenehm wird die Drängelei, wenn man erst mal anstehen muss. Hat man den Kopf der Schlange erreicht ist man nicht unbedingt am Ziel. Die Filialleiterin oder ihre Angestellte verschwinden dann mit dem Benachrichtigungsschein hinter einer Stellwand, wo es wahrscheinlich noch enger zugeht als davor. Das Auffinden einer Sendung kann da schwierig werden. Hellseherische Fähigkeiten wären wünschenswert. Ich wurde schon dafür gerügt, dass ich ein Paket, das ich abholen wollte, nicht genau genug beschreiben konnte. Ein andermal bemängelte die Angestellte, dass auf dem Abholzettel das weiße Feld mit der Vollmacht für die abholende Person nicht ausgefüllt war. Auf die Frage, warum ich mir als Empfänger selbst eine Vollmacht ausstellen sollte, erhielt ich keine Antwort, aber immerhin mein Paket.

Typisch Mann, wird die eine oder andere Leserin jetzt denken. Die Frauen in dieser Postfiliale werden ohnehin schon ausgebeutet, durch ein von Männern dominiertes und auf Gewinnmaximierung ausgerichtetes System, und er meckert, weil er ein paar Minuten warten muss. An dieser Stelle möchte ich darauf verweisen, dass ich als Held des Feminismus in der Filiale stand. Wie das? Vor etlichen Jahren durfte ich an mehreren Orten in Rheinland-Pfalz eine Veranstaltungsreihe zum frühen Kino machen, weil im Kultusministerium dieses Bundeslandes ein Beamter saß, der wollte, dass auch mal etwas stattfand, statt seine Existenzberechtigung durch das Anlegen dicker Ordner zu Projekten nachzuweisen, die umfangreich geplant und nie realisiert werden. Tatsächlich stattfindende Veranstaltungen haben den Nachteil, dass etwas schiefgehen und es Ärger geben könnte. Darum sind sie nicht bei allen in der Kulturbürokratie beliebt.

Der Name des tollkühnen Beamten bleibt hier unerwähnt, weil ihm das nur peinlich wäre. Ich will auch nicht, dass er seine Pension verliert. Das von mir aus eigenen Beständen zusammengestellte und kommentierte Programm bestand aus kurzen, zwischen 1895 und 1915 gedrehten Filmen. Ich weiß es nicht genau, befürchte aber, dass wir damit gegen die Bestimmungen des Jugendschutzes verstießen. Die Filme, in denen zu sehen war, wie die Arbeiter der Gebrüder Lumière die Fabrik verlassen, ein Kahn durch eine Welle zu kentern droht oder ein Schwein gestohlen wird, woraus eine wilde Verfolgungsjagd resultiert, wurden von der FSK nie freigegeben, weil es die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft damals noch nicht gab. Trotzdem durften alle Interessierten in den Kinosaal, ohne vorherige Ausweiskontrolle. Ich kann nicht ausschließen, dass Minderjährige dabei waren.

Arroseur et arrosé (1895) von den Lumières gilt als erste Komödie der Filmgeschichte. Ein Junge tritt auf den Gartenschlauch seines Vaters. Der Vater mustert den Schlauch, aus dem kein Wasser mehr kommt. Der Junge nimmt den Fuß weg, der Vater wird nassgespritzt. Am Ende versohlt der Vater dem Sohn den Hosenboden. Wenn das den gefährdungsgeneigten Jugendlichen nicht zu Gewalttaten und sonstigen Exzessen anregen könnte! Noch bedenklicher wird der Film, wenn man weiß, dass Louis Lumière (er war der kreativere der beiden Brüder) ein Comic des populären Cartoonisten Christophe (ein Urvater der Graphic Novel) nachstellte, das 1889 in der Zeitschrift Le Petit Français Illustré erschienen war. Comics waren schon immer extrem gefährlich für die Jugend. Nicht umsonst setzte unsere famose Bundesprüfstelle als erstes ein Tarzan-Heft auf den Index, nachdem Adenauer sie hatte gründen lassen, damit die BRD eine Behörde für das Verbieten von Sachen hatte, die den Verteidigern der Schriftkultur suspekt waren.

In Frankreich gibt es eine schöne DVD-Ausgabe mit den Filmen der Lumières (auch als BluRay erhältlich). Wie alle in anderen Ländern erschienenen DVDs haben auch diese keine FSK-Freigabe. Darum darf man sie bei Amazon.de oder vergleichbaren Versandhändlern nur kaufen, wenn man über 18 ist. Das kann man kurios finden, den Blödsinn ignorieren und einfach bei Amazon.fr bestellen. Dann kommen sie mit der normalen Briefpost ins Haus, niemand fragt nach dem Alter, die DVDs sind billiger, und sogar das Porto ist niedriger, weil man keinen Aufpreis für die eigenhändige Übergabe mit Identitäts- und Altersprüfung zahlen muss. Schwieriger wird es, wenn man außerhalb einer geschlossenen Veranstaltung alte Filme öffentlich zeigen will, die problemlos eine Freigabe durch die FSK erhalten würden, aber keine haben, weil sie nie geprüft wurden. Ganz schwierig kann es werden, wenn eine Veranstaltung nur in Zusammenarbeit mit öffentlichen Einrichtungen, der Kulturbürokratie usw. möglich ist. Niemand weiß, was schon alles verhindert wurde, weil sich die Verantwortlichen bei ihren Entscheidungen nicht von dem leiten ließen, was realistischerweise passieren würde, sondern von dem, was theoretisch passieren könnte, wenn man sich nicht penibel an die Bestimmungen zum Jugendschutz hält, weil das Resultat ein Unsinn ist. Manchmal werden aus Regeln zum Schutz der Kinder solche zum Abschaffen der Wirklichkeit.

Ghettobildung mit FSK-Aufdruck

Nebenbei bemerkt: Ist es nicht schön, wie freiwillig das alles ist, in einem Land, in dem eine Zensur - laut Grundgesetz Artikel 5 - nicht stattfindet? Wer einen Film unter die Leute bringen will beantragt freiwillig bei der FSK, dass diese das Werk auf seine Kinder- und Jugendtauglichkeit überprüft, und wenn der Anbieter das nicht macht übernimmt er freiwillig das Risiko, den finanziellen Exitus inbegriffen. Bei den vielen Filmen, die es gibt, kann man nicht zwischen alt und neu unterscheiden, und wenn hier immer noch Verstümmeltes im Umlauf ist, dann nur, weil ein Anbieter sich freiwillig entschieden hat, das Geld für eine neue Prüfung einzusparen, ohne die nicht wieder eingefügt werden darf, was früher verboten war. Fast hätte ich geschrieben, dass diese Verstümmelungen ohne Sinn und Verstand angeordnet wurden, aber das trifft es nicht.

Was in grauer Vorzeit entschieden wurde war abhängig von den damaligen Wert- und Moralvorstellungen. Die meisten der jetzt aktiven Jugendschützer würden mir vermutlich zustimmen, dass die - oft noch vom Dritten Reich beeinflussten - Werte der 1950er nicht mehr der Maßstab für das Jahr 2016 sein können (es sei denn, man verfasst ein Parteiprogramm für die AfD). Trotzdem gilt, was damals beschlossen wurde, wenn keiner das Geld für eine neue Prüfung zahlt. Die FSK ist fein raus, weil sie von sich aus nicht aktiv wird. So sind die Bestimmungen. Selbstredend geht es da ausschließlich um den Schutz der Kinder. Die FSK, da bin ich mir ganz sicher, prüft zu einem Preis, der nicht einmal die Kosten deckt. Denn finanzielle Interessen haben immer nur die anderen und nie die Einrichtungen zum Jugendschutz.

Kennt jemand Ein Mädchen aus Flandern von Helmut Käutner, dem neben Wolfgang Staudte wichtigsten deutschen Regisseur der Nachkriegszeit? Die Verfilmung einer Erzählung von Carl Zuckmayer ("Das Engele von Loewen") ist in der Versenkung verschwunden, weil Filme mit einer FSK-Freigabe ab 18 Jahren zu einem Nischendasein verurteilt sind. Maximilian Schell als deutscher Soldat verliebt sich im Ersten Weltkrieg in besagtes Mädchen, das unter Spionageverdacht gerät und von den Deutschen in ein Bordell gesteckt wird. Ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem die Wehrmacht und die SS solche Bordelle unterhalten hatten, rührte das an ein Tabu. Käutner erhielt den Preis der deutschen Filmkritik. Von anderer Seite wurde er als "Vaterlandsverräter" beschimpft (inzwischen ist der "Volksverräter" daraus geworden). Die FSK befand 1956, dass das Antikriegsmelodram nur für Erwachsene geeignet sei, wenn überhaupt. Das gilt bis heute. Der Anbieter der DVD hat freiwillig beschlossen, eine Kalkulation zu erstellen, in der für eine Überprüfung durch die FSK des neuen Jahrtausends kein Geld vorgesehen ist.

Ich fühle mich persönlich betroffen, seit ich Käutners Film im Rahmen einer von einem deutschen Bundesland finanzierten Kulturveranstaltung zeigen wollte. Der zuständige Beamte hatte in einem vergleichbaren Fall schon einmal viel Ärger gehabt. Darum fragte er routinemäßig nach der FSK-Freigabe. Anlügen wollte ich ihn nicht. Eine Vorführung nur für Erwachsene war wegen der Vorgaben des Ministeriums nicht möglich. Reich wird man mit solchen Veranstaltungen nicht. Wenn alle Beteiligten auf ihr Honorar verzichtet hätten wäre nicht annähernd das Geld für eine neue FSK-Prüfung zusammengekommen. Auch der knappe Etat des Beamten gab so etwas nicht her. Ein Mädchen aus Flandern wurde aus dem Programm genommen. Also bestimmen noch immer die Weltkriegs- und NS-Veteranen von 1956, wer Helmut Käutners Film sehen darf und wer nicht. In anderen Ländern wäre das ein Skandal. Bei uns fällt es unter den Jugendschutz. Eine ordentliche Zensur wäre einem manchmal lieber als diese Art von freiwilliger Selbstkontrolle.

Das Leben, so wie es ist

Da ich nach wie vor mein Paket mit "Le cinéma premier" nicht in Empfang genommen habe, müssen wir notgedrungen zur frühen Filmgeschichte zurückkehren. Meine Lieblingsanekdote aus dieser Zeit geht so: Die Brüder Auguste und Louis Lumière führen in Paris mit Hilfe des von ihnen entwickelten Projektors vor zahlendem Publikum ein paar kurze Filme vor. Auf der Leinwand sieht man eine Welle. Die Zuschauer sind begeistert. Nach der Vorstellung treten einige Herren an die Leinwand heran und klopfen sie mit ihren Spazierstöcken auf Hohlräume ab, weil sie glauben, dass ein Wassertank hinter ihr versteckt ist. Unabhängig davon, ob es sich so abgespielt hat oder nicht macht die Anekdote eine Besonderheit des neuen Mediums klar. Die Kinematographie schien das Leben selbst in den Vorführraum zu holen, nicht dessen Abbild. Das Publikum, das an Theaterkulissen mit aufgemaltem Meer oder aufgemalten Bäumen gewöhnt war geriet in Verzückung, wenn es ein echtes Blatt im Wind sah, oder die Welle, die Louis Lumière am Strand beim Ferienhaus der Industriellenfamilie abgefilmt hatte.

Die Begeisterung über das von der Kamera eingefangene Leben hielt lange vor. Je mehr sich das Kino allerdings von seinen Anfängen im Jahrmarktszelt und im notdürftig zum Vorführraum umgebauten Ladenlokal löste, desto größer wurde der Anpassungsdruck. Als Feuillade Alice Guy als künstlerischer Leiter der Gaumont nachfolgte, strapazierte er die Geduld (und die Kasse) des Firmenpatrons mit aufwendig verfilmten Stoffen aus der Bibel und der griechischen Mythologie. Mit Historienspektakeln wie L’Orgie Romaine und L’Agonie de Byzance wollte er den Beweis erbringen, dass der Film es sogar mit pompös ausgestatteten Operninszenierungen aufnehmen konnte. Eigentlich war das ganz im Sinne von Léon Gaumont, denn solche bildungsbürgerlich angehauchten Ausstattungsschinken waren gut für das Prestige und förderten die Akzeptanz bei den Wächtern der Kultur, die laut nach Zensurmaßnahmen riefen. Bis die Produktionskosten eingespielt waren dauerte es jedoch eine Weile. Es empfahl sich also, auch billige, schnell gedrehte Filme ohne finanzielles Risiko zu produzieren, mit denen man sofort Profit machte.

L’Orgie Romaine und L’Agonie de Byzance

Die amerikanische Vitagraph feierte Erfolge mit einer Filmreihe, die unter dem Obertitel Scenes from Real Life vertrieben wurde. Feuillade reagierte mit einer eigenen Serie, die er La vie telle qu'elle est nannte: Das Leben, so wie es ist. Léon Gaumont war ein Knauser. Der Legende nach stand er jeden Morgen mit der Stoppuhr am Eingang, denn Zeit ist Geld. Er hatte erfahren, dass die dänische Firma Nordisk Filme zum Meterpreis von 6,50 Francs herstellte. Sein Produktionschef versprach, ihm aus dem Leben gegriffene Filme für 6 Francs pro Meter zu liefern. In einem programmatischen, wahrscheinlich von Feuillade verfassten Text (April 1911) wurde mitgeteilt, dass die Menschen und die Dinge so darzustellen seien wie sie sind und nicht, wie sie sein sollen. Das könne nur der Film leisten, keine von den anderen Künsten. Zur Vermeidung von Langeweile erzählte Feuillade in seiner Reihe von dramatischen Begegnungen oder Ereignissen, die dem Leben der Protagonisten eine neue Wendung geben. Allerdings könnte man sich große Teile der dann entstandenen Filme so oder so ähnlich auch im Theater vorstellen.

Vor schnell aufgebauten Studiokulissen oder in Räumlichkeiten, die gerade zur Verfügung standen (der Zufall spielte eine wichtige Rolle), entfalten sich melodramatische, in Sujet und Inszenierung an den damaligen Bühnenrealismus erinnernde Geschichten. Aufregend wird es immer da, wo der Übergang von einem Handlungsraum zum anderen bewerkstelligt werden muss. Feuillade nützt jede sich bietende Gelegenheit, das Atelier zu verlassen und mit der Kamera hinaus auf die Straßen von Paris zu gehen, wo Fußgänger und Automobile unterwegs sind, die man so mit den Mitteln des Theaters tatsächlich nicht hätte zeigen können. In Le Nain, einem Film über die bürgerliche Gesellschaft und ihre Vorurteile, experimentiert er mit einem Split-Screen-Effekt. Ein Kleinwüchsiger liebt eine kapriziöse Schauspielerin, wagt aber nur am Telefon, sich ihr zu offenbaren. Bei einem ihrer Gespräche sieht man den Liebenden im linken Drittel des Bildes, die Schauspielerin im rechten Drittel, in der Mitte den Verkehr auf den Champs-Élysées. Eines dieser Autos wird die beiden zusammenführen, weil es die Frau zum Mann am Telefon bringt, und es wird sie trennen, weil die Schauspielerin nun den kleinen Körper ihres Galans sieht und ihn auslacht. Die Verbindung mit einem "Zwerg" kommt für die Schöne nicht in Frage.

Le Nain

Anna Moulin, die Heldin von La Tare (Der Makel), ist ein Pariser Schankmädchen mit einem reichen Liebhaber, nach damaliger Konvention also eine Prostituierte. Ein befreundeter Arzt schlägt ihr vor, als Oberschwester mit nach Südfrankreich zu kommen, wo er ein Waisenhaus leiten soll. Nach dem Tod des Arztes übernimmt sie dessen Aufgaben in der Verwaltung. Dann wird sie von ihrem früheren Liebhaber Alphonse aufgespürt, der sie zwingen will, die sexuelle Beziehung wieder aufzunehmen. Anna weigert sich. Alphonse macht seine Drohung wahr und schwärzt sie beim Kuratorium des Waisenhauses an. Der Versuch der ehemaligen Prostituierten, sich eine ehrbare Existenz aufzubauen, scheitert an der bürgerlichen Doppelmoral.

Solche Geschichten konnte man in den Fait divers (vermischten Nachrichten) der Zeitungen lesen, oder in den Romanen von Emile Zola, der bei Léon Gaumont photographische Apparate kaufte. Doch auf dem Weg vom alten in ein neues Leben bringt ein Auto Anna Moulin und ihren Gönner zum Bahnhof. Plötzlich rast ein dampfender Zug durch das Bild, an einem Fluss entlang. In diesen Momenten des Übergangs wird in der Tat ein Stück von der Wirklichkeit eingefangen, das so weder das Theater noch die Malerei und auch nicht der Roman bieten konnten. In den Kriminal-Serials, die Feuillade drehte, als er von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs - einem Krieg der Technologie - nach Paris zurückgekommen war, übernahmen diese Stücke vom "Leben, so wie es ist", eine tragende Rolle. Darum sind Les Vampires, Judex und Ti-Minh so frisch geblieben, und gar nicht museal, obwohl die Helden und die Schurken in Oldtimern unterwegs sind.

Held des Feminismus

Feuillade war besonders von der Mobilität der modernen Welt fasziniert, festgehalten in Gestalt ihrer Fortbewegungsmittel. Bei Alice Guy war es das Leben selbst. Ihr Film mit der Blumenkohlfee steht in der Tradition der féeries, die im Frankreich des 19. Jahrhunderts ebenfalls als sehr modern galten (und dann zur Unterhaltung für Kinder wurden). Die féerie im engeren Sinne ist ein Märchenspiel, reich ausgestattet, mit spektakulären Bühneneffekten und magischen Verwandlungen. Als Vorbild für das frühe Kino eignete sich das Märchenspiel so gut, weil die Bühnenhelden bei ihren phantastischen Abenteuern durch eine Reihe von Tableaus wanderten. In den Anfangsjahren der Kinematographie war der Tableaustil die bevorzugte Präsentationsform. Die durch ausgefeilte Bühnentechnik ermöglichten Spezialeffekte wurden durch Kameratricks ersetzt. Ein großer Fan der féeries war Théophile Gautier, der als Theaterkritiker häufig über sie schrieb. Er verglich das Märchenspiel mit einem Wachtraum. Einer späteren Kritikergeneration fiel dieser Vergleich zum Film ein.

Und das Leben, was ist mit dem? Die Blumenkohlfee holt echte Babys aus den Kohlköpfen hervor. Erst eines, dann ein zweites, das dritte ist eine Puppe, die sie zurück unter die Blätter der Pflanzen legt. Das soll uns vermutlich sagen, dass das Kind noch nicht ganz fertig ist. Der Kontrast macht deutlich, dass es sich bei den anderen beiden um echte Babys handelt. Das Ganze war beliebig oft wiederholbar, weil der Film mehrmals vorgeführt werden konnte. Als Zauberkunststück ließ die Darbietung zu wünschen übrig. Aber kein Bühnenmagier hätte das Abend für Abend so machen können, weil die Fee mit lebendigen Säuglingen hantiert. La Fée aux choux ist pures Kino der Attraktionen. 1902 drehte Alice Guy eine Variation in zwei Einstellungen, in der sie die Fee und ihre Säuglinge mit Gesellschaftskritik verknüpfte. Dazu später mehr.

Noch ist die Frage offen, warum ich mich auf dem Weg zur Post als Held des Feminismus fühlte. Das verdanke ich dem Kultursommer Rheinland-Pfalz. Meinem Eindruck nach war das von mir zusammengestellte Programm zur frühen Filmgeschichte ein Erfolg. Das Publikum schien sehr angetan und erfreut über die Abwechslung, es gab angeregte Diskussionen, das Feedback war rundum positiv - bis zu dem Abend, an dem ein Lokalblatt seine Filmkritikerin schickte. Zu sehen gab es Filme von den Lumières, von Georges Méliès, von Feuillade, vom Amerikaner Edwin S. Porter und so weiter. Die Kritikerin nahm daran Anstoß, dass nichts von Alice Guy dabei war, die lange Zeit das Opfer der Vorurteile von männlichen Filmhistorikern gewesen war. Weil sehr viele der frühen Filme nur in Kopien ohne Vorspann und Titelkarten überliefert waren schrieben diese Herren ihre Werke männlichen Kollegen zu. In den Köpfen der Historiker war kein Platz für die Vorstellung, dass es unter den Pionieren der Kinematographie eine Frau gegeben haben könnte, die selbst inszenierte.

Hinter meinem eigenen Versäumnis steckte keine böse Absicht. Damals hatte ich schlicht keine Filme von Alice Guy in meiner Sammlung, die ich hätte zeigen können. Bei der strengen Reporterin fand ich mit dieser Entschuldigung keine Gnade. Es folgte ein sich im Kreise drehendes Streitgespräch, in dessen Verlauf ich zum Teil einer männlichen Verschwörung wurde, deren Ziel es ist, Alice Guy ihren legitimen Platz in der Filmgeschichte wegzunehmen. Wohlweislich verzichtete ich darauf, die Regisseurin "Mademoiselle Alice" zu nennen wie ihre Zeitgenossen, aber das nützte mir auch nichts mehr. Alice Guy war die Patronin von Frauenemanzipation und Feminismus im Film, und ich hatte sie mutwillig weggelassen.

In gewisser Weise hatte die Journalistin sogar Glück gehabt, dass Alice Guy in meiner Sammlung fehlte. Wer für die gute Sache kämpft läuft Gefahr, dass der Schuss nach hinten losgeht, weil sich die zum Vorbild erhobenen Kulturheroen (und -heroinen) nicht unbedingt so verhalten, wie man es sich wünschen würde. Alice Guy drehte auch Filme wie Les Résultats du féminisme. In dieser Satire wird ein Rollentausch vollzogen, den ein über ähnliche ästhetische Mittel verfügender Regisseurskollege mit Patriarchenhaltung nicht viel anders inszeniert hätte. Der Gesellschaft soll ein Spiegel vorgehalten werden. Doch der Regisseurin ist bei dieser Umdrehung der Verhältnisse nicht viel mehr eingefallen als Männer als verweichlichte, zu Hausarbeit und Kinderbetreuung gezwungene Schwächlinge, deren Unterdrückerinnen, die emanzipierten Frauen, als Mannweiber mit lesbischen Attributen karikiert werden. Alice Guy war da doch sehr ein Kind der Zeit, in der sie lebte. Am besten ist der Film da, wo die Frauen mit der Selbstverständlichkeit des Maskulinen als sexuelle Aggressoren auftreten und die Männer als ihre natürliche Beute betrachten. Die Satire hat da den Biss von Une femme collante. Vielleicht ließ man ihr das nur durchgehen, weil die Männer so tuntig sind.

Les Résultats du féminisme

Die Episode mit der strengen Reporterin hätte ich längst vergessen, wenn es nicht ein komisches Nachspiel gegeben hätte. Die Veranstaltungsreihe zum frühen Film machte ich zusammen mit einem Freund. Von Ort zu Ort wechselten wir uns ab. An diesem Abend hatten wir kurzfristig getauscht. Auf der Ankündigung stand der Name meines Freundes, genauso wie auf der Einladung, die an die Zeitung geschickt worden war. Ich stellte mich eingangs vor, aber die Kritikerin kam wohl zu spät, oder sie vertraute doch lieber dem gedruckten Wort. Im Lokalblatt erschien ein böser Verriss. Ich war ein Unhold, der die Frauen an den Herd verbannt und die Vergangenheit gefälscht hätte, wenn mir die Reporterin nicht in die Parade gefahren wäre. Der Chauvi, der sich dieses versuchten Verrats an der historischen Wahrheit schuldig gemacht hatte, trug in der Zeitung den Namen meines Freundes.

Das hätte mir eine Warnung sein müssen. Hochmut kommt vor dem Fall. Bald, dachte ich, würde ich 65 Filme von Alice Guy in Händen halten, auf zwei DVDs der schönen Gaumont-Box im Karteikastenformat, restauriert und mit neu eingespielter Musik (ohne die enervierende Orgelbegleitung, durch die in der Ära der VHS-Kassette Stummfilme auf Distanz gehalten wurden). Dank dieser Box, zu deren Kauf ich mich entschlossen hatte, würde ich die Versäumnisse der Vergangenheit korrigieren. Sollte ich jemals wieder über die Anfänge der Filmgeschichte referieren würde ich den Frauen den ihnen gebührenden Respekt erweisen können, mit Anschauungsmaterial aus dem Œuvre von Alice Guy. Der Feminismus würde triumphieren, und ich mit ihm. Mit diesem erhebenden Gefühl stand ich in der Postfiliale. Die Frage aber, wer wie heißt und um wen es sich da handelt, ist nicht immer so leicht zu beantworten, wie der Unkundige es sich denkt. Und der Jugendschutz kennt kein Pardon.

Wie es dann weiterging ist der Fortsetzung dieses Erfahrungsberichts zu entnehmen. In Folge 2 werden wir in Kafkas Welt eintauchen. Sie hat den Titel: "Sie konnten Ihre Identität nicht nachweisen."

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