"Leider war es heute nicht möglich, Ihnen Ihre Sendung zuzustellen"
Seite 3: 5 Euro für den Jugendschutz
Bei großen deutschen Versandhändlern ist es gängige Praxis, Importware ohne FSK-Freigabe wie DVDs mit rotem "FSK 18"-Aufdruck zu bewerten. Die FSK ist daran unschuldig. Sie prüft, wenn einer einen Antrag stellt (und dafür zahlt). Der Rest geht sie nichts an. Die Versandhändler haben ein Interesse daran, sich vor möglichem Ärger mit dem Jugendschutz zu schützen. Der Schutz der Jugend, würde ich vermuten, ist dabei eher nicht so wichtig. Zumindest hat man aus den Augen verloren, was das eigentliche Ziel war, als man sich die Regeln gab, die man jetzt befolgt. Inwieweit die Versandhändler einer Forderung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz nachkommen, des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend oder einer den Ministerien zugeordneten Behörde, ob Staatsanwälte und Polizisten es so verlangten oder ob man es mit einem Fall von vorauseilendem Gehorsam zu tun hat weiß ich nicht genau. Auf Nachfragen kriegt man unbefriedigende Antworten, in denen jeder von seinem Verantwortungsbereich spricht und von der eigenen, sehr begrenzten Zuständigkeit. So funktionieren sich selbst abdichtende Systeme. Jeder verantwortet seinen Bereich, indem er irgendwelchen Regeln folgt. Für das, was am Ende dabei herauskommt, ist man nicht zuständig. Da kann man leider gar nichts machen.
Wie absurd das Ganze geworden ist zeigt ein Blick auf die Webseite von Amazon.de. Neulich habe ich Wagon Master (1950) empfohlen, einen Western von John Ford. Wäre der Film in Deutschland je auf DVD erschienen hätte die Verpackung einen grünen Aufkleber, weil er von der FSK irgendwann - 1965, glaube ich - für Kinder ab 12 Jahren freigegeben wurde. Wagon Master ist bei uns aber nie auf DVD erschienen. Man ist auf Importware angewiesen, also ohne FSK-Freigabe. Der Film ist zwar von der FSK freigegeben, aber bei importierten DVDs zählt das nicht, weil sonst die Kinder in Gefahr geraten würden. Während ich das schreibe, bietet Amazon.de DVDs aus den USA (die würde ich nehmen, weil sie das beste Bild hat, und einen schönen Audiokommentar), Großbritannien und Frankreich an. Die britische Universal-DVD beispielsweise kann man direkt bei Amazon.de bestellen; der Versand erfolgt durch einen Partner in Großbritannien. "Achtung", steht dabei. "Dieser Titel ist nicht FSK-geprüft. Eine Lieferung an Minderjährige ist nicht möglich." Man muss 5 Euro Porto zahlen, bei der eigenhändigen Übergabe (zwingend vorgeschrieben) muss man seine Identität und Volljährigkeit nachweisen.
Wer ein verantwortungsloser Geselle ist wie ich und Unsinn nur mitmacht, wenn es unbedingt sein muss, kauft die gleiche DVD bei einem der britischen Anbieter, die unter Amazon.de Marketplace aufgelistet sind. Da zahlt man 3 Euro für das Porto und kriegt die gleiche DVD ohne den Überprüfungsmist. Amazon.de teilt dazu mit: "Eine Ausweisprüfung findet nicht statt. Amazon.de Marketplace Anbieter sind für eine den gesetzlichen Bestimmungen entsprechende Lieferung selbst verantwortlich." Soll heißen: Der Blödsinn fällt dann weg. Der Zusteller wirft die DVD in den Briefkasten und aus. Lustigerweise ist es so, dass der Amazon-Partner mit den 5 Euro für das Porto meistens auch bei den Marketplace-Anbietern gelistet ist. Man kann also dieselbe DVD beim selben Verkäufer bestellen und trotzdem aussuchen, ob man §14 JuSchG zum Sieg verhelfen will oder nicht. Wem das Wohl der Kinder am Herzen liegt: Bitte die 5-Euro-Option wählen!
Wer sich nicht zwischen Sparsamkeit und Jugendschutz entscheiden kann bestellt den Film bei Amazon.co.uk. Das ist noch immer dieselbe DVD, Alters- und Identitätsprüfungen spielen keine Rolle mehr. Manchmal kauft man bei den Briten günstiger ein, manchmal nicht. Auch ein Vergleich mit dem Angebot bei Amazon.fr ist lohnend. Man kann richtig Geld sparen und mit dem Gesparten eine weitere DVD ohne FSK-Freigabe kaufen, die von der FSK freigegeben wäre, wenn die DVD mit demselben Film auch in Deutschland erschienen wäre. Und der Jugendschutz, wo bleibt der? Die Jugendschützer freuen sich über die von Deutschland aus operierenden Händler, weil sie zu den letzten Bastionen eines in Blei gegossenen Systems gehören, das die Wirklichkeit längst überholt hat.
Strichmännchen und Camargue-Indianer
Der Händler, bei dem ich "Le cinéma premier" erwerben wollte, wies mich also darauf hin, dass ein normaler Postversand nicht möglich sei: "Dieser Artikel verfügt über keine deutsche Altersfreigabe oder ist in Deutschland ab 18 freigegeben. Es erfolgt eine Identitäts- und Altersprüfung bei Zustellung." Gut, denkt man sich. Wenn es dem Schutz der Kinder dient nimmt man diese Unannehmlichkeit gern in Kauf. Da man Unsinn lieber mitmacht, wenn er sich nicht gleich zu erkennen gibt, wäre es allerdings wünschenswert, ein wenigstens in sich schlüssiges System zu haben. Dafür wäre es erforderlich, Importware durchgängig als solche zu erfassen. Völlig unrepräsentative Stichproben meinerseits haben ergeben, dass das nur bei rund zwei Dritteln der angebotenen Artikel der Fall ist. Beim restlichen Drittel hat die Logistikabteilung übersehen, dass es sich um Importe handelt, oder was auch immer. Ich habe keine Ahnung, wie die Erfassung funktioniert und will es gar nicht wissen. Im Gegensatz zum Jugendschutz bin ich nicht an der Beachtung oder Nicht-Beachtung von Regeln interessiert, sondern an konkreten Resultaten.
Derselbe Händler, bei dem ich "Le cinéma premier" bestellt hatte, bot auch "Volume 2" an: sechs DVDs mit französischen Stummfilmen aus der Zeit zwischen 1907 und 1916. Vier der sechs DVDs sind dem Werk von Emile Cohl und Jean Durand gewidmet, die nach dem Weggang von Alice Guy die Produktpalette der Firma Gaumont maßgeblich bestimmten, zusammen mit Louis Feuillade und Léonce Perret ("Volume 1"). Wer das französische Kino mag, oder das Kino generell, sollte die Filme dieser vier Meisterregisseure aus der Frühzeit des Mediums mal gesehen haben. Ich kann diese beiden DVD-Boxen wärmstens empfehlen. Auch von "Volume 2" ist eine Auswahl in den USA erschienen ("Gaumont Treasures Vol. 2"). Besser, man besorgt sich die Karteikästen aus Frankreich. Man kriegt da mehr für weniger Geld. Weil sich die Franzosen selbst genug sind gibt es keine Übersetzung der Zwischentitel. Von wenigen Ausnahmen abgesehen braucht man aber nur sehr rudimentäre oder gar keine Französischkenntnisse, um der Handlung der einzelnen Filme folgen zu können.
Der Karikaturist Emile Cohl gehörte zur Künstlergruppe Les Incohérents, die das Bürgertum mit frechen Späßen ärgerte, die traditionellen Ausdrucksformen der Kunst überwinden wollte und trotz ihrer Kurzlebigkeit großen Einfluss auf die Avantgarde hatte. Die Vorgeschichte des Surrealismus kann man ohne die "Zusammenhanglosen" nicht erzählen. Der wahrscheinlichsten Version nach war es Feuillade, Alice Guys Nachfolger als künstlerischer Direktor, der den damals 50-jährigen Emile Cohl 1907 zur Gaumont holte. Cohls Fantasmagorie gilt heute als der erste durchgängig animierte Film der Welt. Mit Fantasmagorie erblickte Cohls Fantoche das Licht der Leinwand, ein nur auf den ersten Blick primitiv wirkendes Strichmännchen, in dem sich der Protest gegen die übermäßig verfeinerten Ausdrucksmittel einer von der Perfektion in den Manierismus gesteigerten Kunst mit der modernen Abstraktion vereinigt. "Volume 2" bietet 57 Filme des wunderbaren, Behörden, Institutionen und Würdenträgern gegenüber immer respektlosen Emile Cohl, dem man auch in Deutschland viele Zuschauer wünschen würde.
Jean Durand war Léon Gaumonts Antwort auf Mack Sennett, und zwar noch bevor dieser die Keystone Kops erfunden hatte. Von Hause aus Journalist, liebte Durand den Zirkus und das Varieté. Zur Gaumont brachte er seine eigene Artistentruppe mit, Les Pouittes, mit der er anarchische Komödien und wilde Verfolgungsjagden inszenierte. Für das weibliche Element im Chaos sorgte Durands sportive Gattin Berthe Dagmar, die auch als Raubtierdompteuse eine gute Figur machte. Die zunehmende Konkurrenz durch die Amerikaner kann man daran erkennen, dass Durand neben den Komödien auch Western drehte. Les Pouittes reiten da als Cowboys und Indianer durch die Camargue, die als Ersatz für die amerikanische Prärie herhalten musste. In Un mariage au revolver überwindet die Liebe alle Klassenschranken. Berthe als schöne Erbin weist diverse Freier ab, bis Arizona Bill den Zug überfällt, in dem sie sitzt und mit ihr fliehen kann. Ein Pastor wird mit dem Lasso eingefangen und mit vorgehaltenem Revolver dazu gezwungen, das Paar zu trauen. In Le Railway de la mort zeigt Durand, wie man durch Einfallsreichtum die fehlenden Ressourcen ausgleichen kann. Revisionistische Historiker behaupten allerdings, dass die Einfälle von seiner Gattin (und Co-Regisseurin) gekommen seien. Genaues weiß man nicht.
Fest der Phantasie
Ein Höhepunkt des Slapstick-Films vor dem Ersten Weltkrieg sind die Komödien, die Durand mit dem Akrobaten Ernest Bourbon in dessen Rolle als Onésime drehte und mit denen er sich über Konventionen aller Art lustig machte, von denen der guten Gesellschaft in Paris bis zu denen des Kinos selbst, das dabei war, auf experimentellem Wege die heute noch gültigen Erzählmuster herauszubilden. In Onésime a un duel à l’américaine ist der Held Mitglied eines vornehmen Clubs, in dem er sich mit einem anderen Herrn darüber streitet, wer als erster die Zeitung lesen darf. Der Streit soll durch ein Duell im amerikanischen Stil beigelegt werden. "Amerikanisch" heißt, dass die beiden unablässig aufeinander schießen, während der eine dem anderen hinterherläuft. Es geht los in einer ländlichen Gegend außerhalb der Stadt. Nach einer wilden Schießerei zwischen Alleebäumen führt uns das Duell zurück nach Paris, wo die unermüdlichen Duellanten für allerlei Konfusion und Zerstörung sorgen, bis sie schließlich von der Polizei in eine Zelle geworfen werden. Am Ende sitzen die beiden gemeinsam auf der Pritsche und lachen in die Kamera. Alles ist wieder gut, nachdem genug kaputtgegangen ist.
In Onésime horloger hat ein Onkel dem Helden sein Vermögen hinterlassen und testamentarisch verfügt, dass der Neffe 20 Jahre auf sein Erbe warten muss - in der Hoffnung, dass er dann nicht mehr ganz so dumm ist. In einer Abhandlung über die Uhrmacherei für den Mann von Welt entdeckt der enttäuschte Onésime, wie man eine Uhr so umbaut, dass sie so schnell läuft wie man will. Mit einem Holzhammer schleicht er sich in das zentrale Uhrenbüro, um die große elektropneumatische Uhr, nach der alle anderen Uhren gestellt werden, seinen Wünschen entsprechend zu modifizieren. Von nun an laufen die Uhren und das Leben schneller, 20 Jahre schnurren auf sieben Filmminuten zusammen. Die Passanten gehen schneller, die Autos fahren schneller, ein Einkauf ist im Nu erledigt, obwohl die Damen weiter viele Sachen anprobieren müssen. Das Familienleben ist schön doch leider kurz, weil die Zeit von der Hochzeit über das Kinderkriegen bis zum Heranwachsen des Sohnes so rasend schnell vergeht, dass der Filius schon die Eltern überragt, obwohl er immer noch die Babysachen trägt. Am Ende sitzt Onésime beim Notar, um sein Erbe in Empfang zu nehmen.
Der Film ist ein übermütiges Spiel mit den Möglichkeiten des neuen Mediums und eine Satire auf die Pariser Gesellschaft, die sich von einer Uhr das Tempo des Lebens diktieren lässt. Die Menschen um Onésime herum sind 20 Jahre älter geworden. Nur er selbst hat bei der Beschleunigung nicht mitgemacht und kann sein Erbe antreten, obwohl für ihn lediglich sieben Minuten vergangen sind. So lange dauert es, um den Film zu sehen. Ganz so dumm, wie der Onkel dachte, ist der Neffe gar nicht. Man kann es auch anders formulieren. Während die Pariser atemlos durch ihr Dasein hecheln verwandelt sich Onésime vor unseren Augen vom vermeintlichen Trottel in einen klugen Mann. Damit erfüllt sich die Hoffnung des Onkels und der Neffe steckt völlig zurecht das Geld ein, ohne durch die ihm auferlegte Wartezeit oder die Unterwerfung unter das Diktat der Uhrenzentrale 20 Jahre seines Lebens verloren zu haben wie die Welt um ihn herum. So wird aus Onésime horloger ein Fest des Nonkonformismus und der Phantasie.
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