Lindner will die "breiten Schultern der Gesellschaft" entlasten

Die Umverteilung von unten nach oben würde durch die Steuerpläne weitergehen, werfen Kritiker dem FDP-Finanzminister vor. Der sieht ganz im Gegenteil "Fairness" als Prinzip seines Vorschlages.

Der FDP-Finanzminister stellt seine Pläne für Steuerentlastungen vor. Die Bürger sollen im nächsten Jahr insgesamt zehn Milliarden weniger zahlen. Ob das angesichts der Teuerungswellen reicht? Kritiker sehen ein prinzipielles Problem.

Der Konsum geht zurück. Die deutschen Einzelhändler verzeichneten im ersten Halbjahr 2022 den stärksten Umsatzeinbruch seit 28 Jahren, hieß es Anfang August. Seit Wochen beherrschen Beiträge über die Gas-Krise und Teuerungen die Top-Nachrichten. Es stehe ein "heißer Herbst" und "Wutwinter" vor der Tür, der den sozialen Frieden in Deutschland auf die Probe stellt, lauten viele Prognosen.

Jetzt, in der Sommerpause, schlägt die Stunde von Christian Lindner, dem FDP-Chef und amtierenden Finanzminister, der durch seine VIP-Hochzeit auf Sylt und seiner flapsigen Bemerkung zur Gratis-Mentalität einen abgehobenen, elitären Eindruck auf die Öffentlichkeit machte. Dazu kommt, dass sich manche FDP-Wähler wie auch FDP-Abgeordnete Unzufriedenheit und Kritik über die von Justizminister Buschmann und Gesundheitsminister Lauterbach ausgehandelten Corona-Maßnahmen äußerten.

Für die "Stabilität unseres Landes"

So kommt die Ankündigung des Entlastungspakets des Finanzministers zur rechten Zeit. 48 Millionen Bürgerinnen und Bürger soll es über den Ausgleich der "kalten Progression" zu mehr Kaufkraft verhelfen. Lindner will die "breiten Schultern", die für die "Stabilität unseres Landes" bedeutend sind, Fairness zuteilwerden lassen, wie er in der FAZ erklärt.

In Zeiten der Inflation werden aber selbst steigende Bruttolöhne von steigenden Preisen absorbiert. Es erhöht sich für die Menschen ihr Steuersatz, obwohl ihre Kaufkraft stagniert oder schwindet. Aus der beabsichtigten Progression wird somit die "kalte" Progression. Profiteur ist der Fiskus. Sollte sich der Staat aber auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger bereichern? Nein, wir sollten diese demokratisch nicht legitimierten Einnahmen zurückgeben.

Christian Lindner

Bereits der erste Satz gibt ein Credo wider: das Prinzip der Leistungsfähigkeit, auf das, so Lindner, das Steuersystem beruhe. Faktisch läuft das für den Finanzminister darauf hinaus, dass man von den "breiten Schultern", fiskalisch nicht noch mehr verlangen soll.

Jedenfalls bleibt ab einem Einkommen von 61.972 Euro, ab dem der Spitzensteuersatz zu zahlen ist, die Entlastung in absoluten Beträgen konstant. Das sind natürlich gute Gehälter. Aber selbst der Spitzensteuersatz betrifft eben nicht Spitzeneinkommen, sondern bereits die Mitte unserer Gesellschaft. Wer hier Mehrbelastungen akzeptiert oder gar einfordert, der verkennt die Bedeutung dieser breiten Schultern für die Stabilität unseres Landes.

Das Steuersystem ist Ausdruck der Gerechtigkeitsvorstellung unserer Gesellschaft. Es hat eine vermittelnde Funktion. Zwischen jenen, die Formen der Umverteilung und Solidarität empfangen. Und zwischen den anderen, die die Ergebnisse ihrer Schaffenskraft zu teilen haben. Ein an nachhaltiger Fairness orientierter Staat darf sich nicht exklusiv auf eine Seite schlagen.

Christian Lindner

Elitäre Statements

Was Lindner hier mit der Formulierung "nicht exklusiv auf eine Seite schlagen" andeutet, wird in einem FAZ-Kommentar mit einer Überschrift, die das Leitmotiv der "Gratismentalität" arrogant aus dem Ledersessel bespielt ("Auch das Geld kommt bald aus der Steckdose"), genauer erläutert: zu viel Unterstützung für die ärmeren Schichten, zu viel Umverteilung, die den Staat überfordert:

An einer Entlastung führt kein Weg vorbei. SPD und Grüne werden dabei aber nicht bevorzugt Bezieher der Grundsicherung im Auge haben dürfen. Die sind über Zuschüsse für Wohnung und Heizkosten besser abgesichert als die Leute, die in Lohn und Brot stehen, damit aber schon in normalen Zeiten kaum über die Runden kommen.

Jasper von Altenbockum

Und die Ränder?

Lindners Zielgruppe ist die arbeitende Mitte, wie das hier kürzlich im Vorgriff auf die Pläne des Finanzministers mit einem Blick auf die Ränder dargestellt wurde: Christian Lindner auf der Suche: Wer ist die "arbeitende Mitte"?.

Die Steuersenkungen, die Lindner vorschlägt, sehen vor, wie es die SZ zusammenfasst, dass die Tarifwerte bei der Einkommenssteuer nach oben geschoben werden.

Der jeweilige Steuersatz greift also erst ab einem höheren Einkommenswert. Ab einem Jahreseinkommen von etwa 60.000 Euro sollen die Steuersätze nicht mehr an die Inflation angepasst werden. Damit solle die breite Mitte der Gesellschaft entlasten werden. Er habe bewusst darauf verzichtet, den Eckwert der Reichensteuer zu verschieben, sagte Lindner.

Neben Senkungen bei der Einkommenssteuer sollen das Kindergeld und der Kinderfreibetrag erhöht werden. Zugleich sieht Lindner in seinem Entwurf eine Erhöhung des Grundfreibetrags vor, also des Einkommens, bis zu dem keine Steuer gezahlt werden muss. Der Finanzminister will diese Grenze von derzeit 10.347 Euro auf 10.632 Euro im kommenden und 10.932 Euro im Jahr 2024 anheben.

SZ

Laut Lindner profitieren von den neuen Grenzwerten "Arbeitnehmerinnen und Geringverdiener, Rentnerinnen und Selbständige, Studierende mit steuerpflichtigen Nebenjobs und vor allem Familien".

Das sehen Kritiker nicht ganz so plakativ. So hält dem Finanzminister etwa der Fraktionsvize des Koalitionspartners und politischen Rivalen der FDP, Andreas Audretsch von den Grünen vor, dass sein Vorschlag, Topverdiener dreimal stärker begünstige als Menschen mit kleinen Einkommen. "Das ist einer so schwierigen Lage nicht angemessen. Wir brauchen das Gegenteil: #Entlastung von Menschen mit wenig Geld, mit kleinen u. mittleren #Einkommen."

Die Rechnungsbasis dazu hat Audretsch dem Handelsblatt unterbreitet. Wie aus dem Bericht der Finanzzeitung hervorgeht, "sollen Steuerzahler mit einem Einkommen von 25.000 Euro im Jahr um 213 Euro entlastet werden. Bei einem Einkommen von 60.000 Euro sind demnach Entlastungen von 486 Euro geplant, bei Einkommen von 100.000 Euro im Jahr wären es 672 Euro. Prozentual fällt die Entlastungen bei niedrigen Einkommen größer aus als bei hohen - in absoluten Zahlen jedoch nicht".

Fragt sich, ob die hier erwähnten Summen überhaupt reichen, um den Teuerungswellen, die weiter auf die Bevölkerung zurollen, ernsthaft zu begegnen?

Der Kritiker der Stunde

Als Kritiker der Stunde des Regierungspolitikers der Stunde erweist sich wieder einmal der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Die Pläne von Bundesfinanzminister Christian Lindner für neue Steuerentlastungen hätten einen "völlig falschen Ansatz mit einmal mehr beachtlicher sozialer Schieflage".

Zwar sei zum Beispiel die Kindergelderhöhung ein "an sich gutes Signal", aber "absolut unzureichend". Die Anhebung des Kindergeldes um acht Euro gleiche noch nicht einmal die aktuelle Inflation aus, so Schneider: "Wer Familien wirklich entlasten will, kann nicht mit Kleckerbeträgen hantieren."

Die Inflation habe verheerende Folgen für arme Haushalte, so Schneiders prinzipielle Kritik am Lindnerschen Entlastungsoeuvre. Es würden völlig falsche Prioritäten gesetzt. Von einem höheren Grundfreibetrag würden Reiche deutlich stärker als Niedrigeinkommensbezieher profitieren. Die Umsetzung dieser Steuerpläne würde "die ohnehin eklatante Einkommensungleichheit in Deutschland sogar noch vergrößern".