Lob des Streiks: Warum Fahrgäste gut überlegen sollten, ob sie auf die GDL schimpfen
Der Bahn-Vorstand schaltet auf stur. Massenmedien schäumen über den Arbeitskampf der Lokführer. Wer als Fahrgast mit einstimmt, übersieht etwas. Ein Kommentar.
Igitt, ein Streik mit spürbaren Auswirkungen. Können diese Lokführer nicht einfach "Bitte" sagen und es gut sein lassen, wenn diese Herangehensweise nicht fruchtet? - Stattdessen führen sie einen Arbeitskampf, wie er im Buche steht: Züge fallen aus; der 20-stündige Warnstreik wird tatsächlich bemerkt und die Springer-Boulevardpresse schäumt.
"Nur noch unverschämt", meint dennoch die Bild - und sekundiert damit Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht bei der Deutschen Bahn, der betont, dieser Ausstand sei eine "blanke Zumutung für unsere Fahrgäste".
Ist er das? – Ich bin Fahrgast und wollte heute am späten Nachmittag los; ab 18 Uhr ginge es theoretisch wieder, aber so kurz nach dem Streik dürfte es erfahrungsgemäß noch chaotisch zugehen, also habe ich die Reise um einen Tag verschoben.
Auf Opferanwälte vom Bahn-Vorstand und der Bild verzichte ich gern – und auf Lokführer mit Burnout-Symptomen erst recht. Im Kern geht es nämlich um Arbeitszeitverkürzung.
Warum elf Prozent nur auf den ersten Blick viel sind
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) will für Schichtarbeiter eine 35-Stunden-Woche durchsetzen – drei Stunden weniger als bisher, ohne Lohnkürzung. Beschäftigte sollen jeweils mindestens 555 Euro mehr pro Monat bekommen; und eine einmalige steuerfreie Inflationsprämie von 3.000 Euro.
Dass die Deutsche Bahn schon ein Lohn-Plus von elf Prozent angeboten hat, hört sich viel an – aber angesichts einer Inflationsrate von 7,9 Prozent im letzten Jahr und voraussichtlich 6,1 Prozent in diesem Jahr ist es das nicht.
Und die 35-Stunden-Woche ist gerade bei Schichtarbeit überfällig. Besonders in Berufsgruppen, die Verantwortung für Menschenleben tragen. Aber auch die Forderung der IG-Metall nach einer Vier-Tage-Woche ist unbedingt zu begrüßen. 81 Prozent der Beschäftigten sind dafür.
Dass momentan Fachkräfte fehlen, weil der richtige Zeitpunkt verpasst wurde, um eine Ausbildungsoffensive zu starten und die Berufe, in denen Mangel herrscht, attraktiver zu machen, steht auf einem anderen Blatt.
Wenn sich vorhandene Fachkräfte wie Zitronen auspressen lassen, ohne zu murren, wird das Problem weiter vertagt werden, vielleicht in der Hoffnung, dass Fachkräfte aus aller Welt sich nichts Schöneres vorstellen können, als in diesem Land den Rücken krumm zu machen.
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Eine schnelle und einfache Lösung für das Personalproblem der Bahn ist vielleicht noch nicht in Sicht, aber es muss auch ernst genommen werden, wenn aktive Lokführer sich nicht vorstellen können, eine 38-Stunden-Woche im Schichtdienst bis zum regulären Renteneintrittsalter durchzuhalten.
Stattdessen das Streikrecht zu skandalisieren, ist billiger Populismus, der sich in Wahrheit gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung richtet – nicht nur gegen die einer Berufsgruppe.
Autonomes Fahren ist theoretisch möglich – aber diese Vorstellung erfreute sich bisher bei der Bahn-Kundschaft keiner besonderen Beliebtheit. Schon angesichts des GDL-Streiks 2014 wurde darüber diskutiert.
Die Fahrgäste wollen auf U-Bahnfahrer oder Lokomotivführer nicht verzichten. Ein Mensch, der steuern und im Notfall eingreifen kann, ganz gleich wie effektiv das jeweils ist, suggeriert Sicherheit.
Die Welt, 8. November 2014
Daran dürfte sich angesichts weltweit zunehmender Cyber-Attacken und der Verletzlichkeit kritischer Infrastruktur wenig geändert haben.
Deutschland liebt den ehrlichen Arbeiter – wenn er anspruchslos ist
Insgesamt wird durch zunehmende Produktivkraftentwicklung und Digitalisierung der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft sinken – und das wäre nicht zwangsläufig schlecht, wenn Wirtschaft und Arbeitswelt unter demokratischer Kontrolle gestellt würden. Eine "Normalarbeitszeit" von 20 Wochenstunden wäre dann durchaus denkbar. Alle könnten eine gute "Work-Life-Balance" haben.
Stattdessen soll ein Teil der Bevölkerung weiterhin 38 bis 40 Stunden arbeiten – und der Rest soll sich für seine Existenz entschuldigen?
Fest steht: Deutschland liebt den ehrlichen Arbeiter – solange er pflegeleicht und dankbar ist, überhaupt für Geld arbeiten zu dürfen. Seine Motivation soll erhalten bleiben, indem es anderen schlechter geht. Erwerbslose sollen darben, damit Beschäftigte für wenig Geld alles geben, statt sich beim Anblick ihres Rentenbescheids zu fragen, wozu sie sich das eigentlich antun.
Das jedenfalls ist der Tenor von bürgerlichen Politikern und Medien, wenn es um das Bürgergeld geht: Unternehmer jammern, dass Mitarbeiter bei ihnen kündigen, um von 502 Euro im Monat plus Wohngeld zu leben.
Welches schäbige Licht das auf ihre Firmen und sie selbst als Arbeitgeber wirft, scheint ihnen egal zu sein. Der Unternehmer Thomas Conrady gibt es öffentlich zu und fordert eine "Pflicht zur Arbeit".
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) betonte diese Woche in der ARD-Talkshow "Hart aber fair", dass solche Kündigungen heute schon sanktionsbewehrt sind: "Jemand, der so bescheuert ist, wegen des Bürgergeldes zu kündigen, der bekommt erstmal kein Bürgergeld, der kriegt erst einmal eine Sperre beim Arbeitslosengeld."
Subtext: Wir sind ja gar nicht so sozialromantisch, wir versuchen es ja schon mit ein bisschen Zwang, aber ganz so wie beim Reichsarbeitsdienst können wir es auch nicht machen.
Vor diesem Hintergrund ist das selbstbewusste Auftreten einer kämpferischen Gewerkschaft jedenfalls erfrischend.