LoveBytes bite the dust

Multimedia-Hochglanz ohne Substanz im englischen Stahlrevier

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Zweieinhalb Regionalzugstunden nördlich von London liegt Sheffield, ein kleines Städtchen, umgeben von idyllischen Schafweiden (die von den Aprilunwettern noch halb unter Wasser stehen), und geprägt von imposanten Industriebauten aus Ziegelstein, die größtenteils leerstehen. Die ehemalige 'Hauptstadt der Stahlerzeugung' sucht nach einem neuen Selbstbild, doch das Medienkunstfestival LoveBytes zeigte sich eher substanzlos als neue Wege auf.

Rauminstallation "Redundant Array" von Redundant Technology Institute

Sheffield post Full Monty

Seit dem Kassenerfolg des in Sheffield gedrehten Films 'The Full Monty', in welchem ein paar arbeitslose Männer ihre Hoffnungslosigkeit zusammen mit ihrer Scham überwinden und eine finanziell erfolgreiche Stripshow starten, spricht man nur mehr von 'aFM Sheffield' (ante -Full-Monty) oder 'pFM Sheffield', (post-Full-Monty) - das Sheffield mit dem neuen mediengerechten Selbstbewußtsein.

Zu pFM Sheffield gehört auch Meadowhall, das kürzlich eröffnete, größte Shoppingcenter Englands. In den Sportnachrichten rückte die Stadt als Gastgeber der World Snooker Championships für einige Aprilwochen ins Rampenlicht. Das National Pop Music Museum, ein Bau in Form silbriger Pirellis, ist neben dem Bahnhof im Entstehungsprozeß.

Und letztendlich sollen der zum 5. Mal stattfindende ‚Digital Art Festival Lovebytes ' (gefördert u.a. durch den Europäischen Regional Development Fund), aber auch die parallel stattfindenden Events 'Photo98' und 'Test 1 Electronic Music Festival' Sheffield zum neuen Image eines Kreativzentrums im Bereich IT/Medien verhelfen.

HyperTribe: Theorie versus Praxis

Detail aus Foto von Redundant Technology Initiative

Lovebytes, dieses Jahr unter dem Motto 'HyperTribe' abgehalten, bestand aus mehreren kleinen Multimedia- Ausstellungen, einer dreitägigen Konferenz, und sechs Auftragsarbeiten, Medienkunst für den öffentlichen Raum. Diese sollen - wie das Motto suggeriert - den 'Begriff des Kollektivs' untersuchen.

Doch leigter zeigte Lovebytes die Tendenz, Themen wie in Form eines Hochglanzprospektes darzustellen, ohne sie tatsächlich zu behandeln.

Das beginnt schon mit der Web-Site, die unter dem unglücklichen Einfall leidet, sämtliche Textblöcke in Form eingescannter Riesenbilder anzubieten. Die Ignoranz gegenüber medienspezifischen Gestaltungsregeln erstaunt bei einem der digitalen Kunst gewidmeten Festival wie Lovebytes.

Von den Arbeiten, die Lovebytes in Auftrag gegeben hatte, und die - weil sie Projektionen mehr oder weniger interaktiver Natur verwendeten - ab Einbruch der Finsternis beschaubar waren, kam ‚Vanishing Points of View' der selbstgestellten Aufgabe der Lovebytes Veranstalter, "die Fusion von populärer Kultur und Ästhetik zu promoten", noch am meisten entgegen.

Mike Lawson-Smith projizierte Fotoporträits von Sheffielder Fußballfans 'larger-than-life'auf Leinwände, und verlieh ihnen, die üblicher Weise als Masse nur mediales Hintergrundgeräusch abgeben, für die Dauer der Ausstellung individuellen Ruhm. Lawson-Smith sieht seine Installation als zeitgenössischere Variante der obsolet gewordenen Monumentalskulpturen.

Mit dem Projekt 'Hyperphilately' möchte Simon Poulter die Zukunft der Briefmarke im elektronischen Zeitalter untersuchen. Er wählte eine Reihe von Motiven aus, wie z.B. Leika - der erste Hund im Weltall, sich zankende Omis, "700-Jahre-Tischbesteck-aus-Sheffield", oder William Bouroughs. Dies und anderes findet man auf den 'mit freundlicher Genehmigung der Post' gefälschten Briefmarkenbögen, die auch online als ‚erste virtuelle Briefmarkensammlung' in Form von bunten und beweglichen Shockwaves abrufbar sind.

Auch die Auftragsarbeiten 'Flocked' (Schafe starren einem unter Einsatz von Projektion und Spiegelungseffekten aus einem Einkaufsfenster entgegen), 'Provincially Provisionally' (Schriftinstallation alla Jenny Holzer am Rathaussims), 'Remote Systems' (eine interaktive Klanginstallation zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen Raum, Midi und Audio) und 'Stone Troopers' (Gesichter von Passanten werden aufgenommen und auf die steinernen Götterreliefs an einer Häuserfassade projiziiert) strotzen weder von gewitztem Umgang mit dem Material Technologie, noch überzeugen sie davon, daß die Künstler von der Dringlichkeit ihrer gewählten Themen besessen waren. Obwohl die Arbeiten spezifisch für den öffentlichen Raum produziert wurden, fehlt ihnen das involvierende Moment. Niemand fühlt sich berührt.

Cybercircus: Corporations und geplante Subversion

Maschinen aller Altersstufen finden sich in der Sammlung der Redundant Technology Initiative

Zeitgemäss Kritisches kündete das Programm der Konferenz an. Ein Panel unter dem Titel 'The Corporate Aesthetics and Commercial Tactics' versprach das Verhältnis zwischen Künstlern und der kommerziellen Umgebung, in der sie arbeiten, zu untersuchen. Die Vortragenden repräsentierten unterschiedliche Modelle - das des Künstlers, der sich mit einer Corporate Identity als 'Kunstgriff' ausstattet, bis zum 'kreativen' Computerdesigner, der eine Firma gründete. Im Laufe der Präsentationen stellte sich aber heraus, daß die Positionen wohl zu weit voneinander entfernt waren, so daß die Diskussion über dieses zweifelsohne existierende Spannungsfeld und dessen fruchtbaren oder hinderlichen Auswirkungen auf Kunstproduktion nie richtig ins Rollen kam.

Heath Bunting, Betreiber des IP irational, repräsentierte das eine Ende der Skala. Sein Standpunkt, daß Kunst bereits völlig von Wirtschaft vereinnahmt wurde und daher redundant ist, habe ihn davon abgebracht, weiter als Künstler tätig zu sein. Es gelte nun, zu unterwandern, und dafür Gelder zu besorgen. Er wolle reiche Scheichs dafür gewinnen, Gelder für Subversion lockerzumachen...

Buntings die Improvisation kultivierende Präsentation wurde dann von ShoeVegas, einer Computerdesign-Agentur aus dem hippen Londoner Viertel Shoreditch, kontrastiert, die den Anlaß nützten, ihre Millenium Dome Auftragsprodukte zu bewerben.

Pauline Mourik van Broekman, Herausgeberin des Technologie&Kultur-Magazins 'Mute', zeigte in ihrer Präsentation ihre eigenen frühen Arbeiten als Künstlerin, die ihr ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr als geeignetes Ausdrucksmittel ihrer Anliegen dienten, so daß sie zur Zeitschriftenherausgeberin wurde. In Mute versucht sie nun die Kluft zwischen ihren Positionen und pragmatischen Konzessionen möglichst gering zu halten: So beschloß das Herausgeber-Team zum Beispiel vor kurzem, dem Druck von Vertreibern nachzugeben und das Format des Heftes zu ändern. (Die neue Mute Homepage "Happy Valley")

Beim Panel 'The Random Element - Interactive Audio and Participation' erfuhr man über mehr oder wenige kommerzielle Entwicklungen und Anwendungen interaktiven Sounds. Über den Status Quo selbstgenerierender Sounds berichteten Tim Cole, der die SSEYO Koan Softwares demonstrierte, und die Künstlergruppe Greyworld, die zur Zeit unter Verwendung von Koan an einer Soundinstallation für das Greenwich-Tunnel arbeitet.

AudioRom demonstrierte seine kürzlich auf CD ROM erschienenen visuellen Sound-Interfaces, die das Zufallsmoment im Komponiervorgang in den Vordergrund stellen .

Andi Freeman, unter anderem bei der Londoner Organisation ARTEC als Programmierer tätig, präsentierte das Tool Earshot: Earshot ist eine Art Webcrawler, der Audiodateien im Netz sucht. Je nach Konfiguration rekomponiert der user oder das Tool automatisch die Sounds, die dann wieder gesendet werden können.

Beide Panels fanden vor einem Publikum statt, das hauptsächlich aus den bekannten Gesichtern der Teilnehmer bestand. Und das obwohl es in Sheffield von Fans elektronischer Musik wimmelte, die zum Test 1 Festival gekommen waren, das sich schon im Titel an die legendäre erste Aufnahme der aus Sheffield stammenden Industrial und New Wave Band Cabaret Voltaire anlehnte und von Zoviet France über Toc Rococo oder FarmersManual ein Monsteraufgebot an alten wie neuen Kreativ-Elektronik-Digitalmusikern auf die Beine gestellt hatte.

Doch drang einerseits die Information über das Lovebytes-Programm kaum zum Test 1 Publikum vor, andererseits lastete das Konzertevent die Musikfreunde so völlig aus, daß der Konferenz potentielle Besucher entgingen.

Das Panel 'Cybercircus', kuratiert von Heath Bunting, war als ein Forum subversiver Projekte angekündigt: ‚Aktivitäten aus den Bereichen Sabotage, Inkrimination, Provokation, Viruse, Einschüchterung, Aufstand, Pornographie, Spamming, Junk Mail, Streiche, Fälschungen, Jamming werden präsentiert.'

Doch das Publikum war im Saal noch dünner gesät als zuvor, Samstags um halb elf wohl noch den Frühstückskaffee genießend.

Das Rezept, kulturelle Delikatessen für die Aufwertung eines 'Standortes' für Betriebsansiedlungen zu bemühen, stößt bei mir nicht auf prinzipielle Ablehnung, wenn ich jedoch Zeuge einer dreitägigen Lovebytes-Konferenz werde, deren Publikum größenteils aus Festival-Teilnehmern besteht, kommen bei mir Zweifel auf, ob die Bemühungen der Veranstalter Jon Harrison und Jannet Jennings richtig kanalisiert waren.

Die unbesungenen Helden der Computerkunst

Ansicht der Rauminstallation von Redundant Technology Initiative

Neben Lovebytes beschäftigt sich in Sheffield die Redundant Technology Initiative mit dem Thema Computer& Kunst. In einem Lagerhaus gegenüber des Konferenzgebäudes stellten Paul Matosic und James Wallbank von der RTI hunderte Computer aus, die sie von Müllhalden eingesammelt oder von ausmistenden Büros entgegengenommen hatten. RTI agiert als Sammelstelle scheinbar redundanter Computer, die ansonsten verschrottet würden, führt sie Künstlern zu, die damit arbeiten, und verweist dadurch auf den Sog des Computeraufrüstens, in den die Gesellschaft geraten ist.

Das Lagerhaus, das seit Monaten RTI als Austellungsort, Arbeitsstudio, Sammelstelle diente, wurde von der Stadtverwaltung ebenfalls als obsolet abgestempelt und soll im Mai abgerissen werden. RTI passt nicht so richtig in das Bild bunt flackernder Multimediakultur, die Sheffield als fortschrittsgläubigen Standort plausibel machen soll.

Und im Hinterzimmmer der RTI Lagerhauses sitzt Lowtech-Freak Tony Goddard, der nicht im Lovebyte Programm Eingang gefunden hatte. ASCII Grafiken scrollen über die Monitore der 486er, arabische und chinesische Schriftzeichen bauen sich auf und zerstauben wieder. Auf seinem Hand Out kann man lesen:

'Convert foreign text to UK ASCII. Produce multiple accounts for the state, your investors and yourself. Drop the pennies for the taxman, but keep track of the discrepancy, all from plaintext source documents. Exotic Oriental Data Message techniques will amaze your accountants and customers. Previously these techniques have been used by EXTEL and REUTERS as part of Global Risk Management Technique. You need a personal Data Trawler to add the list of all the people who may be in your Global Livingroom. Once you find them, you can send them mail in Chinese, Arabic, or even in Urdu. ' Tony Goddard

Die Kunst, die Tony Goddard beherrscht, ist, aus wenig viel zu machen. Seine ASCII-Animationen und Konvertierungsprogramme waren die gut gehütete, geheime Überraschung am Rande des hochpolierten Festivals.

Noch mehr RTI Bilder von alten Computern.

Lovebytes