Lukaschenko: Putins widerspenstiger Vasall

Lukaschenko und Kosmonautinnen Vasilevskaya, Lenkova. Bild: president.gov.by

Belarus' Machthaber ist eng an Moskau gebunden. Doch Alexander Lukaschenko geht immer wieder auf Distanz zum Kreml. Was steckt hinter seinem Eigensinn?

Seit der gewaltsamen Niederschlagung oppositioneller Proteste im Jahr 2020 ist Alexander Lukaschenko der unangefochtene Führer des politischen Systems in Belarus. Mehr noch, wie es der regierungskritische belarussische Politologe Walerij Karbalewitsch in einer Analyse ausdrückt: Er ist die zentrale Stütze und zugleich "die einzige wirklich funktionierende staatliche Institution" in Belarus. Der Staat ist in seiner Hand.

Um seine Macht außenpolitisch zu festigen, setzte Lukaschenko jahrelang auf eine Schaukelpolitik zwischen der EU und Russland. Damit war es ab Anfang der 2020er-Jahre vorbei – durch die Repressionen gegen die eigene Opposition und in Folge des russischen Einmarsches in die Ukraine, der auch von belarussischem Territorium ausging, wurde Lukaschenko im Westen zur Unperson. So musste er sich zwangsläufig ganz auf seine Verbindungen nach Moskau verlassen, um an der Macht zu bleiben.

Lukaschenko gab Eigensinn nie auf

Das hinderte den 70-jährigen Machthaber jedoch nicht daran, im verbliebenen engeren Rahmen einen eigenständigen Kurs gegenüber Moskau zu verfolgen. So trat er 2023 ohne vorherige Absprache als Vermittler zwischen dem Kreml und dem aufständischen Söldnerführer Jewgeni Prigoschin auf. Das war an sich schon eine Provokation gegen den mächtigen Verbündeten, die dieser aber nach der erfolgreichen Niederschlagung des Söldneraufstandes stillschweigend hinnahm.

Auch bei einem weitaus wichtigeren und immer noch aktuellen Thema ist Lukaschenko nicht wirklich auf Kreml-Kurs: bei der andauernden Fortsetzung des Ukraine-Krieges, der sich aus der russischen Invasion von 2022 entwickelt hat und in wenigen Monaten in sein viertes Jahr gehen wird.

Belarus wird zwar immer wieder als Verbündeter Russlands bezeichnet, leistet auch logistische Unterstützung, ist aber sehr bemüht, sich aus jeder direkten Beteiligung an diesem Feldzug herauszuhalten. Hier hat Lukaschenko ausnahmsweise wirklich die Unterstützung seines Volkes, jenseits der Spaltung in zufriedene und unzufriedene Untertanen.

Nur 36 Prozent der Weißrussen befürworten nach einer Umfrage des Chatham House den russischen Feldzug überhaupt und ganze zwei Prozent wären für eine Beteiligung der weißrussischen Armee auf russischer Seite.

So war es für Insider keine Überraschung, als Lukaschenko Ende Oktober auf einer Sicherheitskonferenz in Minsk ein "Unentschieden" im Ukraine-Krieg vorschlug. So nannte er in der Sportsprache einen Waffenstillstand auf Basis des Status quo, der bis in westliche Medien hohe Wellen schlug. Dass er damit wieder einmal von den Wünschen des Kremls abwich, zeigte die prompte Reaktion des russischen Außenministers Lawrow auf derselben Konferenz, der einen Kompromiss als inakzeptabel bezeichnete.

Kommt der Appetit beim Essen?

Der belarussische Journalist und Politikexperte Artjom Schrajbman glaubt, dass hinter solchen Äußerungen Lukaschenkos ein echter Friedenswille steckt. Dieser habe Angst, dass der Kreml in der Ukraine Appetit auf neue Eroberungen bekomme, "möglicherweise in Richtung Belarus".

Der Appetit könnte sozusagen beim Essen kommen, so seine nicht unumstrittene Meinung. Denn ein zu enger Zusammenschluss der auf dem Papier längst existierenden russisch-weißrussischen Union lag nicht nur nie in Lukaschenkos Interesse. Er hat es auch geschafft, ein tatsächliches Zusammenwachsen jahrzehntelang zu blockieren, obwohl die russische Propaganda stets die Einheit der beiden Völker betonte.

Keine belarussischen Truppen

Schrajbman stellt in einer Analyse für das exilrussische Medienportal Medusa fest, dass es auffällig sei, dass Lukaschenko im Gegensatz zu einem Kim Jong-un eben keine belarussischen Truppen an die Front schicke und sieht den Status der Belarussen als "widerwillige Verbündete" Moskaus. Lukaschenko sei mit seiner erzwungenen Rolle als Vasall nicht zufrieden.

Die Begnadigung von 2020 inhaftierten Oppositionellen sei als Signal an den Westen zu verstehen, seine Appelle zur Beendigung des Krieges ähnelten eher denen des Globalen Südens wie China, Brasilien oder der Türkei als denen Russlands.

Gerade den Wahlsieg von Donald Trump sehe Lukaschenko nun als Chance für einen Frieden, der von seinen eigenen Vorstellungen gar nicht so weit entfernt sei, so Schrajbman. Lukaschenko sei bereit, in jedem Friedensprozess eine aktive Rolle zu spielen. Vor allem bei echten Friedensverhandlungen stünden seine Chancen nicht schlecht.

Diese scheinbar allzu gewagte Wette könnte tatsächlich aufgehen, wenn die Verhandlungen über einen einfachen Waffenstillstand hinausgehen. Moskau könnte eine zusätzliche und absolut loyale Stimme am Verhandlungstisch gebrauchen (...) Es ist unwahrscheinlich, dass dann jemand den ganzen Prozess torpedieren wird, um Moskau in einer so unwichtigen Frage nicht nachzugeben.

Artjom Schraibman in Meduza, 23.11.2024

Die belarussische Journalistin Olga Loiko sieht noch weitere Gründe für Lukaschenkos Friedfertigkeit. Zwischen Belarus und der Ukraine gäbe es seit Kriegsausbruch umfangreiche Wirtschaftsbeziehungen im Bereich der Schattenwirtschaft, auch wenn es keine offiziellen Wirtschaftskontakte mehr gebe.

Die Belarussen wollten nicht durch eine Kette von Missverständnissen in den laufenden Krieg hineingezogen werden. Deshalb, so Loiko, verkünde Lukaschenko nun ständig, Russland habe seine Kriegsziele bereits erreicht. Auch Schrajbmans Kollege Kabalewitsch traut Lukaschenko eine aktive Rolle bei künftigen Friedensverhandlungen zu.

Potenzieller Partner des Südens

Patriotische Kreise in Russland wie das Nachrichtenportal Sona Osobogo Wnimanija mit 150.000 Abonnenten wittern bereits weißrussischen Verrat an der eigenen Sache und sehen hinter Lukaschenkos Kurs das Eindringen Chinas "tiefer in unsere geographische Sicherheitszone". Das Portal verweist darauf, dass Lukaschenko seinen Sohn zum Studium nach Peking geschickt habe und China als Garant für seinen persönlichen Machterhalt betrachte.

Tatsächlich glauben die unterschiedlichsten Beobachter, von liberalen Kritikern des weißrussischen Machtsystems bis zu russischen Ultrapatrioten, dass Lukaschenkos eigene Wünsche in Bezug auf den Ukraine-Krieg denen Beijings deutlich näher stehen als denen Moskaus. Er will ein schnelles Ende der Kampfhandlungen.

China und andere Brics-Staaten werden immer wieder als mögliche Vermittler für einen Frieden in der Ukraine ins Spiel gebracht, den sich mittlerweile sowohl eine Mehrheit des russischen Volkes als auch der ukrainischen Bevölkerung wünscht.

Derweil wird er von der Politik in Russland, der Ukraine und dem hinter Kiew stehenden Westen blockiert. Wenn es darum geht, diese Fronten aufzubrechen, ist der weißrussische Diktator sofort mit von der Partie. Auch um seine eigene Herrschaft zu sichern.