Lula oder Chávez?

Venezuela und Brasilien kämpfen um die regionale Führungsrolle in Südamerika

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Venezuela oder Brasilien? Das Ringen um die Führung in Lateinamerika ist in vollem Gange. Während die drei Regierungen in Brasilia bei der Neuaufteilung der geo- und regionalpolischen Verhältnisse nach 1989 zu lange auf die natürliche Größe ihres Landes gesetzt haben, knüpfte Venezuela in den vergangen Jahren eine Allianz nach der anderen: den Handelsvertrag der Völker, Petrosur, Petrocaribe, die Bolivarische Alternative für Amerika. Der stille Streit um die Vormacht hat nun auch das Interesse Washingtons geweckt. Wenig verdeckt versucht Präsident George W. Bush, einen Keil in die lateinamerikanische Gemeinschaft zu treiben, indem er um die Gunst Brasilias buhlt.

Erste Konsequenzen dieser Politik wurden zuletzt auf dem südamerikanischen Energiegipfel deutlich, der Mitte April auf der venezolanischen Karibikinsel Margarita stattfand. Das Treffen war überschattet von einem Disput um die Förderung des Biotreibstoffes Äthanol. Dahinter standen indirekt die USA. Denn kurz vor dem Strategietreffen südamerikanischer Staaten hatte Washington Brasilien, dem weltweit größten Produzenten von Biosprit, eine enge Zusammenarbeit in der noch jungen Branche angeboten (Biosprit und die Angst vor steigenden Bierpreisen).

Hugo Chávez und Luiz Inacio Lula da Silva auf dem Energiegipfel. Foto: minci.gov.ve

In Lateinamerika stieß der demonstrative Schulterschluss des brasilianischen Staatschef Luiz Inácio "Lula" da Silva mit seinem US-Kollegen George W. Bush jedoch auf Ablehnung. Kurz vor der US-Reise da Silvas hatten hier noch Hunderttausende gegen den US-Staatschef demonstriert, als dieser durch die Region tourte.

Strategie gegen Ölmacht

Die Äthanol-Frage schwebt wie ein Damoklesschwert über der lateinamerikanischen Gemeinschaft, weil sie eng mit sicherheitspolitischen Strategien verbunden ist, die weit über die geografischen und politischen Grenzen der Region hinausreichen. Der brasilianische Riese - Brasilien stellt rund die Hälfte des südamerikanischen Territoriums, der Bevölkerung und des Bruttoinlandsproduktes der Region - ist neben der eigenen Produktion bislang maßgeblich auf Erdöl- und Erdgas-Importe aus Nachbarstaaten angewiesen.

Nach Schätzung der letzten Statistical Review of World Energy des Energiekonzerns BP verfügt Venezuela über 6,6 Prozent der nachgewiesenen globalen Erdölreserven, das ungleich größere Brasilien jedoch nur über ein Prozent. Beim Erdgas sieht es nicht besser aus: Venezuela kann mit 2,4 Prozent der nachgewiesenen globalen Reserven aufwarten, Bolivien immerhin noch mit 0,4 Prozent, Brasilien hingegen nur mit 0,2 Prozent.

Das Streben Brasilias nach einer energiepolitischen Autonomie steht daher in direktem Zusammenhang mit der politischen Entwicklung in Venezuela und Bolivien - zwei Staaten, die eine stärkere staatliche Kontrolle der eigenen Ressourcen anstreben. Spätestens seit Bolivien am ersten Mai vergangenen Jahres durch ausländische Konzerne betriebene Raffinerien durch die Armee besetzen ließ und ihre Verstaatlichung verkündete, kam es zu einer handfesten diplomatischen Krise zwischen dem kleinen aber an Ressourcen reichen Andenstaat und Brasilien ("Die Ausplünderung der Bodenschätze ist beendet"). Das Energiethema steht seither an erster Stelle auf da Silvas Agenda.

Dabei geht es um weitaus mehr als energiepolitische Strategien. Denn eine Emanzipierung Brasiliens von den ressourcenreichen Staaten der Region hat zwangsweise eine Eindämmung deren politischen Einflusses zu Folge. Vor allem Venezuela finanziert seine sozialpolitischen Projekte im Inneren und in der Region bislang mit dem Ölgeld. Wird die Energieversorgung in der Region diversifiziert, bedeutete dies zugleich, die Rolle Caracas' als aufsteigende Regionalmacht einzudämmen.

Washingtons Interessen

Während die Förderung der Äthanol-Industrie in Brasilien zunächst tatsächlich energiepolitischen Erwägungen geschuldet gewesen sein dürfte, denkt man in Washington weiter. Das demonstrative Kooperationsangebot Bushs an den brasilianischen Präsidenten ist offensichtlich durch den politischen Konflikt mit Venezuela motiviert, dessen Staatsführung die US-amerikanischen Hegemonie in der Region beenden will und einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" propagiert.

Das bestätigt schon die Symbolik bei dem Treffen der Präsidenten beider Staaten Ende März. Als erster lateinamerikanischer Staatschef seit 16 Jahren wurde da Silva auf den Feriensitz Camp David eingeladen. Vor Journalisten erklärte Bush dort, dass er, wenn er Fragen zu Lateinamerika habe "Lula" anrufe. Die Neue Züricher Zeitung frohlockte daraufhin, dass Brasilien unter Lula da Silva seine natürliche Stellung als Vormacht Südamerikas gefestigt habe "und von Washington als bevorzugter Partner behandelt wird". Dagegen komme auch der venezolanische Präsident trotz des "ranzigen Charmes" der "bolivarischen Revolution" schwer an, so die konservative Zeitung weiter.

Vergleicht man die Einschätzung mit den Analysen von Politikexperten, wird jedoch deutlich, dass sie mehr auf dem Wunschdenken konservativer Chávez-Gegner fußt. Nach Meinung von Johanna Mendelson-Forman vom US-amerikanischen Zentrum für Strategische und Internationale Studien (CSIS) etwa hat das Washingtoner Angebot zur Kooperation auf dem Äthanolmarkt keine gute Perspektive.

Was Lula anstrebt, eine Reduktion der Einfuhrzölle für Äthanol in die USA, wird es nicht geben.

Johanna Mendelson-Forman (CSIS)

Auch vom linken Washingtoner Council on Hemispheric Affairs (COHA) wird die US-Äthanolstrategie tendenziell im Widerspruch zu den brasilianischen Plänen gesehen. Die Absicht Washingtons, im Rahmen der zentralamerikanischen Freihandelszone CAFTA-DR den Anbau von Rohstoffen zu fördern, laufe nicht konform mit den Interessen Brasilias, meint COHA-Mitarbeiter Thomaz Almeida. Zwar sei da Silva eine technologische Beteiligung angeboten worden. Das wahre Interesse Brasiliens bestehe aber gerade in einer Expansion des Anbaus von Zuckerrohr, um Arbeitsplätze zu schaffen und die eigene Binnenwirtschaft zu stärken.

Frage der moralischen Führung

Mit der wirtschaftlichen Stabilisierung Brasiliens steht oder fällt aber sein Führungsanspruch. Vier Jahre nach Amtsantritt des ehemaligen Gewerkschaftsführers da Silva kann seine Regierung zwar soziale Erfolge vorweisen, auf den hauptsächlichen Problemfeldern ist aber zu wenig Fortschritt erzielt worden. Vor allem das chronische Landproblem untergräbt die angestrebte moralische Führung Brasiliens.

Während in Venezuela eine der konsequentesten Bodenumverteilungen durchgesetzt wird und die Regierung Chávez mit dem medizinischen Hilfsprogramm Barrio Adentro (etwa: Hinein ins Barrio) seit 2004 Anerkennung bis hin zu internationalen Organisationen wie der WHO bekommen hat, steht da Silvas Regierung in einem ständigen Konflikt mit der eigenen Basis. Es vergeht kaum eine Woche, in der die Landlosenbewegung MST nicht zu einer Demonstration aufruft oder ein Latifundium besetzt.

Auf die daraus entstehenden Legitimationsprobleme Brasiliens als Führungsmacht wies im vergangenen Jahr auch eine Analyse des Hamburger Institutes für Iberoamerika-Kunde (IIK) hin:

Nicht selten wird Brasilien gerade wegen seiner sozialen Schieflage als ein (außenpolitischer) "Riese mit (innenpolitisch) tönernen Füßen" bezeichnet.

"Brasilien unter Lula: Tendenzen der Außen- und Wirtschaftspolitik". Publikation des IIK, Februar 2006

Der Herausgeber des Analyseheftes, Gilberto Calcagnotto, führt im Vorwort die Einschätzung des brasilianischen Außenministers an.

Wenn unsere innere Entwicklung, unsere Positionen des Respekts zum Internationalen Recht, der Suche nach friedlichen Lösungen, der Bekämpfung aller Formen der Diskriminierung, des Schutzes der Menschenrechte und der Umwelt, wenn dies alles eine Führerschaft nach sich ziehen sollte, dann gibt es keinen Grund, diese abzulehnen.

Brasiliens Außenminister Celso Amorim

In dieser Vision, schreibt Calcagnotto, würde Brasiliens Führungsrolle auch aus seinem internen sozialen Fortschritt heraus wachsen. Doch eben dies wird in Lateinamerika, wo soziale Bewegungen der Motor hinter der anhaltenden Linkswende sind, massiv in Frage gestellt.

An dieser Stelle hat Caracas einen deutlichen Vorteil gegenüber Brasilia. Denn während da Silva nach wie vor auf einen Interessenausgleich zwischen den Klassen setzt - und sich dadurch in einer radikaleren Durchsetzung seines sozialen Reformprogramms selbst behindert -, hat die venezolanische Regierung die wichtigsten Bereiche der Wirtschaft unter ihrer Kontrolle. Nach einer breit angelegten Sabotageaktion oppositioneller Gruppen in der Erdölindustrie zum Jahreswechsel 2002/2003 entließ sie aus arbeitsrechtlichen Gründen rund 20.000 Gegner der Reformpolitik aus dem Staatsunternehmen PdVSA. Seither ist der Konzern Financier zahlreicher Sozialprogramme und arbeitet eng mit neu entstandenen Kooperativen zusammen.

Diese innenpolitischen Unterschiede zwischen Venezuela und Brasilien spiegeln sich auch auf internationaler Eben wieder. Denn erst nachdem in Venezuela die politische und wirtschaftliche Führungsfrage im eigenen Land geklärt wurde, konnte Caracas auch außenpolitische in die Offensive gehen. So fand am vergangenen Wochenende im venezolanischen Barquesimeto das erste Gipfeltreffen der "Bolivarischen Alternative für Amerika (ALBA) statt. Das Regionalbündnis wurde Ende 2004 von Venezuela und Kuba als Gegenentwurf zur US-dominierten Freihandelszone ALCA gegründet (ALBA gegen ALCA). Inzwischen sind dem Staatenbund auch Bolivien und Nicaragua beigetreten. Bei dem Gipfel in Venezuela zeigte die Botschafterin Ecuadors Interesse an einer Mitgliedschaft. Auch wenn das ALBA, das einen solidarischen Handel "außerhalb des kapitalistischen Profitstrebens" (Chávez) und regionale Entwicklung anstrebt, bislang wenig strukturelle Ergebnisse vorweisen kann, ist es als Alternative akzeptiert.

Der von Brasilien dominierte "gemeinsame Markt" Südamerikas (MERCOSUR) hingegen steckt in einer chronischen Krise. Die beiden kleineren Mitgliedsstaaten Paraguay und Uruguay denken seit Jahren laut über einen Austritt nach, weil sie sich von den Handelsinteressen der großen Partnerstaaten Brasilien und Argentinien benachteiligt fühlen. Von Politikwissenschaftlern wird das Scheitern des Mercorsur inzwischen kaum mehr bestritten:

Trotz der handelspolitischen Fortschritte in den neunziger Jahren hat der Mercosur die meisten Gründungsziele nicht erreicht, die von den Präsidenten Raúl Alfonsín (Argentinien) und (José) Sarney (Brasilien) Mitte der achtziger Jahre formuliert worden waren.

Einschätzung von Luciano Anzelini, Universität Buenos Aires/ Universität Quilmes

Entgegen einer vor allem durch Medien verbreiteten Darstellung sieht Anzelini die Schuld für das Scheitern des MERCOSUR nicht in der Offensive Hugo Chávez', der eigene Allianzen schmiedet. Die neue Regionalpolitik Venezuelas sei vielmehr ein Ergebnis der "inneren Fehler" der großen südamerikanischen Staaten Brasilien und Argentinien.

Die Alternative zum einem brasilianisch und argentinisch bestimmten MERCOSUR war für die übrigen Staaten bislang lediglich ein Freihandelsabkommen mit den USA. Mit dem ALBA haben sie nun eine zweite Option: Den Beitritt zu einem rein lateinamerikanischen Staatenbündnis - unter der Führung Venezuelas.