Luther als Klimaschützer und Freiheitskämpfer?

Seite 4: Die Instrumentalsierung der Person und Lehre Luthers im Ersten Weltkrieg

Zu Beginn des 1. Weltkrieges sprach man von "Deutschlands reine[r] Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe" (Manifest "Aufruf an die Kulturwelt", unterzeichnet von 93 Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern, darunter auch bekannte Theologen).

Realitäten, z.B. den völkerrechtswidrigen Überfall auf Belgien mit seinen Übergriffen, leugneten die Manifestoren. Man zog "Mit Gott für König und Vaterland" in einen "heiligen" Krieg, auch unter Berufung auf den deutschen "Kämpfer" und "Helden" Luther.

Luther sollte dem "deutschen Schwert" zum Siege verhelfen. Der Übermacht der Feinde wollte man im "Luthertrotz" standhalten. Die "Bösen" waren Franzosen, Russen, Engländer, Serben - versteht sich, dass auch sie sich in einem Verteidigungskrieg sahen. Das deutsche Volk - hieß es - sei ein von Gott auserwähltes Volk, das nun im Krieg seine Sendung, das Strafgericht an den missratenen Völkern, erfülle. "Wenn Russland Gott ruft, so ist das Gotteslästerung. Wir können es tun", so Friedrich Lahusen, Generalsuperintendent von Berlin, 1914.

Es ist eine traurige Tatsache, dass die meisten lutherischen Pfarrer und Theologen, aber auch katholische, sich der nationalen Kriegsbegeisterung anschlossen - gerade den Theologen hatte Erasmus auferlegt, das "Evangeliums des Friedens" laut zu verkündigen.

Der Schweizer Pfarrer Karl Barth sprach von einem "hoffnungslosen Durcheinander" aus "Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlichem Glauben". Barth wandte sich dagegen, Gott in den Kanonendonner hineinzuziehen und sprach den Deutschen das Recht ab, als "Mandatare" Gottes "mit gutem Gewissen schießen und brennen" zu dürfen.

Anstelle des Evangeliums werde "eine germanische Kampfreligion in Kraft gesetzt, christlich verbrämt …" (Brief an Marin Rade, 1914). Bezeichnenderweise kam er aus der reformierten, nicht der lutherischen Tradition. (Später hat Barth als Bonner Theologieprofessor zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft die theologischen Grundlagen für die "Bekennende Kirche" gelegt. Sie wandte sich gegen die völkischen "Deutschen Christen".)

Schon längst vor dem Kriegsausbruch war man mit der "Zwei-Reiche-Lehre" religiös gerüstet, um im angeblichen "Verteidigungskrieg" die Bevölkerung in der Heimat und die Soldaten an der Front im Namen Gottes auf den "gerechten" Krieg einzuschwören. Es entstand ein wahrscheinlich neuer Verkündigungstyp: "Kriegspredigten", mit denen man das Kriegsgeschehen begleitete.

Angesichts militärischen Misserfolge versuchten Prediger die sinkende Siegeszuversicht durch Appell an die "Macht des Glaubens" (Otto Dibelius, Oktober 1918!) aufrechtzuerhalten – realitätsblind. Theologisch begründetes Widerstandspotential war in der Tradition des Bündnisses von "Thron und Altar" und im Zuge der Anpassung an den deutschen Nationalismus längst verloren gegangen.

Und nach dem Krieg hieß es:

Das musste so kommen, weil Deutschland nicht wollte, wie Gott will.

Dr. theol. Wilhelm Philipps, Berliner Superintendent, Mitbegründer der Deutschnationalen Volkspartei

Auch die "Dolchstoßlegende" wurde von deutschnationalen Vertretern des Protestantismus theologisch unterfüttert. Da war es dann nicht weit zur Erklärung der Thüringer "Deutschen Christen" Siegfried Leffler und Julius Leutheusser: auf den Weltkrieg, dem "Golgatha des Deutschen Reiches", folge mit Hitler "Deutschlands Auferstehung".

Welch abenteuerliche "Theologie", weit entfernt von den Grundlagen des christlichen Glaubens, zu denen Luther gerufen hatte! Kritisch-theologisches Nachdenken, wie es Karl Barth praktizierte, wurde durch eilfertige und distanzlose Anpassung an den Zeitgeist und Auslieferung an die Interessen des herrschenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Machtkomplexes ersetzt. Theologie wurde zu politischer Propaganda degradiert.

Unkritisches Luthergedenken, Theologie nach dem Zeitgeschmack, aktuellen Stimmungslagen, subjektiven Einstellungen, mit Ausrichtung auf die gerade herrschende Machtelite? Unter manchen Umständen mag es angebracht sein, auf aktuelle Herausforderungen und Strömungen einzugehen oder Bündnisse zu schließen.

Dabei kann es auch erhellend sein, auf herausragende Persönlichkeiten Bezug zu nehmen. Doch ohne kritische Prüfung und Auseinandersetzung sollte das nicht geschehen. Sonst wird dem Missbrauch der Religion, des Christlichen, der Theologie durch Auslieferung an fremde Interessen Tür und Tor geöffnet.

Theologie ist nicht mit subjektiven Glaubenseinstellungen und ihrer missionarischen Verbreitung in eins zusetzen - das sei hier einmal gesagt. Sie ist rationale Reflexion über Religion, über Glaubensüberzeugungen und ihre Wirkungen, mit den Methoden der Philologie, der historischen Forschung, des philosophischen Denkens, der Soziologie, Psychologie … Zurückhaltung, Prüfung, Auseinandersetzung mit Traditionen, Zeitgenossen und Zeitgeist, Dialog mit Vertretern des eigenen Faches und anderer Wissenschaften sind erforderlich, um zu begründeten, tragfähigen theologischen Erkenntnissen und Urteilen zu kommen.

Leistet Theologie dies, dann kann daraus auch das angemessene Wort zur richtigen Zeit entstehen, im Wagnis einer persönlich-engagierten Aussage Einzelner oder in der gemeinsamen Stellungnahme eines Gremiums.