Luther als Klimaschützer und Freiheitskämpfer?

Seite 2: Ein anderes Freiheitsverständnis - Erasmus von Rotterdam

Der Gedanke einer christlichen, durch die Liebe bestimmten Freiheit war bei Erasmus von Rotterdam besser aufgehoben. Erasmus hat selbst die Unabhängigkeit von Fürsten, herrschenden Meinungen und Parteiungen gelebt. "Ich bin ein Liebhaber der Freiheit, ich kann und will nicht einer Partei dienen", bekennt er. Auch bei Luther trat er für die Freiheit der Forschung ein.

Gegen Luther hielt Erasmus an der Wahlfreiheit des Menschen fest. ("De libero arbitrio diatribe" 1524): Vernunft, Wissen und Gewissen, Herz, Liebe, das Vorbild Jesu, Sitten und die Gnade Gottes helfen dem Menschen auf dem Weg zum Guten. So wollte er die Freiheit und Würde des Menschen als Mitarbeiter des "gütigen Gottes" wahren. Beide Festlegungen zum freien Willen – die Luthers und die des Erasmus – haben Konsequenzen für die Politik, für den Umgang der Herrschenden mit dem Bürger und dessen Selbstverständnis im politischen Raum.

Luther beansprucht die "Deutungshoheit" über Evangelium und Glaube. Er verlangt Unterwerfung für seine Heilslehre, Erasmus sucht den Dialog. Er will lieber "mit wirksamen Argumenten disputieren als schroffe Behauptungen aufstellen." (Brief an Martin Luther, 1519).

Engstirnige Rechtgläubigkeit und verbissene Glaubensstreitigkeiten waren nicht sein Ding, schwierige Frage wollte er lieber offen lassen als Streit und Mißverständnisse hervorzurufen. Vorsichtig mahnt er Luther, das Herz vor "Zorn" und "Anmaßung" zu bewahren.

Die erasmische freundlich-vornehme, offene, tolerante, selbstkritische und oft ironisch-humorvolle Haltung ("Lob der Torheit" 1509) war mit Luthers Grobianismus, Rigorismus, Sendungsbewusstsein und Glaubenseifer nicht kompatibel und so kam es zum Bruch zwischen beiden.

Allgemeine Religionsfreiheit gehörte nicht zum Programm Luthers. Das zeigte sich in seiner harschen Ablehnung der Täufer, Müntzers … Thomas Müntzer hat ungleich schärfer als Luther die "Ungleichheit zwischen Arm und Reich" gebrandmarkt.

Erasmus als Reformer

In seiner Kirchenkritik, seinem Ruf "zu den Quellen", durch die Herausgabe des Neuen Testaments in der Ursprache Griechisch (Luther benutzte diese Ausgabe) und dem Befürworten es in die Volkssprachen zu übersetzen, gehört Erasmus zu den Begründern der Reformationsbewegung.

Ich Erasmus habe das Ei gelegt und Luther hat es geöffnet.

Brief an Johannes Caesarius

In manchen Ländern, z.B. in Spanien, war Erasmus für die Bildung des Protestantismus einflussreicher als Luther.

Erasmus lag der Frieden und die Eintracht im christlichen Europa am Herzen, wofür er sich in Kontakten, Briefen und Abhandlungen einsetzte. So suchte er auf seine Weise politisch und gesellschaftlich Einfluss zu nehmen.

Als Folge der Glaubensspaltungen sah er (in einem seiner Briefe) "ein kommendes grausames und blutiges Jahrhundert" voraus - was sich dann auch in den Religionskriegen bewahrheitete. In der Frage, wie gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden seien oder wie Menschen unterschiedlichen Glaubens zusammenleben können, ist bei Erasmus mehr zu lernen als bei Luther.

Erasmus und sein Friedensprogramm

Neben den Zeitübeln des Kirchenverfalls und des Streits der Konfessionen sah er als weiteres Hauptübel die ständigen Kriege der weltlichen und geistlichen Machthaber an. Da konnte er in seinen Analysen radikal werden, so radikal, dass er in seiner Entschiedenheit dem modernen Pazifismus nahekam.

"Ein Friede kann nicht so ungerecht sein, dass er nicht auch dem 'gerechtesten' Kriege vorzuziehen wäre", lässt er den personifizierten "Frieden" sagen ("Querela pacis"/1517 - im Jahr des Thesenanschlags Luthers erschienen! Auszug: Telepolis 26/12/2019).

Er argumentiert mit der Unvereinbarkeit der Friedensbotschaft Jesu mit dem Krieg; geht den Übeln für das Volk nach, in dessen Interesse der Krieg nicht sein kann; zeigt die Nutzlosigkeit des Revanche-Krieges auf, der weitere Revanche hervorruft; wendet sich gegen Imperialismus, der neue Konflikte hervorruft; enthüllt die beschönigenden und fadenscheinigen Rechtfertigungen des "offenkundigen Wahnsinns" der Kriege; verurteilt Kriegstreiberei und Aufrüstung.

Er blickt auch über die Grenzen Europas hinaus. Bei den nichtchristlichen Völkern wie den Türken verliert die Christenheit durch ihre Kriegssucht, Zänkereien, Veräußerlichung und Gesetzlichkeit ihrer Religion die Glaubwürdigkeit, abgesehen davon, dass es christlichen Herrschern darum geht, unter dem Zeichen des Kreuzes nichtchristliche Völker auszuplündern. "Die übrigen Völker würden sich schneller einer solchen Religion zuwenden, die mit Freiheit gepaart ist", sagt ein "Fleischer" im Dialog des "Fischessens" ("Colloquia familiaria").

Erasmus beschränkt sich aber nicht auf die Schilderungen der Kriegsübel, sondern geht auch ihren Quellen nach. Es sind "verkehrte Begierden" der Herrschenden wie Machtsucht, Privatinteressen, Prestigestreben, Raffgier, Vergeltungswillen und die damit verbundene Abwendung vom "Maßstab des Gemeinwohls". Der Gipfel "verbrecherischer Machenschaften" ist erreicht, wenn sie Kriege dazu gebrauchen, die Einigkeit des Volkes zu spalten oder seine Freiheit zu unterdrücken, um so ihre wankende Macht zu stärken und das Volk "ungenierter ausbeuten zu können".

Republikanische Gesinnung blitzt auf, wenn Erasmus dem Regenten rät, "immer eingedenk zu sein, dass er als Mensch über Menschen, als Freier über Freie, schließlich als Christ über Christen gebietet." Die Zwiste über die Thronfolge können dadurch gelöst werden, dass der Nächste in der Verwandtschaft bestimmt wird oder durch "Volksabstimmung der Geeignetste erfunden wird." Wenn schon Krieg, dann müsste ein "im allerhöchsten Grade öffentliches Interesse" vorliegen und sollte "er nur unter Zustimmung des ganzen Volkes unternommen werden".

Aber eine vorherige ehrliche Bilanz zeigt meist, dass der Preis für einen Krieg höher ist als ein noch so teuer erkaufter Frieden. Krieg wird weitere Kriege hervorrufen, Entgegenkommen zeugt Entgegenkommen.

Es ist ersichtlich, dass sich in den erasmischen Bestimmungen des Verhältnisses "Regent"/"Volk" die zukünftigen Ideen der "Volkssouveränität", eines "Gesellschaftsvertrages" und des "allgmeinen Menschenrechts auf Freiheit" abzeichnen. Auf dem Weg zu demokratischen Entwicklungen ist Erasmus, wenn er den "consensus omnium", die Zustimmung aller – gegen jeden Absolutismus – zum Prinzip der politischen Lebensordnung erhebt.