Machtkampf

Das Knesseth-Votum für den Trennungsplan und die Abwesenheit von Palästinenserpräsident Jasser Arafat haben die Anschlagsgefahr in Israel steigen lassen

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Am Montag morgen riss ein erst 16 Jahre alter Attentäter sich selbst und drei weitere Menschen in einem dichtbevölkerten Markt im Zentrum der israelischen Stadt Tel Aviv in den Tod. Palästinensische und israelische Analysten befürchten deshalb jetzt eine neue Anschlagsserie. Die Sicherheitskräfte haben bereits vor Tagen auf die neue Lage reagiert und die Vorkehrungen verschärft. Israels Regierung macht derweil der palästinensischen Führung vorsichtige Avancen: Wenn sich an der Spitze der palästinensischen Führung ein Gesprächspartner konsolidiere, der es ernst meint, seien neue Verhandlungen möglich.

Es ist ein ungewöhnlich warmer Novemberbeginn im Nahen Osten und viele Menschen genießen deshalb die lauen Abende im Freien. Nach Monaten mit wenigen schweren Anschlägen fühlen sich die Israelis sicher genug, um sich auch in größeren Gruppen aufzuhalten.

Doch am Montag hat das neue Vertrauen in die eigene Sicherheit einen schweren Schlag erlitten: In einem stark frequentierten Markt im Tel Aviver Stadtzentrum töteten der junge Selbstmordattentäter sich selbst und drei weitere Menschen, 30 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Die recht kleine Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) übernahm die Verantwortung für den Anschlag. Nahezu alle palästinensischen Fraktionen und auch die Mutter des Attentäters verurteilten den Anschlag: "Es ist verboten, einen so jungen Menschen für eine solche Operation zu benutzen", wird sie in der Zeitung Haaretz zitiert.

Das Attentat kam unerwartet: Informationen, dass es bevorstehen könnte, habe es nicht gegeben, erklärte ein Sprecher des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth. Aus heiterem Himmel kam der Anschlag aber dennoch nicht: "Aufgrund der politischen Entwicklungen in der vergangenen Woche haben wir damit gerechnet, dass es früher oder später zu einem Anschlag kommen würde und haben die notwendigen Vorkehrungen getroffen." So werden Kneipenviertel, Märkte und Einkaufsstraßen bereits seit der vergangenen Woche von einem massiven Aufgebot an Polizisten und Grenzschützern bewacht.

Nach Ansicht von Analysten ist es neben dem Knesseth-Votum über Premierminister Ariel Scharons Trennungsplan, das in der vergangenen Woche den Weg für die Umsetzung des Vorhabens frei gemacht hat (Ein bitterer Sieg), vor allem die Abwesenheit von Palästinenserpräsident Jasser Arafat (Arafat schwer krank), die die Anschlagsgefahr hat steigen lassen: "Da Arafat zur Zeit nicht da ist, wird jede palästinensische Gruppe versuchen, sich in Erinnerung zurückzurufen", sagt ein palästinensischer Journalist: "Es ist also mit weiteren Anschlägen zu rechnen." Und Zeew Schiff von der Zeitung HaAretz erklärt:

Man muss sich bewusst sein, dass es hier um Macht und Einfluss geht: Gaza wird wahrscheinlich bald geräumt sein, während Arafat, der einigende Faktor in der palästinensischen Führung, krank und außer Landes ist.

Auch Dr. Neill Lochery, Nahostexperte am University College in London, sieht eine direkte Verbindung:

Abu Mazen, der in Arafats Abwesenheit einen Großteil der Fäden in der Hand hält, gilt als moderat, gesprächsbereit und hat als erstes den Einfluss der PFLP und anderer extremistischer Gruppen im Exekutivkomitee der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO beschnitten.

Israels Regierung reagierte auf den Anschlag, indem sie das Militär die palästinensische Stadt Nablus, aus der der Attentäter stammte, nahezu hermetisch abriegeln ließ: Seit Montag Abend dürfen nur noch Krankenwagen die Kontrollpunkte an den Ausfallstraßen passieren. Gleichzeitig entsandte Regierungschef Scharon erste Signale für eine Bereitschaft zur Kursänderung: Sollte sich an der Spitze der palästinensischen Führung ein ernsthafter Verhandlungspartner konsolidieren, sei eine Wiederaufnahme der Verhandlungen möglich, sagte Scharon kurz nach dem Anschlag im Rundfunk.

An ein baldiges Ende des einseitigen Trennungsplanes, der der palästinensischen Seite keinerlei Mitspracherecht bei der Räumung aller Siedlungen im Gazastreifen und von vier jüdischen Ortschaften im nördlichen Westjordanland einräumt, glaubt dennoch kaum jemand: "Es ist unwahrscheinlich, dass es zu Verhandlungen kommen wird, bevor sicher ist, wer künftig in der palästinensischen Führung das Sagen haben wird," sagt Lochery. "Scharon hat politisch zuviel riskiert, um jetzt das Risiko einer vollständigen Kehrtwende auf sich zu nehmen. Mein Tipp ist: Er macht weiter wie bisher und verhandelt dann nach."

In den Straßen Ost-Jerusalems haben die Menschen derweil die dritte Woche des Fastenmonats Ramadan begonnen - und rätseln nebenbei darüber, wie krank Jasser Arafat wirklich ist: Das Gerücht macht die Runde, dass der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde unter dem Vorwand einer medizinischen Untersuchung außer Landes geschafft wurde, um den Weg für Personaländerungen an der Spitze der Führung freizumachen - Mutmaßungen, für die es bisher keinerlei Beweise gibt, die aber durch widersprüchliche Äußerungen palästinensischer Funktionäre über seinen Gesundheitszustand, eine massive Abschirmung Arafats in seinem Pariser Krankenhaus und nicht zuletzt auch durch die bei seiner Ankunft in Frankreich gefilmten Fernsehbilder geschürt werden, auf denen Arafat recht gesund aussieht.

Auf beiden Seiten scheint man in der Tat darauf zu hoffen, dass der alternde Palästinenserchef, der in den vergangenen Jahren kaum Flexibilität zeigte, nie wieder in die palästinensischen Gebiete zurück kehren und damit dauerhaft Platz für einen beweglicheren Nachfolger machen wird - auch wenn die israelische Regierung auch am Dienstag wieder betonte, er könne, wenn er wolle. In Jerusalem hat das Kabinett bereits einem Plan für Arafats Tod zugestimmt: Er solle dann in Abu Dis mit Blick auf den Tempelberg beerdigt werden. Für den Fall, dass es zu Unruhen kommen sollte, sind Kontingente von Polizei, Grenzschutz und Militär einsatzbereit.