"Man kann vergeben, aber man soll niemals vergessen"

Persepolis: Eine Jugend im Iran

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Ein Comic über die traurige Realität im Iran, eine Autobiografie in Bildern hat Marjane Satrapi zu Papier gebracht. Das Buch wurde in Frankreich mit 200 000 verkauften Exemplaren zum Bestseller. Jetzt ist "Persepolis" auch auf Deutsch erschienen.

Im Vorwort gibt die Autorin zum Verständnis einen kurzen Überblick über die Geschichte des Iran:

"Im Jahre 1951 nationalisierte der damalige Premierminister Mohammed Mossadeq die Ölindustrie. Als Antwort darauf verhängten die Briten ein Embargo gegen iranisches Erdöl. Zwei Jahre später organisierte der CIA zusammen mit dem britischen Geheimdienst einen Staatsstreich. Mossadeq wurde gestürzt und der Schah, der zuvor geflohen war, kam wieder an die Macht. Seine Herrschaft dauerte bis 1979, dann musste er vor der islamischen Revolution fliehen. Seither wird diese traditionsreiche Zivilisation fast ausschließlich mit Fundamentalismus, Fanatismus und Terror in Verbindung gebracht. Als Iranerin, die mehr als ihr halbes Leben im Iran verbracht hat, weiß ich, dass dieses Bild falsch ist."

Marjane Satrapi

Dem einen großen Bild des Vorurteils setzt Satrapi viele kleine Bilder entgegen. Sie erzählt die große Geschichte anhand der kleinen Geschichte, ihrer eigenen. Mit ausdrucksstarken, holzschnittartigen Zeichnungen berichtet sie über ihre Kleinkinderjahre in der Regierungszeit des Schahs, die Revolution und ihre Schulzeit in der islamischen Republik. Glaubwürdig schildert sie die grausame Zeitgeschichte des Iran aus der unmittelbaren, naiven Perspektive eines Mädchens.

Als geliebtes Einzelkind einer liberalen, vermögenden Familie ist sie überzeugt, dass ihre Zukunft ungeahnte Möglichkeiten bietet. Als kleines Kind will sie Prophetin werden. Gott ist ihr Freund und nachts, wenn sie im Bett liegt, führt sie lange Gespräche mit ihm. Durch einen Comic über dialektischen Materialismus lernt sie Marx kennen und sie findet, dass er Gott ähnlich sieht. Durch ihre politisch interessierten Eltern, die gegen den Schah demonstrieren, erfährt sie von Folter, Hinrichtungen und Massakern. Freunde der Familie und auch ein Onkel sind politische Gefangene, für die kleine Marji sind sie Helden, die schrecklichen Geschichten, die sie hört, beeindrucken sie sehr.

Doch die erfolgreiche Revolution wird von den religiösen Führern übernommen, die Republik wird islamisch (Islam als Religion und Staatsideologie). Die ersten Freunde und Verwandten verlassen das Land - ein Exodus, der sich fortsetzen wird. Der Alltag verändert sich rasant. Das neue Regime greift mit roher Gewalt durch. Der schon unter dem Schah inhaftierte Onkel wird als Spion hingerichtet. In der Schule werden Jungen und Mädchen getrennt, das Kopftuch wird zur Pflicht.

Und dann beginnt der lange, blutige Krieg gegen den Irak, der einst Golfkrieg genannt wurde und in dem der Westen Saddam Hussein unterstützte (Das schmutzige Geschäft der Politik). Bombenangriffe erschüttern Teheran. Jungen werden Plastikschlüssel "für das Paradies" umgehängt, bevor man sie an die Front schickt. Aber Kinder sind eben überall Kinder und so, wie sie vorher Revolution spielten, gewinnen sie dann sogar dem öffentlich zelebrierten Märtyrerkult noch komische Seiten ab.

Das Leben in Persien in den 80er Jahren wird in vielen einzelnen Episoden beschrieben. Aus ihrem eigenen Blickwinkel schildert Marjane Satrapi humorvoll, direkt und ohne Larmoyanz die iranische Realität. Und wie immer ist das tatsächlich Erlebte vielfältiger und gebrochener als alle Klischees. Ergänzt durch die starken, dynamischen Schwarzweißzeichnungen entsteht vor den Augen des Lesers eine Figur, mit der sich jeder identifizieren kann, spätestens wenn die Internationale der Jugend- und Popkultur auch in Teheran zu greifen beginnt: Klein-Marji raucht ihre erste Zigarette, schnürt ihre von einer Türkeireise mitgebrachten Nike-Turnschuhe und wirft sich in die neue Jeansjacke mit dem Michael-Jackson-Badge, um mit umgebundenem Kopftuch auf dem Schwarzmarkt eine Musikkassette von Kim Wilde zu erstehen.

Zuletzt beschließen die Eltern, sie ins Ausland zu schicken. Zwischen Bomben und Revolutionswächtern wird ihnen das Pflaster für ihre Tochter zu heiß. Damit enden die ersten beiden Bände, die nun in einer schön gebundenen Ausgabe auf Deutsch vorliegen.

Marjane Satrapi ist die erste Comic-Zeichnerin aus dem Orient, die im Westen Erfolg hat. Dabei ist sie eigentlich Kinderbuch-Illustratorin, zum Comic kam sie zufällig durch den Kontakt zum französischen Comic-Autorenverlag L'Association. Comic ist nach wie vor weitgehend eine Männerdomäne, umso erstaunlicher ist der große internationale Erfolg einer Iranerin. Ein Grund dafür ist natürlich ihr politische Anliegen, der tiefe Einblick, den sie westlichen Lesern gewährt. Im Vorwort schreibt sie: "Ich glaube, dass man eine ganze Nation nicht aufgrund der Fehler einer extremistischen Minderheit verurteilen darf. Ich will auch nicht, dass jene Iranerinnen und Iraner vergessen werden, die für die Freiheit gekämpft haben und im Gefängnis gestorben sind, die ihr Leben im Krieg gegen den Irak verloren und unter den verschiedenen repressiven Systemen gelitten haben, oder gezwungen waren zu fliehen. Man kann vergeben, aber man soll niemals vergessen."

Noch bis zum 9. Mai 2004 sind Blätter aus Persepolis in der Ausstellung "Entfernte Nähe - Neue Positionen iranischer Künstler" im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen. Auf dem Comix-Festival Fumetto in Luzern ist Marjane Satrapi eine Ausstellung gewidmet, vom 7. bis 9. Mai ist sie auch persönlich anwesend.

Marjane Satrapi, "Persepolis", 164 Seiten, Edition Moderne, 22 Euro