Manche wollen im Netz nur ihren Frust loswerden

Wenn das (polnische) Netz zur Hölle wird

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Mehrere Stunden am Computer. Durchgemachte Nächte. Fast wundgetippte Finger, rote Augen und viel Geld der Telekom bezahlt. Endloses Zeichnen, Schreiben, Rechnen, Proben, Uploaden - aber endlich ist sie da, die neue Webseite. Und zusammen mit ihr kommt auch der Traum, dass die Arbeit des Webmasters durch Besucher und gute Noten belohnt wird

Um aber an die Besucher heranzukommen, reichen Bannertauschsysteme nicht. Deshalb versuchen viele Webmaster, ihre Arbeit in den Newsgroups anzupreisen. Und dann kommt nicht selten die Hölle. "Bitte besucht meine Seite, die URL ist ...", schreibt der naive, frisch gebackene HTML-Meister. "Niemals!", lautet die erste Antwort. "Und warum sollten wir?", heisst es in der zweiten. "Keine Zeit, keine Lust", erfährt der Arme gleich danach. Jetzt weiss er: er hätte etwas über sein Angebot schreiben sollen.

Er wartet also ab und postet wieder. Im Betreff fragt er schlau: "Suchst Du das-Oder-das?", und im Text erklärt er, dass er mehrere Jobangebote unter www.jobs.irgendwo.net präsentiert. Aber jetzt wird es noch schlimmer: "Hau ab, ich suche weder dieses noch jenes!", greift man ihn sofort an. Diejenigen, die die Seite besucht und gut gefunden haben, schweigen natürlich konsequent. Unser Held kommt zu dem Schluss, dass er vielleicht die Seite irgendwie attraktiver gestalten sollte. Dazu braucht er allerdings Rat, so fragt er danach in einer anderen Newsgroup, etwa .comp.www. Erst jetzt erwartet ihn die wahre Hölle: verschiedene selbst ernannte Möchtegern-Fachleute besuchen seine Homepage und lassen ihm von nun an kein gutes Haar.

Dabei spielt gar keine Rolle, wie die Seite eigentlich aussieht, inwieweit sie den HTML-Standards entspricht und ob sie unter jedem Browser gut lesbar ist. Geschweige denn Idee, Layout usw. Hauptsache: dem müssen wir es mal so richtig zeigen. Zuerst schaut man sich einmal den Code an. Wehe dem, der seinen HTML-Editor im META-TAG "Generator" genannt hat: das macht ihn schon zum "Greenhorn", denn entweder sei das Tool nicht gut genug oder "mit einem so guten Editor baut man ja keine solche S...!". Fehlt dieser TAG, so geht man an die Seite anders heran. Wenn es dort viel schöne Grafik gibt, dann heisst es, die Seite lasse sich nicht schnell genug laden, ausserdem stimmen die Farben nicht ... und überhaupt. Hat der Webmaster fast keine Grafik eingebaut, so sei seine Seite monoton und langweilig. Genauso ist es mit Java, JavaScript und CGI, denn für alles gilt das eine Motto: jede Seite ist hässlich, es sei denn, WIR haben sie geschaffen. Mehr noch: warum wagt der Webmaster sich Webmaster zu nennen? "Master" heiße ja "Meister", also etwa Künstler - und das ist für uns reserviert.

Am Schlimmsten geht man dabei mit Menschen um, die Webdesign-Dienste anbieten. Die erfahren sofort, dass sie so gut wie gar nichts können und eher in den Kindergarten gehören. Ärger bekommen auch diejenigen, die preiswert arbeiten wollen: die "Künstler" machen ihnen sofort klar, dass niedrige Preise eindeutig schlechte Qualität beweisen. In regelmäßigen Abständen taucht auch die Idee auf, eine Topliste der miesesten WWW-Seiten zu gründen. Schliesslich wurde daraus, nach einer langen Auseinandersetzung, BestDesign - die schönsten Seiten im polnischen Internet. Die Grundregeln sind aber eindeutig: "Die Jury-Mitglieder beurteilen die neuen Vorschläge höchst subjektiv und nach eigenem Geschmack", ausserdem sei "einer der Ziele des Services, polnische WWW-Autoren anzupreisen. Nominiert werden können demzufolge sowohl polnischsprachige als auch fremdsprachige Websites, deren Autoren aber Polen sind". Die Definition eines Polen wurde leider nicht angegeben.

Wehe auch dem, der die "Unverfehlbaren" zur Vernunft bringen will. Vor kurzem bemerkte jemand in einer der höllischen Newsgroups, dass es dort zwar viele Fragen, aber nur ganz wenige Antworten gebe. "Schon wieder ein Weltverbesserer! Geh zu .humor und misch hier nicht rum!" - erfuhr er sofort als Antwort.

Unangenehme Überraschungen lauern übrigens nicht nur dort, wo es um Computer- und Internetfragen geht. Es gibt z.B. eine Newsgroup, wo heftigst über Politik diskutiert oder eher: gestritten wird. Gepostet werden dort oft Inhalte, die - wenn es eine deutsche Gruppe gewesen wäre - sofort zur Einschaltung des BKA und des Verfassungschutzes führen würde. Aber da die NG pl.listserv.dziennikarz [zu deutsch: .journalist] heisst, meldete sich dort vor kurzem ein Journalist, der - unter Berufskollegen - über die Arbeitsprobleme seines Milieus diskutieren wollte. "Hier wird nicht über journalistische Probleme diskutiert!", wurde ihm fast sofort geantwortet. "Worüber denn?", fragte er weiter. Die Antwort blieb aus.

Warum ist das so? Die Erklärung setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen. Vor allem sind im Internet, was jeder Psychologe bestätigen kann, sehr viele Menschen aktiv, die ihr reales Leben nicht meistern können und ihren Frust eben online loswerden "müssen". Die Anonymität der virtuellen Diskussionen erleichtert ihnen die Aufgabe. Je mehr andere Menschen sie diffamieren, desto besser wird ihr Selbstgefühl. Hinzu kommt noch das Lobbying: viele der "HTML-Künstler" versuchen, ihr Geld im Netz zu verdienen. Kein Wunder also, dass sie sowohl alle potentiellen Konkurrenten als auch private HTML-Bastler konsequent bekämpfen.

Aber dazu kommt noch etwas. Viele Polen kennen die alte Anekdote von der "wahren Hölle". Man kann dort angeblich nur einen einzigen Kessel finden, an dem kein Teufel Wache hält - und das ist der polnische Kessel. Und warum? Sobald eine polnische Seele hinauszuklettern versucht, wird sie von den anderen sofort wieder heruntergezogen ...

Alle im Text genannten Beispiele stammen aus dem polnischen Usenet. So mancher Leser wird aber wohl zugeben, dass sie nicht nur für diesen Ausschnitt des ganzen Netzes gelten ...