Marokko und EU wegen Kolonialismus in der Westsahara abgestraft
Das Gericht der Europäischen Union erklärte ein Abkommen mit Marokko für nichtig; der EU-Außenbeauftragte Borrell fürchtet offene Grenzen
Das Gericht der Europäischen Union (EuG) in Luxemburg hat sich in der Rechtssache T-279/19 "Front Polisario gegen den Rat der EU" klar hinter die Befreiungsfront der Westsahara gestellt, die den Prozess angestrebt hatte. Denn die EU hatte mit Marokko, der Besatzungsmacht der nach dem Völkerrecht illegal besetzten Westsahara, ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen, das auch die Fischereirechte betrifft.
Das Abkommen zwischen EU und Marokko umfasst auch die Westsahara und deren Bewohner wurden - in der typischen Kolonialisten-Manier - nicht dazu befragt. Die "Zustimmung des Volkes der Westsahara" wurde nicht eingeholt, so das Gericht. Die Westsahara sei "kein Teil Marokkos", wurde geurteilt, weshalb das autokratische Königreich Marokko auch kein Recht hatte, der EU und ihren Fischereiflotten Konzessionen für die reichen Fischgründe vor der Westsahara zu erteilen.
Der EuG erklärte "das Abkommen zwischen der EU und Marokko zur Änderung der von der EU gewährten Zollpräferenzen für Waren marokkanischen Ursprungs und über das Partnerschaftsabkommen im Bereich der nachhaltigen Fischerei für nichtig", heißt es im Urteil. So ist auch das Abkommen nichtig. Betroffen ist nicht allein der Fischfang, sondern es geht auch um Agrargüter, die aus der Westsahara in die EU geliefert werden.
Die Befreiungsfront "Frente Polisario" ist von dem Urteil begeistert, denn das Gericht gab der Befreiungsfront, die seit Jahrzehnten für einen unabhängigen Staat kämpft, größtenteils Recht. Nach fast 30 Jahren hatte die Polisario vor knapp einem Jahr nach ständigen Provokationen durch Marokko den Waffenstillstand aufgekündigt. Marokko hatte systematisch das geplante Referendum hintertrieben, das die UN-Mission Minurso überwachen sollte. Es war Grundlage für den Waffenstillstand, der 1991 zwischen Marokko und der Polisario geschlossen worden war.
Das Gericht hat den Vertrag aber nicht sofort ausgesetzt, sondern den Beteiligten eine Frist von zwei Monaten eingeräumt. Der Vertreter der Polisario-Front bei der Europäischen Union, Oubi Bachir, spricht von einem großen Sieg. Er ist der Ansicht, dass damit für Brüssel "ein Zeitfenster offenbleibt, um den Ausstieg aus den Abkommen zu organisieren", erklärte er.
"Die gesamte Vorgehensweise der Europäischen Kommission wurde vom Gerichtshof der EU demontiert."
Besonders erfreut ist die Polisario darüber, dass der EuG die Polisario "als Rechtsperson" und als Vertreter der Sahraouis anerkennt und der Polisario damit Prozessfähigkeit in der EU zugesteht.
Der Europäische Gerichtshof entschied bereits in den Jahren 2016 und 2018, dass ein Agrarabkommen der EU mit Marokko und ein Fischereiabkommen die Westsahara nicht einbeziehen dürften. Als Reaktion vereinbarte der Rat mit Marokko aber immer wieder Änderungen, die Frente Polisario vor Gericht angriff.
Statt das kolonialistische Gehabe endlich aufzugeben, kündigte Marokko gemeinsam mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell an, man wolle sicherstellen, dass das rechtliche Rahmenwerk erhalten bleibe, das die Stabilität und Fortdauer der Handelsbeziehungen garantiere.
"Wir sind weiterhin voll und ganz bereit, die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko in einem Klima der Gelassenheit und des Engagements fortzusetzen", erklärten Borrell und der marokkanische Außenminister Nasser Bourita gemeinsam.
"Bruch des Völkerrechts, den die EU unterstützt"
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) warf der EU vor, sich durch die Importe von Produkten aus der Westsahara unter marokkanischer Flagge "mitschuldig an der fortdauernden Verletzung des Völkerrechts" zu machen.
"Die Westsahara ist nicht einfach ein Teil Marokkos, über den die Regierung in Rabat frei verfügen kann", erklärte die GfbV-Referentin Nadja Grossenbacher. Der einzig gangbare Weg wäre nun, das seit Jahrzehnten angestrebte Referendum der Sahrauis über ihr Territorium zu realisieren. Marokko wird der Bruch des Völkerrechts vorgeworfen, den die EU unterstütze.
Ganz ähnlich sieht das Sevim Dagdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Sie sieht in dem Urteil "eine schwere Klatsche" für die EU und die Bundesregierung, der sie vorwarf, einen "wirtschaftlichen Konsolidierungskurs gegenüber der Besatzungsmacht Marokko" zu verfolgen.
Statt das Königreich in Rabat mit Wirtschaftsabkommen und einer Privilegierten Partnerschaft zum Schaden der Sahrauis zu hofieren, muss sich die Bundesregierung auf EU-Ebene endlich aktiv dafür einsetzen, dass das UN-Referendum über die Zukunft der Westsahara nicht weiter durch Marokko blockiert und durch die völkerrechtswidrige Ansiedlung eines Teils der eigenen Bevölkerung in den besetzten Gebiete untergraben wird.
Sevim Dagdelen
Klar ist aber, dass hinter dem Verhalten der EU auch die erfolgreiche Erpressung Marokkos steht. Aus Ärger über das Verhalten der Bundesregierung, die weiter an einer Lösung unter der Schirmherrschaft der UN festhielt, und der Tatsache, dass der Polisario-Chef Brahim Ghali in Spanien behandelt wurde, hatte Marokko im Mai die Grenzen zur Exklave Ceuta geöffnet. Mehr als 8.000, meist junge Marokkaner, gingen dabei eilig über die Grenze.