Martin Schulz: Sozialreformen sind nicht genug

Seite 2: Die Reformen Gerhard Schröders kurierten die Symptome, nicht die wirklichen komplexen Ursachen

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Wie sieht aber die Entwicklung der vergangenen Jahre aus? Und gab es wirklich Gründe für eine Agenda 2010, die sich vor allem auf Reformen des Arbeitsmarktes konzentrierte? Ein Blick in die Statistiken:

Die Teilzeitarbeit hat von rund 7,1 Millionen Menschen 2003 auf 10,3 Millionen 2015 zugenommen, während Vollzeit von 24,8 lediglich auf 25,6 gewachsen ist. Als Erfolg mag man verbuchen, dass die unbefristeten Arbeitsverträge von 27,7 auf mittlerweile 31,1 im selben Zeitraum wieder gewachsen sind, die befristeten lediglich von 4,1 auf 4,6. Allerdings sind in den Vollzeitjobs auch Teilzeitjobs enthalten, die zugenommen haben. Ferner haben die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erstmals 2013 wieder das Niveau von 1992 erreicht (29 Millionen) und sind mittlerweile bei rund 31 Millionen angelangt, die allerdings nicht alle in Vollzeit arbeiten.

Der Grund, weshalb Gerhard Schröder sich zu seiner Agenda 2010 gedrängt fühlte, war ja auch, dass es weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gab und dadurch die Sozialversicherungssysteme unter Druck gerieten, weil sie weniger Einnahmen hatten. Dieser Rückgang zeichnete sich bereits 1994 ab und hatte mehr mit der prekären ökonomischen Gesamtsituation in Deutschland zu tun als mit dem Arbeitsmarkt alleine.

Denn nach der Entwertung der Ost-Mark durch die Währungsunion, der Deindustrialisierung und dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland musste diese wieder langsam aufgebaut werden. Wer rechnen konnte, wusste, dass das nicht unter 40 Jahren möglich ist, eher ist ein Zeitraum bis 50 Jahren angemessen. Daher das Augenmerk nur auf den Arbeitsmarkt zu werfen, war eine einseitige Reformpolitik.

Die Schwierigkeiten in der deutschen Wirtschaft sind weniger durch den Arbeitsmarkt als durch andere Faktoren bedingt gewesen, da es ab 2001 einschneidende ökonomische Probleme gab. Noch immer hatte die Deutsche Einheit enorme Transferzahlungen erfordert und der Arbeitsmarkt kam nicht in den Tritt, was sich an der Statistik und dem stetigen Rückgang der Beschäftigten ab 1994 sehen lässt. So fielen die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Ostdeutschland von 6,3 Millionen 1994 auf 4,9 in 2005 (im Westen waren sie seit 1994 bis 2007 vergleichsweise stabil), um dann erst langsam wieder anzusteigen (derzeit sind es um die 6 Millionen).

Dass damals die Regierung Schröder unter Druck geriet, weil die Einnahmen für die sozialen Systeme fehlten, mag verständlich sein; die Schuld allerdings nur bei den Arbeitslosen zu suchen, glich einer einfachen Ursache-Wirkungs-Erklärung, die in der Politik und bei Wirtschaftswissenschaftlern beliebt ist, um schnelle und ad hoc einleuchtende Lösungen zu finden, die allerdings viele Faktoren unberücksichtigt lassen. Da waren die Arbeitslosen, die keine Lobby hatten (und haben), nicht organisiert sind und auch durch einen Streik keinen Druck ausüben könnten, die einfachste scheinbare Lösung für die damaligen Wirtschaftsprobleme.

Ferner hat auch der Zusammenbruch des spekulativen Neuen Marktes ab 2001 die Wirtschaft, nicht nur in Deutschland, hart getroffen, was sich natürlich auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machte. Darüber hinaus hatte der Terrorangriff 9/11 im September 2001 in New York für monatelangen Stopp zahlreicher wirtschaftlicher Aktivitäten gesorgt. Und schließlich befanden wir uns in der Anpassungsphase der Europäischen Währungsunion, weshalb die Unternehmen erst mal abwarteten, wie sich der gemeinsame Euro-Markt entwickeln würde.

Daher waren die Probleme in den zahlreichen Veränderungen und Krisen der Wirtschaft selbst zu suchen und vor allem bei den anderen so genannten aggregierten Märkten: dem Gewerbe- und dem Kapitalmarkt.