Martin Schulz: Sozialreformen sind nicht genug

Die Agenda 2010 und die SPD

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Martin Schulz hat der SPD Auftrieb gegeben. Der Buchhändler aus Würselen lässt bei vielen SPD-Wählern und ehemaligen Wählern die Hoffnung aufkeimen, dass sich die SPD wieder ihrer Wurzeln erinnert, nämlich für jene Politik zu machen, die nicht zum Establishment gehören.

Unter Gerhard Schröder hat sich die SPD der Labour Party Großbritanniens angenähert, die die Politik von Margret Thatcher fortführte, Verantwortung auf den einzelnen übertrug, den Einfluss des Staates reduzierte, Steuern senkte. So hat auch Gerhard Schröders Steuerreform bei den Einkommensbeziehern, die mehr als eine Million Euro pro Jahr verdienen, für eine Entlastung von 1,5 Milliarden Euro innerhalb nur eines Jahres geführt.

Martin Schulz will nun einige Prinzipien der Agenda 2010 rückgängig machen, insbesondere die Arbeitslosen weniger fordern als fördern, ihnen auch mehr Zeit lassen, einen guten, vernünftig bezahlten Beruf zu finden. Schon sehen manche die Erfolge der Agenda 2010 von Gerhard Schröder in Gefahr, eine Agenda, die Arbeitslose stark unter Druck gesetzt hat. Erst jüngst hat eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung belegt, dass der Druck zwar zur Aufnahme von Arbeit führt, aber schlechter bezahlte Arbeit angenommen wird, weil den Arbeitslosen auch keine andere Wahl bleibt. Darin spiegelt sich ein Prinzip der Agenda 2010: Hauptsache Arbeit.

Die Reformen Gerhard Schröders kurierten die Symptome, nicht die wirklichen komplexen Ursachen

Wie sieht aber die Entwicklung der vergangenen Jahre aus? Und gab es wirklich Gründe für eine Agenda 2010, die sich vor allem auf Reformen des Arbeitsmarktes konzentrierte? Ein Blick in die Statistiken:

Die Teilzeitarbeit hat von rund 7,1 Millionen Menschen 2003 auf 10,3 Millionen 2015 zugenommen, während Vollzeit von 24,8 lediglich auf 25,6 gewachsen ist. Als Erfolg mag man verbuchen, dass die unbefristeten Arbeitsverträge von 27,7 auf mittlerweile 31,1 im selben Zeitraum wieder gewachsen sind, die befristeten lediglich von 4,1 auf 4,6. Allerdings sind in den Vollzeitjobs auch Teilzeitjobs enthalten, die zugenommen haben. Ferner haben die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erstmals 2013 wieder das Niveau von 1992 erreicht (29 Millionen) und sind mittlerweile bei rund 31 Millionen angelangt, die allerdings nicht alle in Vollzeit arbeiten.

Der Grund, weshalb Gerhard Schröder sich zu seiner Agenda 2010 gedrängt fühlte, war ja auch, dass es weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gab und dadurch die Sozialversicherungssysteme unter Druck gerieten, weil sie weniger Einnahmen hatten. Dieser Rückgang zeichnete sich bereits 1994 ab und hatte mehr mit der prekären ökonomischen Gesamtsituation in Deutschland zu tun als mit dem Arbeitsmarkt alleine.

Denn nach der Entwertung der Ost-Mark durch die Währungsunion, der Deindustrialisierung und dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland musste diese wieder langsam aufgebaut werden. Wer rechnen konnte, wusste, dass das nicht unter 40 Jahren möglich ist, eher ist ein Zeitraum bis 50 Jahren angemessen. Daher das Augenmerk nur auf den Arbeitsmarkt zu werfen, war eine einseitige Reformpolitik.

Die Schwierigkeiten in der deutschen Wirtschaft sind weniger durch den Arbeitsmarkt als durch andere Faktoren bedingt gewesen, da es ab 2001 einschneidende ökonomische Probleme gab. Noch immer hatte die Deutsche Einheit enorme Transferzahlungen erfordert und der Arbeitsmarkt kam nicht in den Tritt, was sich an der Statistik und dem stetigen Rückgang der Beschäftigten ab 1994 sehen lässt. So fielen die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Ostdeutschland von 6,3 Millionen 1994 auf 4,9 in 2005 (im Westen waren sie seit 1994 bis 2007 vergleichsweise stabil), um dann erst langsam wieder anzusteigen (derzeit sind es um die 6 Millionen).

Dass damals die Regierung Schröder unter Druck geriet, weil die Einnahmen für die sozialen Systeme fehlten, mag verständlich sein; die Schuld allerdings nur bei den Arbeitslosen zu suchen, glich einer einfachen Ursache-Wirkungs-Erklärung, die in der Politik und bei Wirtschaftswissenschaftlern beliebt ist, um schnelle und ad hoc einleuchtende Lösungen zu finden, die allerdings viele Faktoren unberücksichtigt lassen. Da waren die Arbeitslosen, die keine Lobby hatten (und haben), nicht organisiert sind und auch durch einen Streik keinen Druck ausüben könnten, die einfachste scheinbare Lösung für die damaligen Wirtschaftsprobleme.

Ferner hat auch der Zusammenbruch des spekulativen Neuen Marktes ab 2001 die Wirtschaft, nicht nur in Deutschland, hart getroffen, was sich natürlich auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machte. Darüber hinaus hatte der Terrorangriff 9/11 im September 2001 in New York für monatelangen Stopp zahlreicher wirtschaftlicher Aktivitäten gesorgt. Und schließlich befanden wir uns in der Anpassungsphase der Europäischen Währungsunion, weshalb die Unternehmen erst mal abwarteten, wie sich der gemeinsame Euro-Markt entwickeln würde.

Daher waren die Probleme in den zahlreichen Veränderungen und Krisen der Wirtschaft selbst zu suchen und vor allem bei den anderen so genannten aggregierten Märkten: dem Gewerbe- und dem Kapitalmarkt.

Die vermeintlichen Erfolge der Agenda 2010 verdanken sich der Eurozone und der demografischen Entwicklung

Diese Sachverhalte sind ausgeblendet worden, aus welchen Gründen auch immer. Insofern kurierten die Reformen Gerhard Schröders die Symptome, nicht die wirklichen komplexen Ursachen. So lässt sich, als der Euro als Zahlungsmittel eingeführt war, ein Anstieg der Exporte Deutschlands in die Europäische Union ab 2003 feststellen (die Agenda 2010 wirkte, wenn überhaupt, erst später). Offensichtlich bildeten sich damals die ökonomischen Strukturen heraus, die noch bis heute für ein gutes Wirtschaftswachstum sorgten, und auch Ostdeutschland fand langsam Anschluss an die westliche Wirtschaft.

Der Arbeitsmarkterfolg der vergangenen Jahre liegt daher nicht unwesentlich im Erfolg der Euro-Zone, die für das Export-Land Deutschland unverzichtbar ist, und natürlich der Erholung der Wirtschaft insgesamt. Den immer rascher ansteigenden deutschen Exporterfolg ab 2003 den Reformen auf dem Arbeitsmarkt zuzuschreiben, ist eine gewagte These.

Ein wichtiger Grund für den Arbeitsmarkterfolg in Deutschland ist weiterhin darin zu suchen, dass wir die vergangenen 15 Jahre ein stagnierendes Bevölkerungswachstum hatten, ganz anders in Frankreich und Großbritannien. Verglichen mit diesen beiden Ländern müssten wir heute 89 Millionen Einwohner in Deutschland haben (aufgrund der Flüchtlinge haben wir derzeit etwas über 82 Millionen).

Insofern haben Frankreich und Großbritannien eine größere Anpassungsleistung erbracht, was die Integration von Menschen, auch in den Arbeitsmarkt anbelangt, als Deutschland. Unsere gute Arbeitsmarktsituation wird auch dadurch bestimmt, dass wir acht Millionen Menschen weniger (mittlerweile sind es sieben aufgrund der Flüchtlinge) zu versorgen und zu integrieren hatten und haben.

Die Arbeitsmarkterfolge sind also bescheidener als es aussieht. Auch dass wir mehr Erwerbstätige ab 65 Jahren haben, eine Steigerung um 500.000 die vergangenen 10 Jahre, dürfte damit zusammenhängen, dass viele Rentner arbeiten müssen, um etwas dazu zu verdienen, da die ständigen Rentenreformen die Renten immer weiter kürzten. Ob das ein Arbeitsmarkterfolg ist, sei dahingestellt.

Darüber hinaus ist es für einen 55-Jährigen immer noch schwierig und häufig fast unmöglich, eine adäquate Beschäftigung nach einer Kündigung zu bekommen. Jüngere Arbeitnehmer werden nach wie vor bevorzugt, obwohl es oft keine sachlichen Gründe dafür gibt, sondern Traditionen und alte Denkmodelle dies verhindern.

Eine Analyse ökonomischer Entwicklungen ist erforderlich, nicht nur eine Qualifizierung der Arbeitslosen

Wenn Martin Schulz bzw. die neue Regierung ab Herbst 2017 die Ökonomie als Gesamtheit nicht aus dem Auge verlieren will, dann muss nicht nur die Qualifizierung von Arbeitslosen verbessert werden, sondern auch die Qualifizierung der Unternehmen. Hier spielt die Personalpolitik eine sehr wichtige Rolle, die in manchen Unternehmen nicht effizient genug geleitet wird.

Darüber hinaus ist eine Analyse ökonomischer Entwicklungen nötig, die nicht nur den Arbeitsmarkt im Blick hat, weil dieser wesentlich bedingt ist durch die beiden anderen Märkte des Gewerbe- und Kapitalmarkts.

Diese Märkte kommen kaum in den Blick, weil sie offensichtlich nicht so anschaulich wie der Arbeitsmarkt darzustellen sind. Gerade das Massenmedium Fernsehen hat hier Mängel in der Berichterstattung. Simple Vorstellungen wie "Steuern runter, Arbeitsplätze rauf" erscheinen in Polit-Talks einleuchtender, erfassen die ökonomischen Probleme aber nur zu einem kleinen Teil. Dass Entlastungen die Wirtschaft übrigens nicht zwangsläufig ankurbeln, kann man an der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank sehen, die es bisher nicht geschafft hat, Wachstum auf europäischer Ebene zu erzielen, obwohl Geld eigentlich ausreichend vorhanden ist.

Die Politik der Entlastung begünstigt darüber hinaus in der Regel bestimmte soziale Gruppen, z. B. bei Steuerreformen, da hohe Einkommen meist doppelt profitieren durch höhere prozentuale Entlastungen einerseits, die sich andererseits aufgrund des höheren Einkommens wesentlich vorteilhafter auf die Steuerlast auswirken: Zehn Prozent von einer Million Einkommen sind hunderttausend, von einem Einkommen von vierzigtausend eben nur viertausend Euro.

Ökonomischer Erfolg wird nicht nur durch Kostensenkung durch geringere Löhne oder mittels Steuersenkungen erzielt, sondern hat komplexere Ursachennetzwerke. Das müsste mehr ins Bewusstsein gerückt werden, um Nutzen für alle zu vermehren. Sozialpolitik alleine ist ebenfalls nicht der Schlüssel zum Erfolg, wenn breites statistisches Zahlenmaterial berücksichtigt wird.

Komplexe ökonomische Sachverhalte werden in der öffentlichen Diskussion leider zu oft durch einfache, populistische Lösungsvorschläge ersetzt. Sie sind ein Pendant zu anderen populistischen Weltsichten.