Marx, dieser Linksextremist!
Seite 3: Meinungsbildung unter antiextremistischer Kontrolle
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Es geht also um einen Vorgang, den die schreibende Zunft, aber auch alle, die mit Bildungsarbeit in Schule oder außerschulischem Bereich zu tun haben, aufmerksam registrieren sollten. Hier wird eine Linie fortgesetzt, die der Verfassungsschutz bereits vor Jahren eingeschlagen hat, als hier und da eine Marx-Renaissance ausgerufen wurde.
Der Marxismus wurde, so der Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber, als verfassungsfeindliches Programm identifiziert, und zwar im Blick auf den Modus der Rezeption. 1
Wer also Marxens Ausführungen für richtig hält, ist ein Extremist und wird damit tendenziell aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt; wer sich aus einer Distanz heraus auf die Theorie bezieht und sie weiterentwickelt, revidiert, kritisiert etc., darf das ungehindert tun. Wobei diese Vorschrift noch ohne die Beanstandung der theoretischen Leistung von Marx auskam: Die Freiheit, sich bei der Kritik der politischen Ökonomie wie in einem Steinbruch zu bedienen, wurde gewährt. Die Auswahl der Theoriebausteine wird nun begrenzt, der Klassenbegriff kann demnach nicht mehr ohne Weiteres verwendet werden.
Speziell betrifft dieser Vorgang die politische Bildung. Seit Längerem versteht sich ja der Verfassungsschutz als eigenständiger Bildungsakteur, was in der Praxis zu weit ausgreifenden Maßnahmen führt. Ob Rechts- oder Linksextremismus, ob Islamismus und Salafismus oder Gewaltbereitschaft bei Fußballfans, ob Hatespeech oder Desinformation im Internet, ja sogar bei förderungsrechtlichen Fragen oder geschichtspolitischen Veranstaltungen – überall fühlt sich der Dienst zuständig, wie zuletzt noch einmal eine Gemeinschaftspublikation von VVN-BdA und Humanistischer Union deutlich gemacht hat.2 Und in der Extremismusfrage beansprucht er sowieso die politisch-theoretische Deutungshoheit.
Das jüngste Beispiel für einen solchen expansiven Kurs war die Konstruktion eines neuen extremistischen Tatbestands - "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" - zur Überwachung der "Querdenker-"Szene. Wenn dieses Konstrukt Bestand hat, müssen also jetzt Redaktionen, die über kritische Wortmeldungen oder Publikationen informieren, in ihrem Rezensionsteil etwa vor der genannten Publikation von Kerth/Kutscha warnen. Denn sie bezweifelt die offizielle staatliche Darstellung, dass der Verfassungsschutz die Verfassung schützt.
Professor Hajo Funke, der als Wissenschaftler die diversen NSU-Untersuchungsausschüsse begleitete, hat in einem Telepolis-Interview ebenfalls auf diesen Punkt aufmerksam gemacht und sich als "Delegitimierer" bekannt: Er bezweifelt nämlich, dass die Untersuchungsausschüsse zu den letzten Staatsschutzskandalen wirklich das Ziel der rückhaltlosen Aufklärung verfolgten.
Man sieht, die Zulassungsbedingungen zum öffentlichen Diskurs werden neu geregelt - und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bundesregierung nachdrücklich die Unterdrückung der Pressefreiheit in Ländern wie China oder Russland anprangert. Was bleibt, ist die Frage, was man zur Aufklärung gesellschaftlicher Sachverhalte heute noch sagen darf, ohne ins extremistische Fahrwasser und damit ins Visier des hochgerüsteten deutschen Sicherheitsapparates zu gelangen.
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