Massaker an Schule in Erfurt 2002: "Ja, dann ist Schluss!"

Seite 2: Was hat man gelernt? Was hätte man lernen können?

Was ist aus den Forderungen der Schüler und Studierenden geworden? Was hat man gelernt oder: was hätte man aus der Katastrophe von Erfurt lernen können?

In Familien sollte ein Klima herrschen, das es Kindern und Jugendlichen ermöglicht, alles sagen zu können. Wer die Erfahrung macht, dass man erlittene Niederlagen eingestehen darf, ohne die Zuwendung der Eltern zu riskieren, und in Notsituationen von einem unzerstörbaren Netz emotionaler Bindungen aufgefangenen zu werden, wird es selbst mit peinlichen Kränkungen und schlimmen Zurückweisungen aufnehmen können, die das Leben "draußen" bereithält.

Unwissenheit, die die Eltern von Robert S. für sich reklamiert haben, beruht zu einem großen Teil auf einem wie auch immer begründeten Desinteresse, oder andersherum: Eltern, die wissen wollen, ob ihr Sohn tatsächlich die Schule besucht und dort etwas lernt, erfahren das auch. "Wer denkt, es ist alles in Ordnung, obwohl nichts in Ordnung ist, der will auch glauben, es sei alles in Ordnung, weil er angesichts der erahnten Unordnung resigniert hat", kommentiert Wolfgang Schmidbauer die Haltung vieler heutiger Eltern.

Hätte sich Frau S. an jenem von ihr geschilderten Morgen zu Robert an den Küchentisch gesetzt und ihm Gelegenheit gegeben, zu erzählen und sein schulisches Scheitern einzugestehen, wäre es möglicherweise zur Tat nicht gekommen.

Am Ende von Fritz Langs Film M – eine Stadt sucht den Mörder fällt der Satz: "Wir müssen uns mehr um unsere Kinder kümmern." Was so einfach und banal klingt und die einzig wirksame Form der Prävention wäre: Dass für keinen und niemand die Kommunikation und der Bezug zur Welt abbricht, ist doch zugleich das Schwierigste.

Die Bereitschaft, sich umeinander und vor allem um Kinder zu kümmern, lässt sich nicht dekretieren, und solange mächtige Tendenzen, die in der Grundstruktur dieser Gesellschaft verankert sind, daran arbeiten, die Menschen in gegeneinander isolierte und miteinander konkurrierende Sozialatome zu verwandeln, werden viele Familien nicht mehr sein als das bloße Nebeneinander von sprach- und lieblosen Einsamkeiten.

Nach wie vor gilt, was Adorno in seinem berühmten Aufsatz "Erziehung nach Auschwitz" aus dem Jahr 1966 gesagt hat: "Vor allem aber kann man Eltern, die selber Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch."

Dass rund um die Jahrestage des Massakers in den Medien – und auch in diesem Text – der Name des Robert S. erneut genannt wird, gehört zu seinen posthumen Erfolgen und belehrt uns zugleich über ein möglicherweise zentrales Motiv solcher Täter. "Ich möchte, dass mich eines Tages alle kennen", hatte er im Vorfeld der Tat einer Mitschülerin anvertraut – und so ist es nun auch gekommen.

Wem es auf gesellschaftlich akzeptierte Weise nicht gelingt, Anerkennung zu finden, kann als Massenmörder und Negativ-Held in die Annalen der Zeitgeschichte eingehen. Die Medien erweisen sich als mächtige Komplizen von Tätern, die auf Anerkennung aus sind. Der Täter produziert den Schrecken in der sicheren Gewissheit, dass die Medien ihn verbreiten.

Im "Zeitalter des Narzissmus" (Christopher Lasch) besteht nur dann Hoffnung auf eine Eindämmung des School Shootings, wenn die mediale Resonanz möglichst gering ausfällt und jede Heroisierung der Täter unterbleibt. Gäbe es den medialen Hype nicht und würden Meldungen über Schulschießereien auf Seite sieben der Lokalzeitungen landen, gäbe es die Schulmassaker nicht oder doch in viel geringerem Ausmaß.

Vor allem dürfen keine Bilder des Täters in Aktion und Kampfmontur in Umlauf gesetzt werden, weil diese den "bösartigen Narzissmus" amokgefährdeter Jugendlicher auf besondere Weise stimulieren und sie zur Nachahmung geradezu animieren. Am besten wäre es, nicht einmal Fotos und Namen der Täter zu verbreiten.

Da jedes neuerliche Massaker uns ein zum medialen Paroxysmus gesteigertes Gegenbeispiel geliefert hat, könnte man auf die Idee verfallen, dass diese Gesellschaft – und damit wir alle – den Amoklauf unbewusst fördern, weil er uns mit Bildern beliefert, die wir schaudernd genießen, und weil er uns kurzfristig ein panikinduziertes Gefühl der Zusammengehörigkeit beschert.

Gesamtgesellschaftlich wäre aus der Erfurter Katastrophe zu lernen gewesen, dass wir gesellschaftliche Verhältnisse herstellen müssten, unter denen der Mensch dem Mensch kein Wolf mehr ist und sein muss und ihm weniger Bosheit eingepresst wird.

Wir müssten der Demontage des Sozialstaats Einhalt gebieten, den Wahnsinn der losgelassenen Märkte stoppen und Solidarität an die Stelle des entfesselten Konkurrenzkampfes setzen. Das wäre eine Form von sozialer Prävention, die langfristig den Nährboden austrocknen könnte, auf dem der Amoklauf gedeiht.