Massaker an Schule in Erfurt 2002: "Ja, dann ist Schluss!"

Vor zwanzig Jahren erschoss ein 19-Jähriger am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen. Inwieweit können oder müssen wir uns in der Tat wiederfinden?

Ich war zwanzig. Niemand soll sagen, das sei die schönste Zeit des Lebens.
Paul Nizan

Als Robert S. sich am Morgen des 26. April 2002 anschickt, das Haus zu verlassen, drückt ihn der Vater an der Tür an seine Brust und sagt: "Jetzt geht’s um die Wurst!" Die Mutter wundert sich, dass Robert eine uralte Hose mit großen Seitentaschen trägt. Kann man in einer schäbigen Cargo-Hose zur letzten schriftlichen Abiturprüfung erscheinen? "Lass den Jungen in Ruhe", denkt sie und sagt zu ihm: "Heute ist endlich Schluss." Im Gehen erwidert er: "Ja, dann ist Schluss."

Kurz vor elf Uhr betritt Robert S. mit Rucksack und Sporttasche die Schule und sucht eine Toilette auf. Ganz in Schwarz gekleidet und maskiert, kommt er wenig später heraus. Es ist, als hätte er sich durch diese Metamorphose in eine Figur aus einem seiner Ego-Shooter verwandelt.

Dieser liefert ihm nun auch die Choreografie für sein weiteres Vorgehen: Mit Pistole und Pumpgun bewaffnet, durchkämmt er systematisch das ganze Gebäude, geht von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, von Stockwerk zu Stockwerk.

Sobald eine Lehrerin oder ein Lehrer in sein Blickfeld gerät, feuert er gezielt auf deren Kopf. Zwei Mitschüler tötet er eher zufällig beim Durchschießen einer geschlossenen Tür. Gegen 11:15 trifft er im ersten Stock auf seinen ehemaligen Geschichtslehrer Heise. Inzwischen hat Robert S. angesichts chaotischer Zustände im Schulgebäude, fliehender und schreiender Schüler, leerer Räume und nahender Polizeisirenen die Kontrolle über die Situation verloren.

Er ist nicht mehr Herr der Lage und am Ende mit seinem mörderischen Latein. Der Amoklauf implodiert, die Metamorphose ist beendet, er verwandelt sich aus einer Ninja-Figur in Robert S. zurück.

Das ist Rainer Heises Rettung. Robert S. zieht die Maske vom schwitzenden Gesicht und steht ihm, mit der Waffe in der Hand, direkt gegenüber. "Du, Robert!", sagt Lehrer Heise: "na, dann erschieß mich auch!"

Robert erwidert: "Für heute reicht’s!" Der Lehrer schiebt ihn in eine Kammer und schließt von außen ab. Innen schießt Robert S. sich eine Kugel in den Kopf.

Seinem Amoklauf fielen zwölf Lehrerinnen und Lehrer, ein Mitschüler und eine Mitschülerin, eine Sekretärin und ein Polizist zum Opfer. Ihre Namen sind:

Peter Wolff, Hans-Joachim Schwertfeger, Dr. Birgit Dettke, Helmut Schwarzer, Hans Lippe, Monika Burghardt, Gabriele Klement, Susann Hartung, Ronny Möckel, Ivonne-Sofia Fulsche-Baer, Heidemarie Sicker, Carla Pott, Heidrun Baumbach, Anneliese Schwertner, Rosemarie Hajna, Andreas Gorski.

Gedenktafel am Gutenberg-Gymnasiums. Bild: Christoph Hoffmann / CC-BY-SA-2.0

Die Sache war die: Robert S. ging seit einem halben Jahr gar nicht mehr zur Schule. Das Gutenberg-Gymnasium hatte sich seiner Anfang Oktober 2001 durch einen Akt bürokratischer Exklusion entledigt, nachdem er geschwänzt und Atteste gefälscht hatte. Da Robert S. volljährig war, brauchte die Schule seine Eltern nicht zu informieren.

Der Schulverweis entzog seinem Lebensentwurf die Grundlagen und stürzte ihn wegen einer Besonderheit des damaligen thüringischen Schulgesetzes ins Nichts. Ohne jeden Bildungsnachweis drohte er zu dem zu werden, was man im sozialdarwinistischen Jargon der Gegenwart einen "Loser" nennt.

Am Abend des Schulverweises hob er Geld ab, zwei Wochen später kaufte er sich die Tatwaffe und wurde Mitglied des Schützenvereins "Domblick".

Da er sich von der realen Welt zurückgewiesen fühlte, zog er sich mehr und mehr in die virtuelle Welt der Computerspiele zurück, die sein lädiertes Selbstwertgefühl aufpäppelte und ihm ein Gefühl von Macht und Stärke vermittelte, dem in der Realität immer weniger entsprach.

Parallel dazu verstrickte er sich der Familie gegenüber in ein komplexes Lügengebilde. Das emotional kühle und leistungsfixierte Klima in der Familie S. hielt ihn davon ab, von seinem Schulverweis und seinem drohenden Absturz ins Bildungs-Nirwana zu berichten.

Er verließ morgens das Haus und verbrachte den ganzen Vormittag in einem Café. "Wie war dein Tag?", fragte die Mutter, wenn er nach Hause kam. "Ganz okay", sagte er und erzählte von der Schule, von wachsendem Druck und dem bevorstehenden Abitur. Dann verschwand er in seinem Zimmer und seiner Computerwelt.

Das Trainingsprogramm im Kinderzimmer: Wie man im Laufschritt und im Sekundentakt kaltblütig tötet, wie man Gebäude und Gelände strategisch sichert, wie man am schnellsten seine Waffe nachlädt. Alles per Mausklick, über Jahre, Level für Level.

Er trainierte sich systematisch das Mitleid ab, schwelgte in Rachefantasien und begann, sich intensiv mit Eric Harris und Dylan Klebold zu beschäftigen, die 1999 an der Columbine-Highschool in Colorado zwölf Mitschüler und einen Lehrer erschossen hatten.

Die Bilder der Überwachungskameras, die ihren mörderischen Auftritt in der Schulcafeteria festhielten, gelangten ebenso ins Internet wie die Handy-Notrufe der Opfer. So wurde Littleton zum Symbol für Schießereien an Schulen und Universitäten und liefert seither eine Art Blaupause für alle Nachfolger.

Indem Robert S. den Schulverweis zu Hause verschwieg und so tat, als wäre alles in Ordnung, begann er, wie Gerhard Mauz einmal gesagt hat, mit seiner Umgebung "Federball mit Dynamit" zu spielen. Denn zwangsläufig musste der Tag kommen, an dem seine Lügen auffliegen würden und er seinen Eltern mit dem Geständnis seines Scheiterns unter die Augen treten müsste.

Der letzte Tag der schriftlichen Abiturprüfungen wurde so zum Tag der Entscheidung, und er beschloss, die Widersprüche in der realen Welt, in die er sich heillos verstrickt hatte, nach dem eingeübten Modus der virtuellen Welt gewaltsam zu lösen.

"... dass ich nur ein einziges Mal hätte reagieren müssen."

In einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom 28.4.2003 hat Roberts Mutter ein Jahr nach der Tat eigene Versäumnisse eingestanden. Sie habe damals aus Zeitmangel und wegen privater und beruflicher Belastungen vieles übersehen oder nicht sehen wollen. Sie erinnert sich an eine bestimmte Szene:

Ein paar Monate vor der Tat saß Robert am Küchentisch und sagte: ‚Es hat alles keinen Sinn’. Ich habe nur geantwortet: "Was redest du für einen Quatsch?" Heute sage ich mir ständig, dass ich nur ein einziges Mal hätte reagieren müssen.

Ich erinnere mich, dass mir in den Tagen nach dem Massaker von Erfurt in der Stadt ein junger Mann begegnet ist, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck trug: "Erfurt – sind wir nicht alle ein bisschen Robert?"

Der junge Mann wirkte so, als ginge es ihm nicht lediglich darum, durch die provokative Verfremdung eines dümmlichen Werbeslogans Aufsehen zu erregen und einen Unterscheidungsmehrwert einzuheimsen. Seine auf dem Leib getragene Frage forderte sich und uns auf, den Täter nicht zu isolieren und zur Inkarnation des Bösen zu erklären, sondern uns in ihm und seiner Tat wiederzuerkennen.

Hätte unser junger Mann die Tagebücher von Max Frisch gekannt, hätte er auch - in leicht abgewandelter Form - die 22. Frage eines der dort formulierten Fragebögen auf sein T-Shirt drucken können: "Gesetzt den Fall, Sie sind noch nie Amok gelaufen: Wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?"

In Gedanken sind wir alle schon einmal Amok gelaufen. Wer hat nicht gelegentlich ein Gefühl der Klaustrophobie und verspürt die Lust, das grausame Spiel zu beenden und die Figuren mit einer wütenden Handbewegung vom Brett zu fegen? Wer könnte nicht gelegentlich alles kurz und klein schlagen? Im Internet kann man T-Shirts mit dem Aufdruck bestellen: "Ich lauf hier gleich Amok" – wohl einer der häufigsten stillen oder halblauten Stoßseufzer in Büros, Fabrikhallen und auf den Gängen von Behörden.

Die Halbwertszeit der öffentlichen Betroffenheit - und die Abschlussberichte

Die Halbwertszeit der öffentlichen Betroffenheit nach dem Massaker von Erfurt erwies sich als erstaunlich kurz. Vier Wochen befand sich die Republik in Aufregung und auf der hektischen Suche nach Erklärungen, dann legte sich der Sturm und es ging "normal" weiter.

Der damalige thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel eröffnete den Verdrängungsprozess und gab die Richtung vor, indem er unmittelbar nach der Tat von einem "Unheil" sprach, "das vom Himmel gefallen ist." Das Massaker war ein Ereignis wie das Erdbeben von Lissabon, und gegen so etwas kann man nichts tun, da hilft nur Beten.

Der Staat lebt vom Glauben seiner Bürger, durch ihn vor Unsicherheiten und Gefahren aller Art bewahrt zu werden. Da es gegen den Amoklauf so gut wie keine kurzfristig wirksamen Präventionsmöglichkeiten gibt, muss der Staat wenigstens so tun, als gäbe es sie.

Um die durch die monströse Erfurter Tat erschütterte Innerlichkeit und Loyalität der Bürger zu restabilisieren, verabreichte man ihnen die üblichen Palliativa aus der sicherheitspolitischen Hausapotheke: Man verschärfte das Waffenrecht geringfügig, novellierte das Jugendschutzgesetz und änderte das Schulgesetz von Thüringen, das Robert S. ins Bodenlose hatte stürzen lassen.

Ein im Juni 2002 vorgelegter "vorläufiger Abschlussbericht" erklärte die Tatmotive für geklärt. Dieter Althaus, Vogels Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, verkündete noch Anfang 2004: "Zu Gutenberg ist alles gesagt. Der Fall ist geklärt und durch den vorläufigen Abschlussbericht des Innenministeriums ausreichend dargestellt." Althaus fuhr kurz und knapp fort: "Robert Steinhäuser ist ein Mörder, und das hat nichts mit der Schule oder dem Schulsystem zu tun."

Für Althaus stand fest: Der "Böse" ist der andere, er heißt Robert S. und ist tot. Damit konnte alles so bleiben, wie es war, und so weitergehen wie bisher.

Nach Protesten gegen die Inhaltslosigkeit und Vagheit des vorläufigen Abschlussberichts und wegen der vielen weiterhin offenen Fragen, setzte man dann doch eine "Kommission Gutenberg-Gymnasium" ein, die im April 2004 einen voluminösen Bericht vorlegte. Er war mit seinen 371 Seiten vor einer breiteren Rezeption geschützt und begrub die Zweifel unter einer Unmenge sogenannter Fakten und Details.

Das Gutenberg-Gymnasium wenige Tage nach dem Amoklauf. Bild: ASK / CC-BY-SA-3.0

Einem Täter, der sich am Ende seines mörderischen Wütens selbst tötet, kann man keinen Prozess machen, eine forensische Auseinandersetzung mit Tat und Schuld findet nicht statt. Unsere Bedürfnisse nach Aufklärung der Hintergründe der Tat, einer Verantwortungsübernahme durch den Täter und seiner Bestrafung gehen ins Leere.

Ein Amoktäter, der sich am Ende selbst tötet, bringt uns um die Erfahrung, der irdischen Form der Gerechtigkeit bei der Arbeit zusehen zu können und frustriert unsere Erklärungs-, Kausalitäts- und Vergeltungsbedürfnisse. "Aha, das ist es also!" würden wir irgendwann gern sagen können, um dann erleichtert zur Tagesordnung zurückzukehren.

An die Stelle einer forensischen Aufklärung treten in einem solchen Fall Fantasien, Spekulationen über "das Böse im Menschen", simple mediale Konstrukte oder das Versprechen der Wissenschaft, demnächst "Muster", "Patterns" zu finden, die eine Früherkennung potenzieller Täter und damit eine wirksame Prävention ermöglichen sollen. Oder, können wir im Erfurter Fall hinzusetzen: regierungsamtliche Abschlussberichte.

Im August 2005 wurde der Schulbetrieb im umgebauten und gründlich sanierten Erfurter Gutenberg-Gymnasium mit einer Feierstunde wieder aufgenommen. Neben dem Eingang brachte man eine Gedenktafel mit den Namen der sechzehn Getöteten an. Gesellschaften und Gemeinschaften brauchen Orte der Erinnerung und kollektive Rituale zur Bewältigung eines Traumas, um ihr erschüttertes Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Es gibt allerdings Formen der Erinnerung, die in Wahrheit eher das Vergessen befördern. Man schafft, salopp gesagt, "Kranzabwurfstellen", Orte, an denen man an Jahrestagen Blumen niederlegt, Kerzen entzündet und sich einer ritualisierten Gedächtnisübung unterzieht, um hinterher umso schneller vergessen zu können und über die Ursachen der Gewalt nicht reden zu müssen.

Auf der Erfurter Gedenktafel findet sich über den Namen der Opfer die Inschrift: "Verbunden mit der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Gewalt." Das ist angemessen und klingt gut, aber hat man auch etwas unternommen, damit die am Ort des Schreckens artikulierte Hoffnung zu einer aufgeklärten, fundierten und geprüften Hoffnung wird, die mehr und etwas anderes ist als ein frommer Wunsch und Beschwichtigung?

Wer nach dem Massaker auf eine Form von Katastrophendidaktik gesetzt hatte, sah sich bald enttäuscht. Selbst die größten anzunehmenden zwischenmenschlichen Unfälle scheinen keinen prinzipiellen und nachhaltigen Zweifel an der Gangart des gesellschaftlichen Prozesses auszulösen. Staat und Gesellschaft lassen es sich etwas kosten, die Ursachen der Gewalt bestehen zu lassen und ihre Folgen mit technischen und repressiven Mitteln zu bekämpfen.

Die Erfurter Schülerinitiative "Schrei nach Veränderung" stellte schon wenige Monate nach der Tat fest, dass "vielerorts wieder Normalität eingekehrt" sei. Das mögen die meisten von der Tat Betroffenen und auch die Bürger der Stadt Erfurt mit Erleichterung zur Kenntnis genommen haben, wenn aber Massenmörder nicht, wie Bernhard Vogel anzunehmen scheint, von einem fremden Stern stammen, sondern unserer Normalität entspringen, ist die Rückkehr dieser Normalität eher ein Grund zur Besorgnis.

Am 18. Juli 2002 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Aufruf Erfurter Schüler und Studierender, in dem gefordert wurde, sich "verstärkt mit den gesellschaftlichen Ursachen dieser Tat auseinander zu setzen", weil nur deren Kenntnis es ermögliche, ähnlichen Taten vorzubeugen.

Insbesondere müsse der Leistungsbegriff hinterfragt werden, der das Bildungssystem beherrsche und dafür verantwortlich sei, dass unablässig Verlierer produziert würden, die den vorherrschenden Idealen nicht entsprächen und in der Folge leicht in eine Position abseitiger Verzweiflung gerieten.