Massaker an Schule in Erfurt 2002: "Ja, dann ist Schluss!"

Seite 4: "Es hätte nur jemand mit mir reden müssen"

Was hätten wir aus Erfurt lernen können und was gilt es nach wie vor zu verändern? Je mehr die Elternhäuser in ihren sozialisierenden, prägenden und Kinder und Jugendliche bergenden und haltenden Aufgaben und Funktionen ausfallen, desto mehr müssen Schulen zu Schutzräumen und "verlässlichen Orten" (Oskar Negt) werden, in denen sie sich unter Bedingungen raum-zeitlicher Kontinuität und Verlässlichkeit zu Menschen entwickeln können.

Es ist nicht länger hinzunehmen, dass in unseren Schulen Subjektivität und Innerlichkeit der Schüler (fast) nur als Störung vorkommen.

Die Subjektivität der Schüler muss noch in ihren verqueren Ausdrucksformen ernst genommen und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen leibhaftigen Menschen werden, die sich gerade in solchen Auseinandersetzungen als Menschen zu erkennen geben. Es kann nicht sein, dass Schüler, die leistungsschwach sind oder "stören", bürokratisch entsorgt werden. Kinder und Jugendliche brauchen Zuwendung am meisten, wenn sie sie am wenigsten "verdienen".

Das einzige Antidot gegen die Gewalt sind emotionale Bindungen der Schüler untereinander, an ihre Schule und Lehrer und ein lebendiges, offenes Schulklima, das es möglich macht, über alles zu reden. Nur auf diese Weise kann verhindert werden, dass einzelne Schüler oder ganze Gruppen aus von der Schule gestifteten Bezügen herausfallen und dauerhaft an den Rand gedrängt werden.

"Es hätte nur jemand mit mir reden müssen", hat ein amerikanischer School Shooter auf die Frage geantwortet, was hätte passieren müssen, um seinen Amoklauf zu verhindern. Schulen benötigen das, was bürokratischen Institutionen eigentlich wesensfremd ist, also widrigen Verhältnissen abgerungen werden muss: Einfühlungsvermögen und Sensibilität für besondere Umstände.

Nur so sind Schulgemeinschaften imstande, die Folgen von Verletzungen wahrzunehmen, die die Schule einzelnen Schülern zufügt, und die Warnsignale aufzufangen, die die Verletzten und Gekränkten aussenden, bevor sie zur Gewalt greifen.

Routine, Bequemlichkeit und Indifferenz sorgen im Schulalltag dafür, dass solche Vorzeichen übersehen werden: die Äußerung von Suizidabsichten oder tiefer Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, dauerhafte Mobbing- und Dissing-Attacken gegenüber bestimmten Schülern, das Abdriften in gewaltgesättigte virtuelle Welten, apokryphe oder offene Andeutungen, dass "demnächst irgendetwas passieren wird", das Erstellen von "Todeslisten", die intensive heroisierende Beschäftigung mit anderen Amokläufern und die Übernahme von deren Zeichen- und Symbolsystemen.

Bei all dem präventiven Eifer, den man seit Erfurt an Schulen betreibt, wird häufig übersehen, dass alle spektakulären Schulschießereien in Deutschland nicht von aktuellen, sondern von ehemaligen Schülern begangen wurden. Die Täter von Freising, Erfurt, Emsdetten und Winnenden kehrten nach mehr oder weniger großem zeitlichem Abstand an ihre ehemaligen Schulen zurück, um dort für vergangene und gegenwärtige Kränkungen Rache zu üben.

Ein noch so ausgefuchstes "Bedrohungsmanagement" an diesen Schulen hätte also gegen diese Taten nichts auszurichten vermocht. Es sei denn, man hätte in Erfurt die bürokratische Entsorgung eines Schülers verhindert oder fürsorglich aufgefangen.

Ehemalige Schüler befinden sich häufig auf irgendwelchen Abstellgleisen im Niemandsland zwischen Schule und Beruf, Pubertät und Erwachsensein und wissen nicht, gegen wen sie ihre ohnmächtige Wut wenden sollen. Diese sucht sich dann ein Ersatzopfer, einen Sündenbock, der die Wut auf sich zieht, weil er verletzlich und greifbar ist und/oder weil er mit vergangenen Kränkungen assoziiert wird, die sich mit den gegenwärtigen trübe verfilzen.

Die wirksamste Form der Prävention gegen eskalierende Gewalt ist und bleibt eine soziale: ein von Empathie und Vertrauen getragenes Klima der Aufmerksamkeit und wechselseitigen Sorge.

Jedes hysterische Agieren, das auffällige Schüler vorschnell verdächtigt, droht das informelle Frühwarnsystem, das eine halbwegs intakte Schulgemeinschaft hervorbringt, zu zerstören. Nicht jede Verhaltensauffälligkeit darf behördliche Nachstellungen und sozialarbeiterische oder psychotherapeutische Zwangszuwendung auslösen. Die Ausbreitung einer Fahndungsmentalität würde Gewaltphantasien in den Untergrund abdrängen, wo sie sich der kommunikativen Bearbeitung und Entschärfung entziehen.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint regelmäßig bei der GEW Ansbach.