Massaker an Schule in Erfurt 2002: "Ja, dann ist Schluss!"

Seite 3: Universum permanenter Verteidigung und Aggression

Die Menschen des neoliberalen Zeitalters leben in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression und werden von der Angst umgetrieben, aus der Gesellschaft, ja aus der Welt herauszufallen und einen sozialen Tod zu sterben. Wer seine Arbeit verliert, verliert ja weit mehr als seine Arbeit. Er büßt seine Gesellschaftlichkeit ein, das Gefühl gebraucht zu werden, die Bindung an einen Ort, an dem man abends zu ihm sagt: "Schönen Feierabend und bis morgen!"

Wer von der Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess ausgeschlossen wird, kann leicht fallen – und wohin fällt er dann unter heutigen Bedingungen? Welche Netze halten seinen Sturz auf? Da ist kein Glaube mehr, der tröstet, kein gewerkschaftlich-politisches Milieu, das den Verlust mit Sinn ausstattet und in gemeinsamen Widerstand überführt. Persönlichkeitsstörungen, die im geregelten Alltag leidlich eingekapselt waren, können nun aufbrechen.

Gelingt der Rückweg in die Normalität nicht, wird der aus der Welt gefallene Mensch mehr und mehr von seiner Tagtraumwelt aufgesogen. Er brütet über seinen inneren Unglücksvorräten und droht in den Bann einer destruktiven Dynamik zu geraten, die sich schließlich suizidal oder amokartig entladen kann. Es ist gewiss kein Zufall, dass sich der Amoklauf im neoliberalen Zeitalter aus einem zuvor seltenen Ereignis zu einer grausigen Mode entwickelt hat.

Seit Mitte der 1970er Jahre hat es weltweit weit mehr als 100 sogenannte School-Shootings gegeben, die meisten davon in den USA, gefolgt von Kanada und Deutschland. Aber das School Shooting ist nur die jugendliche Variante dessen, wofür sich der aus dem Malaiischen stammende Begriff "Amok" durchgesetzt hat.

Das Gros der amokartigen Taten wird von Männern um die vierzig begangen, die im Vorfeld der Tat einen sozialen Tod gestorben sind und nun ihre verlorene Gesellschaftlichkeit nur noch tödlich wiederherstellen können, indem sie in ihren Untergang so viele Menschen wie möglich mitreißen.

Wenn der mit den Zwängen der weltweiten Konkurrenz begründete Trend zu Rationalisierung und Stellenabbau sich fortsetzt, große Teile der Jugend ohne jede Perspektive bleiben und ältere, leistungsschwächere, psychisch labile und mental unflexible Menschen weiter aus dem Arbeitsprozess heraus- und in eine Anomie-Position hineingedrängt werden, droht der Amoklauf zur kriminellen Signatur des Zeitalters des globalen Kapitalismus zu werden.

Die Schulen haben sich in den letzten Jahrzehnten von Markt und Industrie unter Kuratel stellen lassen, statt "Erfurt mitzudenken" und sich in Richtung einer menschlicheren Schule zu entwickeln, wie es Erfurter Schüler nach dem Massaker gefordert hatten.

Dabei quittiert die Rede von den "Sachzwängen", denen man sich zu beugen habe, nur den Umstand, dass wir – die Bürger eines dem Anspruch nach demokratischen Gemeinwesens – es nicht wagen, die "Sachen", die ja in Wahrheit menschliche und von Menschen hervorgebrachte Verhältnisse sind, in eine andere, menschenförmige Richtung zu zwingen.

Man will uns die Funktionsweisen der herrschenden Ökonomie und Gesellschaft als Naturgesetze verkaufen und Menschen, die das nicht akzeptieren wollen, in die Position desjenigen rücken, der so töricht ist, einem Erdbeben Vorwürfe zu machen.

Mit großem medialem und propagandistischen Aufwand soll verhindert werden, dass jene angeblich ehernen Marktgesetze, deren perfekte Grausamkeit man uns gegenüber als ein Naturfaktum darstellt, den Menschen plötzlich gestehen würden, dass sie sie ja selbst gemacht haben und also auch verändern können.

Wenn wir uns auf unsere Stärke und gestalterischen Möglichkeiten besännen, könnten wir also durchaus darauf bestehen, Schulen und Universitäten dem Zugriff des Kapitals zu entziehen und sie in der Tradition der Aufklärung an der regulativen Idee der Mündigkeit auszurichten.

Das aufsteigende Bürgertum hatte Mündigkeit zu seinem Kampfbegriff gemacht und Bildung zu einem Instrument der Emanzipation. Freilich blieb der Anspruch, Bildung mit Mündigkeit zu verbinden, auf die bürgerliche Klasse beschränkt, die ihn, zu Reichtum und Macht gelangt, immer stärker einschränkte und schließlich wieder loszuwerden versuchte.

Mündigkeit und ihre Strangulierung wachsen auf dem gleichen Holz, und es käme heute darauf an, den ursprünglichen Gehalt von Bildung wieder freizulegen, sie von ihren klassenspezifischen Beschränkungen zu befreien und als Instrument der Befreiung aller zu konzipieren.

Wenn wir soweit wären, würden wir schnell feststellen, dass sich das Kapital seine kostenlosen Bildungszulieferbetriebe nicht kampflos entreißen lassen wird und wir nicht umhinkommen, den betriebswirtschaftlichen Imperialismus insgesamt zu bekämpfen und der Ökonomie vernünftige gesellschaftliche Ziele vorzugeben, denen sie zu dienen und sich unterzuordnen hat.