Materie und Antimaterie - sind sie wirklich Todfeinde?
Unerwartet mögliche Kombinationen aus Materiemolekülen und Antimaterie-Positronen eröffnen neue Wege in der Chemie
Was geschieht, wenn ein Materieteilchen auf sein Antiteilchen trifft ? Ein Strahlungsblitz - und es ist vorbei. Doch wie nahe müssen sich die beiden Teilchen dazu kommen und wie lange können sie nebeneinander bestehen, bis es knallt? Die einfache Frage danach, wie kurz oder wie lang Materie und Antimaterie eigentlich koexistieren können, führt auf überraschende Antworten, denn die Chemie eines gemischten Systems würde nicht nach dem Lehrbuch ablaufen.
Die vereinigte Theorie der elektromagnetischen und schwachen Wechselwirkung beschreibt, was geschieht, wenn Materie auf Antimaterie trifft: Im Falle einer Kollision von Teilchen und Antiteilchen werden beide vernichtet (Annihilation) und in elektromagnetische Strahlung umgewandelt, entsprechend der Äquivalenz von Masse und Energie. Ein Maß dafür, wie nahe die Begegnung sein muss, um die Annihilation auszulösen, ist der sogenannte Wirkungsquerschnitt - angegeben als Fläche, wie die einer Zielscheibe.
Cliff Surko, Physiker an der University of California in San Diego, experimentierte 1987 mit Positronen, den Antiteilchen des Elektrons. Er hielt sie mit Hilfe elektrischer und magnetischer Wechselfelder in einer sogenannten Ionenfalle fest, um ihre Überlebensdauer zu untersuchen. Die Erwartung war, dass es - unter Hochvakuum - ungefähr eine Minute dauern würde, bis die Positronen auf Materie träfen und zerstrahlten. Im Experiment dauerte es jedoch nur 0,3 Sekunden!
Manchmal knallt es viel zu schnell...
Wenn es sich nicht um einen Messfehler oder eine Verunreinigung handelte, war der Wirkungsquerschnitt also viel größer als erwartet. Durch gezielten Beschuss verschiedener Atome und Moleküle mit Positronen fand Surko im Laufe mehrerer Jahre heraus, dass der Wirkungsquerschnitt viel stärker variierte, als es das einfache Kollisionsmodell vorhersagen konnte - die Diskrepanz betrug in einigen Fällen mehrere Zehnerpotenzen.
Gleb Gribakin von der Queen's University in Belfast ging mit seinen Überlegungen zu diesem Problem von dem sogenannten Positronium aus, einem Elektron-Positron-Paar, das sich ähnlich wie ein Wasserstoff-Atom verhält: Nach außen elektrisch neutral - im Inneren durch elektrische Anziehungskräfte gebunden. Dieses Materie-Antimaterie-Hybrid mit einer Lebensdauer von 100 Nanosekunden wurde 1951 von Martin Deutsch am MIT, Cambridge, entdeckt. Angenommen, ein Positron könnte mit der Elektronenhülle eines Atoms wechselwirken, entstünde dann eine Bindung, die ein Hüllenelektron und das Positron zueinander zieht? Seine Vermutung wurde von Jim Mitroy und Gregory Ryzhikh von der Charles Darwin University in Darwin, Australien unterstützt. Sie stellten ein Modell vor, wonach ein Positron mit einem Lithium-Atom ein Hybrid bilden kann, das etwa eine Nanosekunde besteht, bevor eines der drei Hüllenelektronen mit dem Positron zusammentrifft.
Gribakin steuerte nun die Überlegung bei, dass Moleküle beim Einfangen von Positronen besonders effektiv sein sollten, wenn die Bewegungsenergie des Positrons der Anregungsenergie für eine Eigenschwingung des Moleküls entspricht. Vor kurzem konnte Surko beim Beschuss von Butan mit Positronen einen experimentellen Nachweis für diese Idee liefern: Das Problem der großen Wirkungsquerschnitte war der Lösung wesentlich näher gebracht. Gleichzeitig war die Vermutung erhärtet, dass tatsächlich ein gebundener Zustand von Positron und Elektronenhülle existiert.
Soweit, so gut - doch die eigentliche Revolution liegt in dem, was während der äußerst kurzen Zeit geschehen könnte, in der das Positron in der Elektronenhülle des beschossenen Atoms oder Moleküls gebunden ist: Das Pauli-Verbot würde elegant umgangen! Dem Pauli-Ausschlussprinzip nach können zwei Fermionen, beispielsweise Elektronen, nicht den selben Quantenzustand einnehmen. Insbesondere können sich nicht mehr als zwei von ihnen - mit jeweils entgegengesetztem Spin - im gleichen Orbital der Elektronenhülle aufhalten. Ein Positron und ein Elektron hätten dagegen miteinander überhaupt keine Platzprobleme!
...manchmal vertragen sich Materie und Antimaterie dagegen vorbildlich!
Da praktisch alles in der Chemie auf der Wechselwirkung der Elektronenhüllen der beteiligten Atome beruht, wäre eine kontrollierte Umgehung des Pauli-Verbots ein Weg zu ganz neuen Reaktionen. Aufregende Ansätze gibt es bereits:
Ein Hybrid aus einem Wasserstoff- und einem Antiwasserstoff-Atom müsste sich leichter bilden und enger binden als das normale Wasserstoffmolekül. Wie das Hybrid aussehen müsste, haben Alexander Dalgarno vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge, Massachusetts und Bernard Zygelman von der University of Nevada, Las Vegas berechnet. Antiwasserstoff-Atome (bestehend aus einem Antiproton und einem Positron) sind bereits in großer Zahl durch die ATHENA-Arbeitsgruppe am CERN in Genf hergestellt worden. Dort hofft man auch, bald ein solches Wasserstoffhybrid erzeugen zu können.
Eine andere Einsatzmöglichkeit für Antimaterie untersucht Nella Laricchia am University College in London: Positronenbeschuss kann ein Molekül in andere Teile zerlegen, als es mit Elektronenbeschuss möglich ist: Die Energie des Positrons könnte mit viel größerer Zielgenauigkeit an einen bestimmten Ort im Zielmolekül gebracht werden als die anderer Teilchenarten - die Rede ist von einer "molekularen Schere".
Und schließlich könnte es sein, dass wir bereits Antimaterie bei der Arbeit zusehen, ohne es zu merken: in unserer Milchstraße, wo Antimateriejets aus Schwarzen Löchern oder von Supernovae auf die interstellare Materie treffen. Die resultierenden Annihilationsvorgänge könnten von Gammastrahlen-Detektoren nachgewiesen werden, etwa vom INTEGRAL-Satellit der ESA.
Der Nachweis für solche exotische Chemie zwischen den eigentlich absolut unverträglichen Gesellen steht zwar bislang noch aus, gelingt er aber, sind die Möglichkeiten faszinierend - von der theoretischen Grundlagenforschung bis hin zur praktischen technischen Anwendung.