Medienrevolution oder Tagebücher

Was ist dran am Weblog-Phänomen?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bekanntlich sind sich US-Amerikaner und alte Europäer häufiger uneins, wenn es um die Einschätzung einer aktuellen Situation geht. Zur Zeit lässt sich das einmal mehr an den unterschiedlichen Bewertungen des Weblog-Phänomens beobachten.

Während Ann Moore, Chefin des Time-Verlages, jüngst sagte, sie habe mehr Angst vor den "unkontrollierten Medien im Web" - also Blogs und andere unabhängige Publikationen - als vor der gerade stattfindenden Medienkonzentration, erklärt hierzulande Ute Miszewski, zuständig für Unternehmenskommunikation der Spiegel-Gruppe, Weblogs für journalistisch nicht relevant, da es sich ja lediglich um die Arbeit von Amateuren handele. Menschen ohne spezielle Ausbildung seien schlicht nicht in der Lage Qualität abzuliefern.

Zum einen basieren solcherlei Unterschiede in den Beurteilungen sicherlich auf soziokulturell abweichenden Grundmentalitäten, nicht zuletzt aber auch auf nüchternen, quantitativen Konstellationen: Die Zahl der aktiven Weblogs wird in den USA auf über eine Millionen geschätzt, wohingegen sich vielleicht gerade einmal 5.000 Autoren in der germanischen Blogosphäre tummeln. Aber: Erfahrungsgemäß erreichen ja neue Entwicklungen im Internet unseren Kontinent erst mit einiger Verzögerung.

Da hierzulande die Medien das Thema immer noch gerne unter der verniedlichenden Bezeichnung "Netztagebücher" abfrühstücken und selbst Internet-Poweruser beim Wort "Blog" oft genug nur mit den Schultern zucken, scheint es angemessen, diese Erscheinung einmal etwas genauer auszuleuchten.

Meine Lieblingsdefinition für ein Weblog stammt von Sascha Kösch, dem Mitherausgeber der Monatszeitung De-bug.de:

Du hast doch sicher schon mal Raumschiff Enterprise gesehen oder? Da schreibt doch der Captain jeden Tag so ein Logbuch, richtig? Und da wir uns ja alle kein Raumschiff leisten können, gibt es da so, wie die Maus sagen würde, Webseiten, die machen das für einen. Nur die Einträge muss man noch selber tippen. Und dann kommen ganz viele Leute und gucken das an, und dann ist das, wie wenn eine ganze Flotte hinausfährt, hin zu neuen Ufern, die noch nie ein Mensch gesehen hat.

Ein Mensch, ein Publishing-Tool, eine Website. Darum geht es. Oberflächlich. Genauer betrachtet löst das Internet mit den Weblogs aber endlich das Versprechen ein, ein Publikationskanal für jedermann zu sein. Es geht um nichts geringeres, als um die Re-Demokratisierung des Netzes, um die Rückeroberung des Webs durch seine Nutzer. Große Medienhäuser und Verlage haben schlagartig nicht länger das Informationsmonopol. Jeder kann ein Thema aufgreifen, referieren, kommentieren, es zur Diskussion stellen und auf weitere Quellen verlinken. Und Linken ist eine der Lieblingsbeschäftigungen der Blogger.

Der Autor Elbert Hubbart sagte einmal: "Redakteure trennen die Spreu vom Weizen - und veröffentlichen die Spreu". Blogger verlinken und kommentieren den Weizen.

Kommunizierende Röhren

Weblogs und Online-Magazine aus dem klassischen Journalismus leben in einer lustigen Symbiose miteinander: Blog-Autoren verlinken Artikel, kommentieren mal spitz, mal böse, mal zustimmend und können so mitunter eine ganze Aufmerksamkeitslawine lostreten, denn unter Weblogs ist nichts so ansteckend, wie ein interessanter oder unterhaltsamer Link.

Wie die Köschsche Blog-Definition unter Verwendung der Raumschiffflotten-Metapher bereits nahe legt: Weblogs kommen selten solo daher. Zwar schwirren ihre Piloten meist im Alleinflug durch die Infosphäre, tanken hier an einer Newsstation, landen dort auf einem Datenplaneten, durchfliegen einen Faktensturm oder drehen zwischendurch eine Diskussionsschleife; mit Hilfe von Blogrolls, Trackback, Pingback und RSS halten sie trotzdem ständig Kontakt miteinander und informieren sich gegenseitig über neue Infofunde und bisher unbekannte Lebensformen. Ein teils dicht, teils lose geknüpftes Nervensystem verbindet die Einzelschiffe der Flotte, die kein Mutterschiff nötig hat und bei der jeder sein eigener Kapitän ist, selbst wenn man häufig mal in die gleiche Richtung fliegt.

Selbst wenn einige Blogs nur von einigen Dutzend Lesern besucht werden: sollte es sich bei diesen ebenfalls um Blogger handeln, verbinden sich viele kleine Aufmerksamkeitsrinnsale schnell zu einem Strom mit beachtlicher Fließgeschwindigkeit. Die Gesamtheit der Blogs bildet ein selbstorganisierendes, sich in ständiger Metamorphose befindliches Tentakelwesen, das seine Fühler und Fangarme unberechenbar und spontan in unvorhersehbare Gebiete und Regionen schiebt. Ein Albtraum für jeden Marketing-Menschen.

Die Aufgabe von Seismographen, die Aufmerksamkeitswellen oder ihr vorauseilendes Grummeln und Vibrieren anzuzeigen, übernehmen dabei Blog-Indicies, wie Blogdex, Daytop, Popdex oder Technorati. Spider hüpfen ständig von Blog zu Blog und sammeln dabei Links ein, die dann in Form von Popularitäts-Charts dargestellt werden. Amüsanterweise erzeugen diese Indicies erneut Aufmerksamkeitsströme, welche die Bekanntheit der Chartplatzinhaber nur noch erhöhen, ihre Verlinkung verstärken und so den Trend festigen. Eine klassische Feedbackschleife tritt da in Aktion.

Und auch noch eine ganz andere Spezies der Netzbewohner frequentiert regelmäßig diese Frühwarnsysteme für Themen und Trends: Journalisten durchwühlen die Indices regelmäßig auf der Suche nach Inspirationen für eigene Artikel. Da diese Beiträge dann wiederum den momentanen Vorlieben der Blogger entsprechen dürften, schließt sich der Kreis endgültig und siehe da: Die kleinen Blog-Dinger haben den großen Magazinen ein Thema aufs Auge gedrückt. Und schon ist die klassische Sender/Empfänger-Rollenverteilung gehörig ins Wanken geraten.

Blogger hielten die Problematik um die unsichere Software der E-Voting-Maschinen in den USA am Dauerköcheln, bis auch die großen Medien nicht mehr daran vorbeikamen, ebenso wie an der Tatsache, dass NYT-Chefredakteur Howell Raines nach Aufdeckung des Tim-Blair-Skandals zunächst noch heftig an seinem Stuhl klebte. Und auch das Sommerloch-Amusement der Flash-Mobs hätte seinen Weg in die Offline-Medien nie ohne die fleißig berichtenden Blogger antreten können.

Leben in der Blogosphäre

Diese Trend-O-Meter-Funktion dürfte es auch sein, die Google zum Kauf von Blogger veranlasst hat. Die Kombination aus automatischen Suchrobotern und biologischen News- und Themen-Detektiven könnte Google in eine eigene Liga katapultieren: Wo auch immer gerade eine Thematik heiß diskutiert und kommentiert wird: Google weiß es zuerst.

Blogs fungieren als Katalysator, sie werden den Journalismus von heute transformieren.

Paul Andrews

Frequenz und Amplitude dieser Schwingungen im Grundsystem der Publizistik nehmen in letzter Zeit erheblich zu, denn Blogs liefern nicht nur Links und Kommentare, sondern auch eigenen Content. Auch Wissenschaftler und Journalisten erfreuen sich zunehmend an der Freiheit des One-Click-Publishing.

Das Grundprinzip des Filterns und Veröffentlichens wird innerhalb der Blogosphäre dabei auf den Kopf gestellt: Sorgen in klassischen Redaktionen Konferenzen, Korrekturen und Hierarchien für eine Filterung, bevor ein Artikel erscheint, so wird in einem Weblog zuerst veröffentlicht und danach übernehmen die Leserschaft und die Nachbar-Blogs die Rolle des Korrektivs.

Die Blogosphäre ist ein raue und rohe Region. Ungeschliffen und unpoliert erreichen Informationen, Meinungen und Standpunkte die Oberfläche. Aber: Selten bleibt eine These unwidersprochen, eine Ansicht unkommentiert. Das Leben in Blogistan ist ein sehr aktiver Prozess und sehr viel lauter als nebenan im Zeitungsland.

Deine Leser wissen immer mehr als Du

Dan Gilmor

Bloggende Journalisten auf der einen Seite und Blogger, die den Weg über den Kolumnisten bis hin zum Buchautor gehen (wie im Falle Salam Pax) auf der anderen: Die Diskussion darüber, was Journalismus ist und welche Gestalt er in Zukunft annehmen wird, ist bereits in vollem Gange. Netzauguren heizen die Debatte obendrein mit Vorhersagen an, die besagen, bis 2021 würden fünfzig Prozent aller Nachrichten von Bürgern "peer-to-peer" erzeugt.

Weblogs sind bereits mit Pamphleten, dem Readers Digest oder der Fanzine-Kultur der 70er und 80er Jahre verglichen worden. Alle diese Analogien greifen allerdings zu kurz. Weblogs sind das erste Medium, das seinen Ursprung ausschließlich im Netz hat.

Millionen Menschen haben heute die Entsprechung einer Druckmaschine auf ihrem Schreibtisch - und demnächst in ihrer Hosentasche.

Rebecca Blood

Hierzulande ist die Blogosphäre wahrscheinlich einfach noch zu klein, um auf den Zetteln der Medienwissenschaftler und -journalisten dauerhaft einen Platz zu finden. Aber erfahrungsgemäß ist das ja nur eine Frage der Zeit. Auch in Deutschland findet das Bloggen immer mehr Freunde und mit den Blogawards, den ersten deutschen Weblog-Auszeichnungen, ist das kleine Universum der einheimischen Blogonauten auch mal ganz gehörig ins Rumpeln gekommen. Kommentare über Kommentare, Gegenkommentare und mit dem Blockwart sogar ein Gegen-Award. Endlich mal was los hier.

Und während in der deutschen Blog-Zone noch an der Streitkultur gefeilt wird, haben die kleinen Weblogs es immerhin schon als Thema auf das nächste Weltwirtschaftsforum geschafft. Wenn das mal Frau Miszewski gewusst hätte.