Mehr Unkraut wagen: Wie das Vogel- und Insektensterben gestoppt werden kann
Sogenannte Unkräuter sind Kräuter mit ökologischem Eigenwert. Insekten und Vögel ernähren sich von ihnen. Doch ihr Nutzen wurde bisher kaum berücksichtigt.
Unkraut ist nicht gleich Unkraut. Je nach Art, Dichte und Standort kann ein Befall auf Ackerflächen und in Obst- oder Rebanlagen geduldet werden. Doch ab wann mindert die Konkurrenz zu den angebauten Kulturpflanzen deren Erträge?
Auf einer "Unkrauttagung" im Braunschweiger Haus der Wissenschaft am Julius Kühn-Institut diskutierten Pflanzenbauexperten unter anderem kürzlich darüber, inwiefern Unkräuter zu Artenvielfalt beitragen.
Als Entscheidungshilfe im Pflanzenschutz dienen sogenannte wirtschaftliche Schadensschwellen. Diese kennzeichnen die "höchsten Populationsdichten von Schadorganismen, die aufgrund möglicher Verluste ökonomisch toleriert werden können und ab denen Bekämpfungsmaßnahmen getroffen werden sollten".
Mit ihrer Hilfe wird abgeschätzt, inwiefern eine Bekämpfung nötig ist. Demnach ist die Schadensschwelle erreicht, wenn die Kosten der Unkräuter die Kosten der Bekämpfung übersteigen. Zu den Schäden durch so genannte Unkräuter (auch "Beikräuter" oder "Ackerbegleitflora" genannt) werden Ertragsverluste, Reinigungs- und Trocknungsaufwand sowie Ernteerschwernisse gezählt.
Ökosystem-Effekte unterschätzt: Das können Unkräuter
Bisher sind die Schwellenkonzepte auf die Ertragsverluste und die mit der Bekämpfung entstehenden direkten Kosten ausgerichtet. Doch das Schadensschwellenkonzept hat auch Nachteile, kritisieren Phytomediziner der Universität Rostock in einer 2021 veröffentlichten Studie.
So werden die Nebeneffekte der Pflanzenschutzanwendung nicht berücksichtigt, etwa die Schädigung von Nützlingen, oder wie bestäubende Insekten unterstützt oder nützliche Gegenspieler angelockt werden.
Schutz und Nahrung für Insekten und kleine Säugetiere
Ackerunkräuter kommen normalerweise in Winterweizen, Wintergerste, Winterraps und Mais vor. Dennoch sind sie wertvoll für die Biodiversität. Denn Kräuter auf dem Acker bieten unter anderem Schutz und Nahrung für Insekten und kleine Säugetiere.
Diese Effekte ließen sich in ökonomische Berechnungen von Schadensschwellen integrieren. Weil sich durch ihre Bekämpfung auch die Biodiversität verändert, entstehen weitere Kosten bzw. entgangener Nutzen, erklären Johanna S. Bensch, Friederike de Mol, Bärbel Gerowitt von der Universität Rostock.
Unkraut-Schadenschwellen und ökologische Kriterien
Bisher wurde weder der vielfältige Nutzen der Ökosystemleistungen bepreist, noch wurden nachteilige Auswirkungen des chemischen Pflanzenschutzes bewertet. Wie könnte eine Schadensschwelle hergeleitet werden, die auch ökologische Parameter berücksichtigt? Welche Größenordnungen würden die Schwellen in einem solchen Konzept im Vergleich zu dem bisherigen annehmen?
Lesen Sie auch:
Wetterderivate: Wie Unternehmen sich gegen Wetterrisiken absichern
Preis-Schocks: Vier Lebensmittel, die durch den Klimawandel immer teurer werden
Neuer Gewächshausanstrich lässt Pflanzen schneller wachsen
Gesund durch den Winter: Wie man mit Wurzelgemüse das Immunsystem stärkt
Asiatische Hornisse: Der ungebetene Gast aus Fernost erobert Europa
Um den Gesamtwert für das Ökosystem zu bestimmen, teilen die Phytomedizinerinnen die Ökosystemleistungen von Kräutern auf dem Acker in vier Kategorien ein: Bestäubung, Nahrung für Pflanzenfresser, Nahrung für Samenfresser sowie natürliche Schädlingskontrolle.
Ökosystemleistungen: Was lockt bestäubende Insekten?
Bei der Bestäubung liegt das Hauptaugenmerk auf dem Merkmal "Blüte". Neben der Blühdauer müsste auch die Blütenform berücksichtigt werden, denn verschiedene Blüten ziehen verschiedene Bestäuber an, so die Autorinnen. Für die Kategorie Nahrung für Pflanzenfresser wären die Eigenschaften der Blätter (Behaarung, Drüsen, Dicke, Härte etc.) von Bedeutung. Denn sie bestimmen, welche Arten von Pflanzenfressern sich von den Unkräutern ernähren können.
In der Kategorie "Nahrung für Samenfresser" ist der Zeitpunkt und die Art der Samen zu berücksichtigen. So bestimmt die Beschaffenheit der Kräutersamen, welche Samenfresser von welchen Kräutern angezogen werden. Für die natürliche Schädlingskontrolle werden morphologische Merkmale betrachtet, die dafür sorgen, dass räuberische Insekten angelockt und dadurch in das Ökosystem eingeführt werden.
Würden typischen Ackerunkrautarten entsprechende Ökosystemleistungen zugeordnet, könnten deren Ökosystemwerte in den Schadensschwellen berücksichtigt und quantitativ eingepflegt werden, glauben die Autorinnen.
Sogenannte Unkräuter sind Kräuter mit Existenzwert
Die Phytomedizinerinnen bemessen Ackerunkräuter nicht nur an den von ihnen erbrachten Ökosystemleistungen, sondern gestehen ihnen auch einen intrinsischen Existenzwert zu. Losgelöst von jedem Nutzen oder Schaden, wird vorausgesetzt, dass der Existenzwert für alle Unkrautarten gleich ist. Der Existenzwert für das erste Individuum einer Art sei dabei am höchsten. Kommen mehrere Individuen vor, nimmt der Wert der einzelnen Pflanze ab.
Die Autorinnen integrierten den Existenzwert in die gegenwärtige Berechnung der wirtschaftlichen Schwellenwerte für Unkraut. Zudem simulierten sie, wie unterschiedliche Existenzwerte den Wert für die Schadensschwellen beeinflussen.
Es handele sich dabei um einen nicht-artspezifischen, dichteabhängigen Wert. Die Integration des Existenzwertes in die Berechnung von Schadensschwellen würde in allen Fällen den Schwellenwert anheben, erklären sie. Zudem werde ein rechnerischer Ansatz geschaffen, in dem auch weitere Effekte von Unkräutern Eingang finden können.
Mit den Ackerunkräutern verschwinden Insekten und Vögel
Ackerunkräuter erbringen unterstützende Ökosystemleistungen für eine Vielzahl an Arthropoden- und Vogelarten. Doch mit der Intensivierung der Landwirtschaft und dem breiten Einsatz von Herbiziden hat sich die Unkrautflora innerhalb der letzten Jahrzehnte enorm verändert. Bereits vor zwanzig Jahren beobachteten Wissenschaftler einen parallelen Rückgang von Bestäubern und insektenbestäubten Pflanzen.
Sowohl die Abundanz (Anzahl der Individuen einer Art bezogen auf ihr Habitat) als auch die Artenvielfalt von Ackerunkräutern nahmen seit 1950 drastisch ab. Zu diesem Schluss kommen Rostocker Phytomediziner in einem Beitrag von 2022.
In einer Literaturrecherche untersuchten sie 51 in Deutschland vorkommende Ackerunkrautarten und drei Unkrautgattungen daraufhin, welche Bedeutung sie als Nahrung und Lebensraum für die Fauna haben. Die Anzahl der auf den Feldern vorkommenden Unkrautarten sank um 71 Prozent. Sie fanden 5.180 direkte und indirekte Verbindungen zwischen den Ackerunkräutern und Arthropoden bzw. Vögeln. Einige Arten, die früher sehr häufig waren, gingen zwischen 1950 und 2014 um bis zu 99 Prozent zurück.
Nahrungsquelle für Vögel
Auch Vögel ernähren sich entweder direkt von Ackerunkräutern, oder indirekt von Arthropoden, die von Ackerunkräutern angezogen werden. So fressen eine Reihe der derzeit schwindenden Vogelarten als erwachsene Tiere Samen und Pflanzen, während der Brutzeit jedoch verfüttern sie an ihre Küken aber Insekten.
Ein Vergleich von mit Herbiziden behandelten und unbehandelten Wintergetreide-Parzellen zeigt deutlich, dass unbehandelte Parzellen eine höhere Unkrautdichte und -vielfalt sowie eine signifikant höhere Anzahl wirbelloser Tiere aufwiesen, insbesondere solche, die für die Ernährung von Feldvögeln wichtig sind.
Die Erkenntnis, dass eine gewisse Artenvielfalt auf dem Acker unabdingbar ist, hat inzwischen auch die zuständigen Ministerien erreicht. So spricht sich das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit für mehr Verunkrautung auf den Äckern aus, etwa in dem 2019 veröffentlichten Positionspapier "Mehr Verunkrautung wagen: Plädoyer für einen Perspektivwechsel in der Unkrautbekämpfung im Ackerbau".
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.