Menschenrechte, Demokratie und Diskussionskultur im Ausnahmezustand
Seite 2: Meiste exekutive Lockdown-Anordnungen wohl verfassungswidrig
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- Meiste exekutive Lockdown-Anordnungen wohl verfassungswidrig
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Die meisten exekutiven Lockdown-Anordnungen des Bundes und der Länder dürften unter anderem hinsichtlich ihrer Kontakt- und Versammlungsverbote auf dem Verordnungswege zunächst ohnehin nicht verfassungsgemäß gewesen sein, weil dafür nach Auffassung von Verfassungsrechtler*innen eine taugliche Rechtsgrundlage fehlte.
So sieht es auch die Staatsrechtlerin an der Fernuniversität Hagen, Prof. Dr. Andrea Edenharter: Das Infektionsschutzgesetz, auf das solche Exekutiv-Maßnahmen gestützt wurden, erlaube - zumindest in seiner ursprünglichen Fassung bis Ende März 2020 - individuell, zeitlich und räumlich nur "sehr eng eingegrenzte Beschränkungen". Wochenlange Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für das gesamte Land und seine gesamte Bevölkerung ließen sich daraus nicht ableiten; das verletze den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit.12
Prinzipiell gilt jedenfalls - und zwar auch nach Novellierung des Infektionsschutzgesetzes: Grundrechtsbeschränkende Maßnahmen dürfen nicht pauschal, sondern allenfalls - regional, lokal und zielgruppenorientiert - differenziert, lageangepasst, zielgenau und faktenbasiert verhängt werden (etwa bezogen auf potentielle Hotspots, also auf Saison-Arbeitsbereiche, Alten- und Pflegeheime, Einrichtungen für Asylbewerber*innen und Geflüchtete, Gemeinschaftsunterkünfte, Reiserückkehrende aus Risikoländer etc.).13
Diese verfassungskonforme Rechtssicht hat sich auf den Regierungsebenen in Bund und Ländern nur recht zögerlich durchgesetzt, so etwa mit den Beschlüssen vom 16. Juli und vom 27. August 2020 gemäß den Absprachen der Bundes- und Landesregierungen.14
In der Krise besteht die Gefahr, dass ohnehin problematische staatliche Trends noch verstärkt werden: so etwa die seit Jahren forcierte staatliche Überwachung.15
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) strebte anlässlich der "Corona-Krise" die Ortung von Handys per verpflichtender Funkzellen-Abfrage an, was aber noch verhindert werden konnte: So hätten automatisiert Bewegungsprofile und Verhaltensmuster der Mobilfunk-Nutzer erstellt werden können, um festzustellen, mit welchen Personen Infizierte an welchen Orten und zu welchen Zeiten Kontakte hatten.
Das wäre ein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Weitergabe anonymisierter Telekommunikationsdaten etwa durch die Telekom an das Robert-Koch-Institut (deutsche Bundesoberbehörde) ist längst Praxis, ebenso die Corona-"Datenspende"-App in Kombination mit Fitnessarmbändern und Smartwatches.
Seit Mitte Juni 2020 sollen es Corona-Warn-Apps auf Handys richten, deren Entwicklung etwa 70 Millionen Euro gekostet hat. Diese Apps registrieren über Bluetooth - eine riskante Datenübertragungsmethode per Funktechnik - sämtliche Kontakte zu anderen Handys mit Apps in der Nähe und speichern die Kontaktdaten für bestimmte Zeit.
Damit können im Falle der Infizierung eines der Handybesitzer dessen Kontaktpersonen auf digitalem Wege informiert werden, mit dem Ziel, dass sich die Betroffenen Corona-Tests unterziehen oder in Quarantäne begeben. Die App-Nutzung und Datenspeicherung erfolgt dezentral sowie auf "freiwilliger Basis und anonymisiert" - aber es gibt dafür keine gesetzliche Grundlage, die das normativ und einklagbar festlegt.
Noch eine Trend-Verstärkung droht im Zuge der "Corona-Krise": die Militarisierung der "Inneren Sicherheit", die schon längst im Gange ist. Wegen der Corona-Epidemie wird die Bundeswehr bereits per Amtshilfe im Logistik- und Sanitätsbereich, für Testungen und Desinfektionsaufgaben unterstützend eingesetzt - was durchaus sinnvoll sein kann. Sie mobilisierte 15.000 Soldat*innen für den Inlandseinsatz zur Unterstützung von Ländern und Kommunen, bereitete sich aber für Notfälle auch auf die Unterstützung der Polizei vor, unter anderem mit Militärpolizisten der Feldjäger für "Ordnungsdienste" und zum Schutz kritischer Infrastrukturen oder ganzer Wohnblocks unter Quarantäne.16
Der verfassungsrechtlich problematische Einsatz der Bundeswehr im Inneren
Polizeiähnliche Exekutivbefugnisse des Militärs im Inland sind verfassungsrechtlich höchst umstritten, da Polizei und Militär, ihre Aufgaben und Befugnisse strikt zu trennen sind - eine wichtige Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Bundeswehr darf nicht zur nationalen Sicherheitsreserve im Inland werden, schon gar nicht mit hoheitlichen Kompetenzen und militärischen Mitteln.
Gleichwohl ist in den vergangenen Jahren ein solcher Trend zu verzeichnen.17 Doch Soldaten sind keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben im Inland nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet; und sie sind auch nicht dafür da, real existierende personelle Defizite der Polizei in Bund und Ländern auszugleichen.
"Bei der Abwägung, wie gefährlich ein Virus ist und wie gefährlich seine Bekämpfung werden kann, sollte man alles im Blick behalten", mahnt der Chirurg und Publizist Bernd Hontschik:18 "Man muss von Anfang an Pädagogen, Psychologen, Sozialwissenschaftler, Jugendämter, Hausärzte, Pflegekräfte und andere mehr in die entscheidenden Gremien holen" - also auch Juristen, Ökonomen, Gewerkschafter, Selbständige, Kulturschaffende etc. Das ist leider nicht gleich zu Beginn und während der Krise passiert, sondern die Regierungspolitik hat sich vorwiegend vom "hauseigenen" Robert-Koch-Institut und einigen wenigen Epidemiologen und Virologen beraten lassen,19 was manche Regierungskritiker als undemokratische, nicht legitimierte "Expertokratie" qualifizieren.
Die Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Bundestag hat deshalb für die künftige Regierungsarbeit einen weiterführenden Vorschlag unterbreitet: Sie fordert die Einrichtung eines wissenschaftlichen Pandemierats als Beratungsgremium während der Corona-Krise, auf dessen Zusammensetzung es entscheidend ankommen wird.20
Aus Gründen mangelnder interdisziplinärer wissenschaftlicher Begleitung ist es nach Ende des Lockdowns und während der Phase allmählicher "Lockerungen" umso wichtiger, ja unerlässlich, darüber hinaus unabhängige Begleitforschung durchzuführen und den regierungsamtlichen Umgang mit der "Corona-Krise", seine Effektivität, Verhältnismäßigkeit und seine sozialen, psychischen und wirtschaftlichen Folgen wissenschaftlich unabhängig und interdisziplinär zu evaluieren, um daraus Handlungsempfehlungen für die Zukunft zu entwickeln. Zumal Bundes- und Landesregierungen drastische Maßnahmen verhängt hatten, ohne wirklich fundiert zu wissen, ob sie so tatsächlich nötig waren, ob und wie sie wirken und welche Langzeitfolgen sie zeitigen.
Und auch im Nachhinein wissen die Regierungen letztlich wenig über Wirkungen und Verhältnismäßigkeit ihrer Lockdown-Maßnahmen, wie die Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion im Bundestag verrät.21
Darüber hinaus wäre es angebracht, zivilgesellschaftliche, fachbezogene sowie parlamentarische Untersuchungsausschüsse oder unabhängige Enquete-Kommissionen mit Expertenanhörungen in Bund und Ländern einzusetzen, um Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre Folgen kritisch und im Vergleich zu einzelnen anderen Staaten zu untersuchen.22
Letztlich geht es darum, aus den so gewonnenen Erkenntnissen Lehren ziehen zu können für eine bessere, differenziertere und damit verhältnismäßige Bewältigung künftiger Fälle. Und darüber hinaus: um Perspektiven für überfällige gesellschaftliche, gesundheitspolitische, sozioökonomische und friedenspolitische Strukturveränderungen zu entwickeln und umzusetzen - und zwar in Richtung Chancengleichheit und Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Abrüstung und Frieden, für eine gerechtere, zukunftsfähige Gesellschaft.
Ohne dabei aber die europäische Dimension sowie die globale Situation und Entwicklung aus den Augen zu verlieren, wo sich - auch und gerade im Zuge der weltweit grassierenden Corona-Pandemie, die keine Grenzen kennt - dramatische Verwerfungen und Katastrophen abzeichnen. Es trifft die Allerschwächsten in Staaten des Globalen Südens mit besonderer Wucht, die schon zuvor unter bitterer Armut und Gewalt sowie unter fehlenden staatlichen Strukturen und mangelhafter sozialer Absicherung zu leiden hatten. Auch der Westen wird diese Folgen zu spüren bekommen.
Ohne begleitende starke emanzipatorische politisch-sozial-ökologische nationale und internationale Bewegungen wird eine solche anspruchsvolle Agenda, die die angesprochenen Missstände und Strukturprobleme endlich angeht, nicht ansatzweise durchzusetzen sein.23