"Menschenverachtend ist die Politik unserer Regierung"
Seite 2: "Für die Armen geht es ums nackte Überleben"
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Nun ist es ja so, dass der heutige Zustand der Welt verursacht wurde durch die reichen, vor allem weißen Mehrheitsgesellschaften des Westens und durch korrupte Eliten in "wirtschaftsschwachen" Ländern. Darauf weist auch Oxfam in ihren ökonomischen Studien immer wieder hin, selbst Ex-Entwicklungshilfeminister Müller von der CSU räumte das in einem viel zitierten Statement ein …
Ist das Ganze fernab vom Klein-klein denn nicht ein Problem der extremen Ungleichverteilung von Wohlstand und damit nicht nur der Lebenschancen, sondern gar der physischen Überlebenschancen?
Carla Hinrichs: Ganz klar, ja. Wir sind alle im selben Sturm, aber wir sitzen nicht im gleichen Boot. Manche sitzen in einer luxuriösen Motoryacht, in der man nur langsam merkt, wie die See rauer wird. Andere sitzen in kleinen Schlauchbooten. Für diese Menschen geht es jetzt schon ums nackte Überleben.
Der Klimakollaps ist jedoch ein Sturm, der alle Gesellschaften zum Kentern bringen wird. Dieser tödliche Sturm wird hier in Deutschland von unserer Regierung befeuert. Zum Beispiel mit geplanten Bohrungen nach Öl in den Naturschutzgebieten der Nordsee. Damit muss sofort Schluss sein. Wir müssen sparen statt bohren, und zwar sozial gerecht.
Aber mal profan gesagt und provokativ gefragt: Soll sich ein Mensch, der arm ist, nicht auch mal ein Steak leisten können? Der oft kluge Pierre Bourdieu meinte einmal, "Verschwendung ist der Luxus der Armen." Müssten also nicht erst einmal die Wohlhabenden in der Welt Verantwortungsbewusstsein zeigen, denn "wir ziehen mit unserem Lebensstil täglich eine Spur der Verwüstung über der Erde", wie Robert Habeck richtig feststellte, was allerdings nicht für alle Menschen im Westen gilt, nur für die wohlhabende Mehrheitsgesellschaft?
Carla Hinrichs: Um den Klimakollaps noch aufhalten zu können, braucht es sofort umsetzbare Maßnahmen auf Bundesebene, wie ein Tempolimit. Deshalb richten wir uns ganz klar an Olaf Scholz und unsere Minister. Die Debatte über den Einzelnen wird immer dann geführt, wenn sich Ölkonzerne und Politik aus der Verantwortung stehlen wollen. Da machen wir nicht mit. Die Bundesregierung muss ihren katastrophalen Kurs verlassen. Tempolimit und kostenloser ÖPNV sparen Öl, während sie gleichzeitig wichtige Mobilität für alle bereitstellen. Ganz besonders für die Bürgerinnen und Bürger, die sonst Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen.
Besonders Eure Straßenblockaden riefen aber sehr viel Wut hervor, galant ausgedrückt, denn eine Dame ist anwesend … im Internet kursiert ein Video, in dem ein Autofahrer Euch scharf attackiert ...
Carla Hinrichs: Wir haben Verständnis und Mitgefühl für den Ärger, der uns entgegenschlägt. Wir wünschten, es wäre nicht notwendig. Es macht vielen von uns sogar große Angst. Wir müssen jedoch einsehen, dass der aktuelle Kurs unserer Regierung den Zusammenbruch unserer Gesellschaft bedeutet. Und das macht uns noch weitaus mehr Angst. Wir befinden uns in einer absoluten Notfallsituation, es geht jetzt gerade um Leben oder Tod.
Sir David King, der ehemalige Chef-Berater der britischen Regierung, sagt: "Was wir in den nächsten zwei bis drei Jahren tun, wird über die Zukunft der Menschheit entscheiden." Deswegen müssen wir auf diese Notlage friedlich hinweisen in einer Art und Weise, die von der Regierung nicht länger ignoriert werden kann. Petitionen und Demonstrationen sind in diesem entscheidenden historischen Moment leider nicht mehr angemessen, in dem die Regierung mit Vollgas auf Tod und Kollaps zusteuert.
"Das Schicksal der Armen ist nicht vergessen"
Kommen wir noch mal auf Eure vorherige Kampagne zurück: Das Verhältnis zum Essen ist ja auch in Wohlstandsländern sehr divers ausgeprägt, was die sinnliche Wertschätzung angeht. In Japan wird Obst oft schön verpackt verkauft und nicht in Massen und Sushi ist dort eigentlich eher ein besonderes Feiertagsessen, während es im Westen beinahe Fast-Food ist.
Es gäbe hunderte weitere Beispiele, aber reden wir nicht weiter über Hipster-Geschmacksverirrungen, westliche Stilbrüche und deutsche Tiefkühlkost … Gibt es nicht eine gewisse Wohlstandverwahrlosung im Westen, in der die Leute Essen gar nicht mehr zu schätzen wissen?
Carla Hinrichs: Es gibt viele Menschen in Deutschland, die noch genießbares Essen aus den Mülltonnen der Supermärkte holen und dabei sogar eine Strafanzeige riskieren. Das macht sehr deutlich, wie viele Menschen mit einer sehr großen Wertschätzung für Essen es in Deutschland gibt. Leider spiegelt sich das in der Gesetzeslage nicht wider.
Dabei gibt es Maßnahmen, die sofort ergriffen werden könnten. Ein Essen-Retten-Gesetz zum Beispiel, das Supermärkte dazu verpflichten würde, noch genießbares Essen zu spenden anstatt es wegzuwerfen. Ein solches Gesetz gibt es in Frankreich schon seit Jahren, der Gesetzesentwurf für Deutschland liegt fertig in der Schublade. Es wäre ein ganz klarer Schritt in die richtige Richtung. Für die Regierung bleibt jetzt nur noch eines zu tun: "Einfach machen!".
Auf Eurer Website fordert Ihr: "Stoppt den Mord an den Armen!" Muss man nicht sogar traurig feststellen, dass es heute eine völlige Indifferenz gegenüber dem Leiden und dem Sterben derer gibt, die nicht Teil der Wohlstandsgesellschaft sind?
Carla Hinrichs: Schon heute leiden und sterben Menschen an den Folgen der Klimakrise, vor allem im Globalen Süden. Durch unsere Aktionen des friedlichen zivilen Ungehorsams versuchen wir, mehr Menschen darauf aufmerksam zu machen. Deswegen darf uns die Politik auch nicht länger ignorieren können. Die weltweite Klimagerechtigkeitsbewegung zeigt, dass das Schicksal der Armen nicht vergessen ist. Wenn sich mehr und mehr Menschen dem zivilen Widerstand und unseren Forderungen anschließen, können wir einen grundlegenden Wandel in kurzer Zeit bewirken.
Was treibt Euch persönlich denn überhaupt an, um soviel Engagement für diese Sache aufzubringen?
Carla Hinrichs: Liebe zu meinen Mitmenschen, zu meiner Familie, zu meinen Freunden treibt mich dazu. Wenn ich sehe, dass unsere Bundesregierung auf eine Welt zusteuert, in der diese Menschen Hunger, Krieg und Tod erfahren müssen, dann macht mich das unfassbar wütend. Die Bundesregierung hat die Verantwortung, für Frieden und Freiheit aller Menschen in Deutschland zu sorgen. Ich sollte mich nicht dafür auf Straßen setzen müssen. Ich habe jedes Mal Angst davor, mich an einer Straße festzukleben und vielen von uns geht es genauso.
Auch unsere Kinder und Eltern haben Angst um uns, wenn wir auf der Straße sitzen und eingesperrt werden. Letztes Mal fragte ein neunjähriger Junge einen Polizisten: "Wann kommt meine Mama wieder nach Hause?". Das zerreißt mir das Herz. Aber wir überwinden diese Angst, weil wir die Bundesregierung von ihrem aktuellen Kurs abbringen müssen.
Wenn wir so weitermachen, mit Ölbohrungen in der Nordsee und dem ungebremsten Ausbau fossiler Infrastruktur, werden irgendwann ganz viele Mamas nie wieder nach Hause kommen. Das ist es, was Klimakollaps wirklich bedeutet.