Merkel in der Türkei: Die gezähmte Kanzlerin

Seite 2: Die Opposition lebt in Angst, die EU muss umdenken

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Zur Zeit geraten Gruppen unter Druck, die eine öffentliche Kampagne zur Nein-Stimme beim Referendum im April initiieren. Mehrmals wurden Personen, die entsprechende Plakate aufhängten, festgenommen. Es ist ein perfides System, das die Bürger, von denen laut Umfragen momentan noch 58 Prozent gegen die Verfassungsreform sind, umstimmen soll. "Die Promis sind unter Druck. Sie wissen, dass sie keine TV-Auftritte mehr kriegen, wenn sie kein Ja-Video posten", schreibt die Istanbuler Schriftstellerin Ece Temelkuran.

Immerhin traf sich Merkel am Abend in der Deutschen Botschaft in Ankara auch mit Vertretern der Opposition. Allerdings erst nachdem sie mit Ministerpräsident Binali Yildirim zu Abend gegessen hatte. Sie sprach mit CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, der energisch gegen das Präsidialsystem interveniert und vor einer Diktatur warnt. Weitere Gespräche führte sie unter anderen mit dem HDP-Abgeordneten Mithat Sancar.

Die HDP kämpft ums Überleben. Die Parteichefs Selahattin Demirta und Figen Yüksekdag sind im Gefängnis, die Anklage fordert pro Person über hundert Jahre Haft. Inhaftiert sind auch neun weitere Abgeordnete und hunderte Parteimitglieder. Fast täglich werden weitere Abgeordnete festgenommen. Zwar kommen die meisten von ihnen rasch wieder frei, aber die Drohgebärden zeigen Wirkung. Die Opposition lebt in Angst. Was genau bei dem Treffen besprochen wurde, wurde nicht publik - vermutlich, um Erdogan nicht zu verärgern und den Flüchtlingsdeal nicht zwei Stunden nach der Pressekonferenz bereits wieder zu gefährden.

Die Bundesregierung muss ihre Position überdenken. Der Flüchtlingsdeal ist bei Erdogans erratischen Verhalten ohnehin nur so lange sicher, wie man sich mit Kritik zurückhält und brav das Geld überweist. Dass am Ende der Zahlungen weitere Forderungen kommen werden, ist so gut wie sicher. Und selbst wenn der Deal hält, löst er das Problem nicht. Es ist jetzt Aufgabe der EU, zu einer gemeinsamen Lösung zu finden und die Menschen, die in Lagern ohne Zukunftsaussichten vegetieren, aufzunehmen. Eine Alternative gibt es auf Dauer nicht - erst recht nicht, wenn man nicht alle europäischen Werte verraten will.

Es ist jetzt, wenige Monate vor dem Referendum, umso wichtiger, die demokratischen oppositionellen Kräfte der Türkei zu unterstützen und die Willkür der AKP entschieden zu verurteilen sowie Konsequenzen anzumahnen, sofern sich die Lage nicht sehr bald bessern sollte. Die Verfolgung Andersdenkender, die Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit sind nicht akzeptabel.