Merkel und Erdogan im Kampf gegen den Terrorismus

Präsidentenpalast, Ankara. Bild: Cumhurbaşkanlığı Sarayı / CC BY-SA 4.0

Verhaftungen, Bespitzelungen, Fluchtursache Erdogan: Was Merkel beim bevorstehenden Treffen mit dem türkischen Regierungschef alles wohl nicht ansprechen wird

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Am 2. Februar will Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fast-Diktator Erdogan besuchen. Thema der Konsultation soll die Flüchtlingskrise, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Kampf gegen den Terrorismus sein. Merkel wird dann auf einen Machthaber treffen, der sich mit seinem Präsidialsystem große Ziele gesetzt hat: Erdogan will bis 2023 die verlorenen Gebiete des 20. Jahrhunderts wiederhaben.

Im September 2012 wurde auf dem AKP-Kongress die Parole ausgegeben: "Große Nation, Große Macht, Ziel 2023". 2023 ist der 100. Jahrestag des Lausanner Vertrags, wo die Aufteilung des Osmanischen Reiches beschlossen wurde. Der zweite Schritt ist dann 2071. Erdogan sagte zwar, dass er den zweiten Schritt nicht erleben wird, aber die Generation nach ihm würde diesen Schritt weiter verfolgen. Vor ca. 1000 Jahren, also 1071 nach Chr., wanderten die ersten Turkstämme von den mongolischen Steppen aus nach Mesopotamien und Anatolien, wo sie später das Osmanische Reich gründeten.

Sie trafen dort u.a. auf die kurdischen Ureinwohner. Seitdem ist die Geschichte der Region geprägt von Vertreibung, Diskriminierung, Vernichtung oder Assimilation der Kurden, Armenier, Christen, Aleviten und Eziden, um nur die wichtigsten ethnischen und religiösen Minderheiten zu nennen. Erdogan will nun anscheinend durch sein Präsidialsystem endgültig tabula rasa machen und die gesamte Bevölkerung auf einen islamistisch-nationalistischen Kurs bringen.

Da kann man schon die Frage stellen, warum in dieser brisanten Phase die Bundeskanzlerin ein Rendezvous mit Erdogan will. Es ist nicht davon auszugehen, dass sie ihm die Leviten lesen und Haltung zeigen wird. Angela Merkel steht innenpolitisch das Wasser bis zum Hals, vor allem wegen des Flüchtlingsdeals. Die Kritik in der CDU wächst, die AFD macht mobil gegen Flüchtlinge. Sie wird versuchen, den verärgerten Präsidenten zu besänftigen und deswegen ein paar Geschenke mit im Gepäck haben.

Wird der Flüchtlingsdeal platzen?

Erdogan drohte, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, weil der oberste griechische Gerichtshof die acht Offiziere, die nach dem Putsch nach Griechenland geflohen sind, nicht an die Türkei ausliefern will. Das geht auch Deutschland was an, denn die Bundeskanzlerin gilt als die maßgebliche Architektin des Flüchtlingsdeals.

Merkel könnte den Zorn des "Sultans" abbekommen, weil sie seiner Meinung nach nicht nur die beteiligten EU-Länder nicht auf Linie halten kann, sondern auch ihre eigene Regierung nicht im Griff hat. Denn ihr Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) lud den regierungskritischen Journalist Can Dündar als Redner zum Neujahrsempfang am Mittwochabend ins Justizministerium ein. Für Erdogan ist das ein "No Go".

Wie kann man einen "Terroristen", der in der Türkei Landesverrat beging, weil er u.a. die geheimen Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an islamistische "Rebellen" in Syrien aufdeckte, ins deutsche Justizministerium als Gast einladen, anstatt ihn ins Gefängnis zu stecken? Wieso fällt Deutschland der türkischen Regierung in den Rücken, indem Landes- und Bundesministerien den Rechtshilfeersuchen der Türkei nicht mehr stattgeben? Weshalb lässt man zu, dass Erdogan im Merkelland täglich beleidigt wird?

Der eifrige türkische Geheimdienst meldet dies den Behörden regelmäßig, aber die Präsidentenbeleidiger bleiben unbehelligt. Fast täglich gibt es neue Fakten, wie der türkische Geheimdienst in Deutschland agiert und bespitzelt, wie der islamische Dachverband Ditib seine Mitglieder ausspioniert oder nationalistische Organisationen wie die Grauen Wölfe türkische Oppositionelle und Kurden bedrohen.

Teilweise stützen sich deutsche Gerichte auch auf (rechtswidrige) Spionagetätigkeiten des türkischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik, das berichtet die Süddeutsche Zeitung. In einem Schreiben der Generalpolizeidirektion in Istanbul vom September 2013 an die Bundesanwaltschaft werden akribisch die Namen, Daten, Anschriften von Personen in Deutschland aufgezählt, die nach Einschätzung des türkischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik in der kommunistischen Organisation TKP/ML aktiv sind. Interessant ist auch, dass diese Informationen der damalige Direktor der Abteilung für Terrorbekämpfung, Ömer Köse an die Deutschen geschickt hat.

Köse sitzt seit zwei Jahren im Gefängnis, verurteilt wegen Dokumentenfälschung, illegaler Telefonüberwachung, Verletzung der Privatsphäre, Beweisfälschung und der Preisgabe von Ermittlungsinformationen. Wo er inhaftiert ist, ob in der Türkei oder in einem anderen Land geht aus der Quelle nicht hervor.

Der Fall eines Kurden aus Elmsholm, der auf seiner Facebookseite kritische Artikel zu Erdogan geteilt hatte, zeigt einmal mehr die emsige Datensammlung der türkischen Behörden. Anfang Januar erhielt er wegen seiner Postings auf Facebook aufgrund eines Rechtshilfeersuchens der Türkei eine Vorladung vom Amtsgericht in Elmsholm. Ein zweites Verfahren vom August letzten Jahres wegen des Verdachts auf Propaganda für eine Terrororganisation ist noch anhängig. Aber damit könnte nun Schluss sein.

Letzte Woche beschlossen die Bundes- und Landesministerien, keine Rechtshilfe mehr zu leisten, wenn es um politische Taten gehen soll. Ob dies auch Auswirkungen auf die zurzeit laufenden Verfahren gegen kurdische Oppositionelle hat, denen ebenfalls Unterstützung bzw. Propaganda für eine ausländische terroristische Organisation vorgeworfen wird, bleibt abzuwarten.

Flüchtlingsdeal: Fluchtursache Erdogan

Mit Sicherheit wird Merkel gegenüber Erdogan nicht kontern, dass er selbst mit seiner Zerstörungs- und Vertreibungspolitik im eigenen Land zur Fluchtursache geworden ist. Hundertausende Kurden haben in den kurdischen Gebieten durch die Zerstörung ihrer Städte Wohnung und Habe verloren. Immer mehr Kurden und auch Oppositionelle verlassen die Türkei und versuchen in Deutschland Asyl zu bekommen, weil sie in der Türkei um ihr Leben fürchten.

Die Zahl der Asylanträge von Kurden ist in den letzten Monaten rasant angestiegen; sie hat sich vervierfacht. Ein Ende ist nicht in Sicht, denn täglich werden mehr HDP/BDP-Politiker und Politikerinnen verhaftet. Daher versuchen viele Oppositionelle das Land zu verlassen, solange es noch geht.

Ein Beispiel ist Sakine Esen Yilmaz. Sie war in ihrer Heimat Gewerkschaftschefin der Lehrervereinigung Egitim Sen. Mehrfach wurde sie verhaftet. Da sie, wie mittlerweile viele Oppositionelle, ein Ausreiseverbot hatte, gelang ihr die Flucht nach Deutschland über Schlepper. Heute wohnt die 39-Jährige in Köln und hat einen Asylantrag gestellt. 40 türkische Nato-Offiziere, die in Deutschland stationiert waren, haben ebenfalls Asyl beantragt.

Bis zum 20.1.2017 wurden im Südosten der Türkei 77 Ko-Bürgermeister und Bürgermeisterinnen der HDP verhaftet, ihnen wird fast immer die Unterstützung einer Terrororganisation unterstellt. Die Verhaftungen gehen weiter: Am 26.1.17 wurden die Ko-Bürgermeister von Sirnak und die beiden Ko-Bürgermeister von Uludere/Roboski, Zeynep Üren und Yunus Ürek verhaftet. Am 27. und 28.1.2017 folgten weitere Festnahmen von HDP- Bürgermeistern und Abgeordneten. Damit sind nun fast alle gewählten HDP-Bürgermeister inhaftiert.

Am selben Tag wurde die Buchautorin Arzu Demir wegen ihrer beiden Bücher "Dağın Kadın Hali" und "Dağın Rojava Hali" zu 6 Jahren Haft verurteilt. Weil sie in dem einen Buch über die Frauen der PKK und in dem anderen über Rojava schrieb, wird ihr "Propaganda für eine terroristische Organisation" vorgeworfen. Am 26.1.17 wurde auch der HDP-Abgeordnete Imam Taşçıer in Diyarbakir verhaftet. Man könnte jeden Tag eine neue Liste dazu veröffentlichen, welcher oppositionelle Politiker oder NGO-ler verhaftet wurde.

Viele Menschen aus dem Bildungs-, Kultur- und Justizbereich verloren ebenfalls ihre Jobs und ihren Besitz, der von der Regierung beschlagnahmt wurde. Darunter sind auch viele Menschen, denen die Mitgliedschaft bei der Gülen-Bewegung vorgeworfen wird. Allein in der Woche vom 16.-23. Januar wurden wieder 1.218 Menschen wegen Gülen-Vorwürfen festgenommen.

Angehörige dieser Betroffenen machen sich auch auf den Weg nach Deutschland. Denn in der Türkei herrscht inzwischen Sippenhaft: ist ein Mitglied der Familie entweder Gülen-Anhänger oder sonst wie oppositionell, wird die ganze Familie stigmatisiert. Aber all das wird Merkel in ihrem Gespräch mit Erdogan sicherlich nicht thematisieren.

Wirtschaft: Wie wird Deutschland helfen?

Bei diesem Thema könnte Merkel gegenüber Erdogan punkten: Eine Studie der Commerzbank bescheinigt der Türkei eine tiefe Rezession. Die Türkei werde für das internationale Kapital "immer unattraktiver". Sie brauche zunehmend Geld von außen, um ihre milliardenteuren Importe zu finanzieren. Die Studie riet der Türkei, den Leitzins zu erhöhen.

Erdogan lehnt dies aber ab. Dies wird als kapitaler Fehler gewertet, denn dadurch werde die Kapitalflucht zunehmen und die Lira wird noch stärker an Wert verlieren. Die Türkei hat ca. 200 Milliarden Dollar Auslandschulden. In etwa gleicher Höhe stehen türkische Firmen gegenüber dem Ausland in der Kreide. Da darf die Frage gestellt werden, womit der Staat seine Kredite deckt?

Die Devisenreserven liegen derzeit bei etwa 95 Milliarden Dollar. Generell wird in der Türkei auf Pump gebaut, gekauft und gelebt. Fast jeder türkische Staatsbürger besitzt ca. 20 Kreditkarten, mit denen er den Alltag finanziert - auf Pump. Ein Festhalten am Flüchtlingsdeal würde der Türkei einige Milliarden Euro in die Kassen spülen. Aber bitte nicht in Türkischer Lira.

Die öffentliche Verbrennung von Dollars und Euros und die Aufforderung, die Türken sollten ihre Dollars und Euros in TL umtauschen, trägt auch nicht unbedingt dazu bei, ausländische Investoren zu gewinnen: Da wäre noch das Thema Incirlik. Ankara drohte Anfang Januar, den Luftwaffenstützpunkt zu schließen.

Die Drohung war zwar gegen die USA gerichtet, würde die Bundesrepublik aber ebenso treffen. Merkel könnte Erdogan damit ködern, dass die Bundesregierung doch einige Milliönchen bereitgestellt hat für den Ausbau des Stützpunktes. Und das, obwohl es deutschen Parlamentariern nach wie vor verwehrt ist, die dort stationierten Bundeswehrsoldaten zu besuchen. Die rund 58 Millionen Euro deutsche Steuergelder für den Ausbau bekommen türkische Firmen, denn nur sie dürfen dort arbeiten.

Der Erdogan Clan und die Korruption

Ganz bestimmt wird das mafiöse Begünstigungssystem des Erdogan Clans nicht zur Sprache kommen. Die Türkei bietet mittlerweile Ausländern an, die türkische Staatsbürgerschaft kaufen zu können, wenn sie große Summen in die türkische Wirtschaft investieren.

Inzwischen berichtet auch Die Welt, wie sehr unter Erdogan die Korruption zunimmt. Auch die bereitgestellten EU-Milliarden für die Flüchtlingscamps in der Türkei werden mit Sicherheit nicht den Flüchtlingen in der Türkei zu Gute kommen. Sie werden im Netzwerk des Erdogan-Clans versickern.

Der Kampf gegen den Terrorismus

Dies wird ein schwieriges Thema für Merkel. Denn zuerst müsste geklärt werden, wer nun eigentlich Terrorist ist, den man bekämpfen sollte. Ist die NATO eine Terrororganisation, wie dies kürzlich ein AKP-Abgeordneter sagte? Pikant. Dann wäre die Türkei selbst Mitglied einer Terrororganisation. Die regierungsnahe Zeitung Milat brachte diese Äußerung gar auf ihrer Titelseite.

Merkel will mit Erdogan auch über die Gülen-Bewegung und die PKK sprechen - im Kontext "Terrorismusbekämpfung"! Wo bleibt da der IS? Was nicht geht, was Erdogan aber macht und Merkel abnickt ist, alle regimekritischen Menschen in der Türkei in einen Topf mit der Terrororganisation IS zu werfen. Was ist mit den Journalisten? Sind regimekritische Journalisten entweder Gülen- oder PKK-Terroristen?

Der Anklage nach könnte dies so verstanden werden. Dann haben wir aber viele demokratische Exil-Terroristen mit Federkiel in Deutschland. Die dürfen aus dem Exil auch noch schreiben und Exil-Medien gründen. Nach einem Bericht des Stockholmer Friedenszentrum (SCF) sind derzeit 191 Journalisten in türkischen Gefängnissen, gegen 92 weitere liegt ein Haftbefehl vor und insgesamt 839 stehen mit Strafanzeigen vor Gericht.

Die Namen der 191 Inhaftierten sind in einer Liste vom SCF veröffentlicht worden. Die 92 gesuchten Journalisten seien entweder im Exil oder untergetaucht. Auch dieses Thema dürfte Merkel in ihrem Rendezvous unter den Teppich kehren und stattdessen ein Versöhnungsgeschenk präsentieren: Am 24. Januar 2017 hat das Oberlandesgericht Düsseldorf den kurdischen Politiker Ahmet Celik zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt.

Begründet wurde diese Verurteilung mit der Mitgliedschaft in der "Arbeiterpartei Kurdistans-PKK". Zurzeit laufen mehrere Verfahren gegen türkische Kommunisten, kurdische Aktivisten und Politiker in verschiedenen deutschen Städten. Es gab schon mehrere Verurteilungen zu mehreren Jahren Haftstrafe. Allen Prozessen gemein ist, dass sie die derzeitige Situation in der Türkei nicht berücksichtigen, sondern sich auf die Zeit vor 2013 berufen.

Die Anwälte der Angeklagten versuchen zwar über Augenzeugen und Expertenberichte die Richter und Staatsanwälte davon zu überzeugen, dass vor allem die Eingruppierung der PKK als Terrororganisation hinterfragt werden muss, aber deutsche Mühlen mahlen langsam. Ja, Angela Merkel kann Erdogan versichern, dass Deutschland im Kampf gegen den Terror auf der Seite der Türkei steht!

AKP = Terror-Organisation?

Ein absolutes Tabuthema! Niemals würde Merkel Erdogan darauf aufmerksam machen, dass seine Begründung für die vielen Menschenrechtsverletzungen, der Putsch sei das Werk von seinem Ex-Freund Gülen, möglicherweise auf falschen Behauptungen von ihm selbst beruht. Wie ein Geheimdienstbericht aus Belgien nun aufdeckt, soll der Putschversuch vom 15. Juli kein Gülen-Putsch, sondern ein Putschversuch von Militärs, die den Kemalisten, der Erdogan-Regierung und kritischen Geistern aus der AKP angehörten, gewesen sein.

Damit wollten sie der in Militärkreisen bekannt gewordenen geplanten "Säuberungswelle" Erdogans zuvorkommen. Denn die Listen der Menschen, die praktisch Stunden nach dem Putschversuch verhaftet wurden, lagen wohl schon länger in Erdogans Schubladen. Alles deutet darauf hin, dass sich Erdogan schon vor dem Putsch seiner Kritiker entledigen wollte.

Das Thema Menschenrechtsverletzungen anzusprechen, verbittet sich ebenfalls. Den Krieg der AKP gegen die Kurden im Südosten gibt es in Angela Merkels Wahrnehmung nicht. Psychologen würden von selektiver Wahrnehmung als Selbstschutz sprechen. Denn sonst hätte sie ein weiteres Problem mit ihrer angekratzten Glaubwürdigkeit. Von daher wird auch der Bericht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) kein Thema sein.

Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Der neu gekürte EU-Präsident, Guido Raimondi, stellte vor ein paar Tagen auf einer Pressekonferenz die Bilanz der eingegangenen Klagen des vorangegangenen Jahres aus der Türkei vor. Daraus geht hervor, dass seit dem Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli 2016 allein 8.308 neue Klagen zur Türkei eingegangen sind. Im Vergleich zum Vorjahr ist das eine Steigerung um 300%.

2016 wurden insgesamt "nur" 2. 212 eingereichte Klagen gegen die Türkei akzeptiert, in 88 Fällen wurde die Türkei verurteilt. Insgesamt liegen dem EGMR 12.575 anerkannte Klagen gegen die Türkei vor. Zum Vergleich: Insgesamt gibt es derzeit 80.000 Klagen zu Menschrechtsverletzungen in den 47 Mitgliedsländern zusammen.

Mit einem Anteil von 15% an der Gesamtmenge der eingereichten Klagen ist die Türkei, nach der Ukraine, das Land mit den meisten anhängigen Anklagen. EU-Präsident Guido Raimondi nahm in dem Bericht auch Stellung zur Haftsituation Abdullah Öcalans, dem seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft sitzenden Vorsitzenden der PKK.

Dass dem Inhaftierten seit 5 Jahren eine Konsultation seiner Anwälte vorenthalten wird und dass er keinen Schriftverkehr haben darf, sieht er als Verstoß gegen den Artikel 34 der europäischen Menschenrechtskonvention. Die Türkei ignoriert jedoch die Verurteilungen und hat bis heute keine der Auflagen zu den Verurteilungen erfüllt.

Vorwürfe gegen Deutschland

Die Bundesrepublik ist momentan auch nicht unbedingt ein Musterbeispiel für Demokratie. Die Waffenlieferungen von Deutschland an die Türkei beliefen sich im Jahr 2015 auf 39 Millionen Euro und im Jahr 2016 auf 92,2 Millionen. Deutschland hat damit die Waffenlieferungen an die Türkei innerhalb eines Jahres um mehr als 50% gesteigert. Den Vorwurf, dass Deutschland damit indirekt an den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei beteiligt sei, kann man nicht von der Hand weisen.

Die Menschenrechtsverletzungen, die in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation IHD nur für die kurdischen Gebiete für 2016 im Südosten der Türkei aufgeführt sind, sprechen für sich. Auch aus diesem Grund wird das für die Bundesregierung brisante Thema "Kurden" vermieden und keine Lösungsmöglichkeit für dieses Kernthema unterbreitet werden.

Dabei wäre es so einfach: die Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit den Kurden (PKK) und die Gewährung von Minderheitenrechten; die Freilassung der HDP/DBP-Abgeordneten und das Fallenlassen des Terrorismusvorwurfs; faire Gerichtsverfahren durch die Vorlage klarer Beweise durch die Staatsanwaltschaft anstatt bloßer Behauptungen; die Wiederzulassung kritischer Medien und eine demokratische Auseinandersetzung im Parlament und in den Medien zu strittigen Themen.

In einer Demokratie ist inhaltlicher Streit erwünscht. Dafür bedarf es aber einer anerkannten Opposition. Aber das ist utopisches Wunschdenken. Die politische Richtung der Türkei wird deutlich, wenn man diesen Tweet auf Twitter liest: Ein Journalist der regierungsnahen Zeitung Yeni Safak postete: "Mit der Verfassungsänderung endet die zweihundertjährige anglojüdische Vorherrschaft."