Migranten im Mittelmeer: "Chance für eine neue Ära"

Italien und Malta sollen weiter die sicheren Häfen für die Seenotrettung bereitstellen. Italien fordert, dass die Migranten zulasten der EU verteilt werden und Wirtschaftsflüchtlinge zur Verteilung gehören. Update

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Der deutsche Innenminister Seehofer spricht "von einer Chance für eine neue Ära". Gemeint ist die Ablösung des italienischen Innenministers Salvini. Mit dessen Nachfolgerin, der parteilosen Luciana Lamorgese, erhofft sich nicht nur der deutsche Innenminister einen größeren politischen Spielraum bei den Verhandlungen zur Verteilung der Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa kommen.

Die neue Regierung in Rom gibt auch Signale des Entgegenkommens: Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche konnte das NGO-Seenotrettungsschiff Ocean Viking in einem italienischen Hafen anlanden. Dem Schiff mit 182 aus Seenot gerettete Migranten wurde die sizilianische Stadt Messina als sicherer Hafen zugewiesen.

Die Verhandlungen dauerten diesmal nicht lange, es gab kein Drama und kein "unwürdiges Geschachere im Menschenleben" (Außenminister Heiko Maas). Die italienische Zeitung La Republicca wertet dies als Zeichen des guten Willens vor dem heutigen Gipfeltreffen von EU-Innenministern in Malta.

Fester Mechanismus statt Lösungen von Fall zu Fall

Dort wollen Seehofer und seine Amtskollegen aus Italien, Frankreich und Malta sowie Vertreter von Finnland, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, und Mitglieder der EU-Kommission über einen festen Mechanismus zur Verteilung der Migranten beraten - einen Automatismus, der langwierige Verhandlungen erspart. Es ist ein neuer Versuch nach den gescheiterten Bemühungen bei den beiden Treffen in diesem Sommer in Helsinki und Paris.

Da war Salvini noch italienischer Innenminister, der eigene Pläne und Vorstellungen hatte. Viele Medienberichte waren sich in ihren Darstellungen darüber einig, dass das Scheitern hauptsächlich an ihm lag. Der heutige Gipfel in Malta soll nun einen Beschluss vorbereiten, der am 8. Oktober bei einem Treffen in Luxemburg festgezurrt werden soll.

Der Beschluss wird eine Rolle dabei spielen, ob es eine "neue Ära" gibt, von der Seehofer spricht, und wie lange sie dauert. Aus italienischer Sicht gibt es zwei grundsätzliche Forderungen, die Innenministerin Lamorgese laut La Republicca unbedingt durchsetzen muss: Dass die EU-Länder die Hauptlast bei der Verteilung der Migranten übernehmen, die aus Nordafrika nach Europa kommen, und dass darin auch die Wirtschaftsflüchtlinge inbegriffen sind.

Frankreich: Eine 25-Prozent-Zusage mit Einschränkungen?

Die letztere Forderung mag manchen außerhalb Italiens etwas überraschen. Begründet wird sie damit, dass es aus Paris Mitteilungen gab, wonach man Frankreich nur Migranten mit anerkanntem Schutzstatus übernehmen will. Das wäre stimmig mit den Prinzipien der Migrationspolitik, die Macron seit längerer Zeit schon heraushebt. Aber es wäre eben auch eine erhebliche Beschränkung der Zusage, wonach nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich beim neuen Mechanismus die Aufnahme von 25 Prozent der Geretteten zusichern würde.

Offenbar sind diese Zusagen noch nicht wirklich spruchreif, weil sie davon abhängen, welche Angebote die anderen EU-Länder machen. Seehofer wird dahingehend zitiert, dass noch ein hartes Stück Arbeit bevorstehe. "Eine feste Vereinbarung von Quoten werde es auf Malta noch nicht geben" (Focus).

Dass der Außenminister des Gastgeberlandes für den entscheidenden Gipfel im nächsten Monat, der Luxemburger Jean Asselborn fordert, dass mindestens zwölf EU-Staaten "ihrer Verantwortung nachkommen und gerettete Migranten aus dem zentralen Mittelmeer aufnehmen", zeigt, dass nicht allein Salvini das Problem war, das einer Einigung im Weg stand.

Italien: 85 Prozent der Migranten im Land sind "Wirtschafts- oder Armutsflüchtlinge"

In Italien sind 85 Prozent der Migranten im Land sogenannten Wirtschafts- oder Armutsflüchtlinge, wie La Republicca berichtet. Der mittlerweile auch in Deutschland bekannte Migrationsforscher Matteo Villa hat in der Vergangenheit bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die Italien mit der Rückführung der Migranten hat und damit, dass viele Migranten gemäß den Dublin-Vereinbarungen von anderen EU-Ländern - auch von Deutschland - wieder zurückgeschickt werden.

In seinem jüngsten Artikel präsentiert er weitere Zahlen, die der größeren Öffentlichkeit hierzulande nicht unbedingt bekannt sind. Etwa dass die aus Seenot geretteten Migranten, die in Italien gelandet sind, zwischen Juni 2018 und August 2019 nur 9 Prozent der Zahl der Migranten betragen, die in diesem Zeitraum nach Italien gekommen sind.

Insgesamt sind laut der Zahlen Villas, der sich üblicherweise auf Angaben der italienischen Behörden und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sowie des UNHCRs beruft, von Juni 2018 bis August dieses Jahres 15.095 Migranten in Italien angekommen: "Da die überwiegende Mehrheit der Ankünfte mit kleinen Booten autonom ist, konnte Italien die Häfen nicht 'schließen' und die Boote fernhalten. Daher wurde die Landung immer ohne Verhandlungen mit anderen europäischen Partnern erlaubt." (Matteo Villa).

Die Aussage Villas deckt sich mit der Klage des Bürgermeisters von Lampedusa, Salvatore Martello, wonach im Sommer mehr Migranten über "Geisterschiffe" nach Lampedusa gekommen seien, als es die Öffentlichkeit bekannt wurde.

Es geht um 9 Prozent der Migranten

Geht es um die aus Seenot geretteten Migranten, über deren Verteilung nun in Malta vorverhandelt wird, so betrifft das laut dem Bericht von Matteo Villa eben nur 9 Prozent der Migranten, die im erwähnten Zeitraum in Italien ankamen - zwischen Juni 2018 und August dieses Jahres waren dies 1.346 Personen. Andere europäische Länder haben davon 593 übernommen. Damit beschränkte sich die "europäische Solidarität" nach Berechnungen des italienischen Migrationsforschers auf "4 Prozent der gesamten Anlandungen".

Würde es in Malta und nachfolgend in Luxemburg zu Zusagen kommen, wonach die europäischen Länder mehr als die bisherigen 44 Prozent der aus Seenot Geretteten übernehmen, dann wäre das ein Schritt zu einer besseren Bilanz als unter Salvini.

Würde sich allerdings bestätigen, was oben angedeutet wurde, dass Frankreich darauf besteht, nur Migranten zu übernehmen, die Chancen haben, in Europa Schutz zu erhalten, dann würde der Anteil drastisch sinken. Laut den neuesten verfügbaren Daten, so Villa, erhalten in Italien weniger als 20 Prozent der Asylbewerber tatsächlich Schutz.

Bislang stehen Deutschland und Frankreich mit der Ankündigung im Wort, dass sie jeweils 25 Prozent der Migranten übernehmen würden, die aus Seenot gerettet und nach Italien oder Malta gebracht werden. Frankreich hält nach wie vor daran fest, dass es keinen sicheren Hafen, wie zum Beispiel Marseille, zur Verfügung stellen will. Wer soll die anderen 50 Prozent übernehmen?

Wer macht bei der Koalition der Willigen mit?

Als Mitglieder einer Koalition der Willigen werden hauptsächlich Irland, Portugal, Kroatien, Litauen und Luxemburg genannt, da diese Länder bei den bisherigen Ad-hoc-Verhandlungen zur Aufnahme der geretteten Migranten Angebote gemacht hatten. Aber das würde nicht für die andere Hälfte reichen. Daher gibt es, wie es der luxemburgische Außenminister Asselborn erneut andeutete, Überlegungen, den Willen zur Aufnahme mit Sanktionen zu befördern. Die Chancen dürften mit diesem Instrument allerdings nicht erheblich verbessert werden, eher belastet dies das Klima innerhalb der EU noch weiter.

Zu den Schwierigkeiten kommt hinzu, dass die Migranten, die über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa kommen, nur ein Ausschnitt im größeren Bild sind. Auch Spanien und vor allem Griechenland sind Ziele der Migranten, die übers Meer nach Europa wollen. Es geht also nach wie vor um einen größeren Plan als nur das Ersetzen der Adhoc-Vereinbarungen bei den Migranten, die von den NGO-Schiffen gerettet werden.

Dass in Italien der Großteil der Migranten ohne Schutzstatus im Land bleiben, verweist auf ein weiteres großes Problem - das der Rückführungsvereinbarungen mit Herkunftsländern. Mit dem Fehlen solcher Vereinbarungen hängt auch das Problem der Rückführungen von Migranten (siehe Gerald Knaus) zusammen, die von der Küstenwache vor der libyschen Küste aufgegriffen und in Lager zurückgebracht werden, in denen menschenunwürdige und lebensgefährliche Bedingungen herrschen.

Nachtrag

Nach Angaben der Tagesschau hat man sich in Malta auf einen vorläufigen Verteilungsmechanismus geeinigt und ein Papier ausgearbeitet. Details wurden nicht bekannt gegeben. "Wir haben Regelungen gefunden für einen temporären Notfallmechanismus, die Italien und Malta helfen", sprach der angeblich hochzufriedene Bundesinnenminister Horst Seehofer nach dem Treffen in die Mikrophone. Nun kommt es darauf an, wer noch mitmacht.