Militär-Weißbuch 2016: Nur PR-Wortgeklingel?

Seite 5: Kapitulation angesichts der jahrzehntlangen Militärdiskurse mit verfassungsfeindlicher Tendenz?

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IMI-Autor Andreas Seifert sympathisiert mit der Forderung nach einem alternativen Friedens-Weißbuch. In seinem Fazit gibt er zu bedenken, dass hingegen jeder Versuch einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Militär-Weißbuch dessen "selbst zugeschriebene Relevanz als strategisches Dokument" bestätige.

Dem zweiten Punkt kann ich nur bedingt zustimmen. Wer etwa gründlich nachforscht, welche Bereiche in der neuen Publikation nicht oder nur ganz flüchtig zur Sprache kommen, stößt auf wichtige Diskussionsfelder, z.B.: Budgets von Entwicklungshilfe und zivilen Friedensprogrammen ohne militärische Instrumentalisierung, deutsche Drohnen-Aufrüstung, ethische Debatte über Militärtechnologie mit "autonomen Funktionen" und unbewältigte menschliche Probleme in einer Bundeswehr, die jetzt weltweit "Armee im Einsatz" ist.

Im Wortlaut fehlt auch der entscheidende Satz aus der Präambel der UN-Charta ("die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien"); die Vokabel "Angriffskrieg" kommt im ganzen Text ebenfalls nicht vor. Noch grundlegender ist deshalb: Die Weißbuch-Schreiber aus Hardthöhe bzw. Bendlerblock formulieren bzw. wiederholen über "Code-Wörter" wie selbstverständlich Planungsgesichtspunkte und Zielvorgaben für militärisches Agieren, die weder im Grundgesetz noch im Völkerrecht vorgesehen sind.

Anders als noch vor zehn Jahren glauben die Regierenden heute, man brauche das gar nicht mehr zu rechtfertigen und die Kritiker hätten längst kapituliert. Umso mehr müssen Verfassungspatrioten auf die verfassungs- und völkerrechtliche Debatte drängen, die in der breiten Öffentlichkeit nie stattgefunden hat. Langjährige Übungen von Ministerien schaffen noch kein "Gewohnheitsrecht": Militärdoktrinen zugunsten nationaler Macht- und Wirtschaftsinteressen sind ein Anschlag auf das Grundgesetz und lenken uns in eine düstere Zukunft.

Die in mehreren Wortmeldungen vorgetragenen Beobachtungen zum Werbebroschüren-Charakter und zur Phraseologie des neuen Militär-Weißbuches bleiben jedoch zentral. Allgegenwärtig geworden sind in den Jahrzehnten der neoliberalistischen Ideologie aufgeblasene Wortneubildungen ohne Inhalt, "kreativ-flexibel-innovative" Omnipotenz-Phantasien, Kompetenz-Checklisten oder Beschwörungen von "Leadership" (was sich in der deutschen Sprache von "Führer" ableiten würde). Ökonomistisches "Qualitätsmanagement" vergewaltigt - im Kleinen wie im Großen - leibhaftige Lebensräume, in denen Menschen vormals mit Lust das Zusammenarbeiten einübten und nicht die Konkurrenz.

Je mehr Neusprech und verbales Potenzgehabe, desto trauriger wurden die Verhältnisse. Die Gesellschaft, so sie noch demokratisch ausgerichtet ist, sollte neoliberalistischen Sprachnebel am wenigsten in einem Ministeriums-Dokument dulden, in dem Fragen des Weltfriedens behandelt werden. Hier gilt ein Satz, der wörtlich in einem Internet-Werbeauftritt der Bundeswehr steht: "Leichte Sprache ist auch gut für alle Menschen."

Kein Friede ohne globale Gerechtigkeit

Stiller geworden ist es in den Militärdiskursen der mächtigen Länder um die sogenannte "Schutzverantwortung" (R2P). Machtideologen haben die einmal gut gemeinte Initiative ganz verdorben, da sie das nur "polizeilich" (!) zu verwirklichende Konzept sofort militärisch vereinnahmten und die Entwicklung von Verfahren, die zum Schutz von Menschen auch funktionieren, sabotierten. Wie praktisch ist doch das Etikett "humanitär", wenn man mit seiner Hilfe an der UNO vorbei mit Waffen überall intervenieren und rein zufällig nebenbei auch eigene Interessen absichern kann. Impulsgeber Kofi Annan hatte ursprünglich das genaue Gegenteil im Sinn (Norman Paech, jW 26.06.2015).

Die Regierenden wissen sehr gut, warum sie inzwischen die rettende "Menschfreundlichkeit" bei ihren Militärplanungen rhetorisch nicht mehr so hoch hängen. Das Geschick der Elenden dieser Erde lässt sich immer schwerer unsichtbar machen. Im neuen Bundeswehr-Weißbuch werden die vielen Millionen Flüchtlinge des Erdkreises unter dem Gesichtspunkt einer "irregulären Migration" betrachtet (alte Sprachregelung: "illegal"). An sich ist Migration volkswirtschaftlich durchaus erwünscht: "Unser Land ist aufgrund seiner demographischen Entwicklung auf legale, rechtmäßige Zuwanderung angewiesen." (WB, S. 42) Aber diese darf sich eben nicht "unkontrolliert" und außerhalb "unserer" Regularien vollziehen.

Wie gehabt: Die "Festung Europa" muss vor den Ansprüchen der Elenden und armen Glückssucher durch Mauern geschützt werden. Das bleibt Aufgabe militärischer Planungen. Wenn dann die Bilder von Wasserleichen nicht aufhören und Einblicke in neuartige Menschenlager hinzutreten, versteht jeder, wie es um die "humanitären Verhältnisse" auf dieser Erde bestellt ist. Wir sind nahgerückte, nutznießende Zeitzeugen einer Weltordnung der "Barbarei". Da führt sich das Gerede von "humanitären Militärinterventionen" selbst ad absurdum.

Kein Verband in der Friedensbewegung verbindet seine NATO-Kritik mit Russland-Verherrlichung. Es gibt aber noch eine bedeutsamere Erklärung dafür, warum sich das zurückliegende Problem der rechten Friedensflaggenschwenker erledigt. Die Solidarität mit allen Flüchtlingen und der Blick auf die eine Menschenfamilie gehören zum Konsens der Friedensbewegung im Land. Noch dringlicher zu vermitteln als das ehedem auch von der bürgerlichen Politik geteilte Prinzip "No Peace Without Law" ist heute die Erkenntnis: "Kein Friede ohne globale Gerechtigkeit". Die kritische Friedensforschung und die Friedensbewegung haben diesen Prüfstein für eine ernsthafte Friedenspolitik in ihren Stellungnahmen an die erste Stelle gesetzt.

Der Verfasser (Theologe, Publizist) ist Mitglied in folgenden Friedensorganisationen: pax christi - Internationale katholische Friedensbewegung; DFG-VK und Internationaler Versöhnungsbund.