Militärs und Diplomaten wollen "raus aus der Eskalationsspirale"

Ex-Generäle, Diplomaten und Friedensforscher haben einen Appell zur Deeskalation lanciert. Weil sich die meisten Autoren als Transatlantiker verstehen, könnte er Folgen haben

Das wurde auch allerhöchste Zeit! Nachdem sich in den letzten Wochen das militärische, politische und mediale Gerangel um die Ukraine brandgefährlich zugespitzt hatte und das verbale Säbelrasseln täglich schriller wurde, meldete sich vor anderthalb Wochen unerwartet eine Stimme der Vernunft zu Wort. Und sie kommt nicht aus dem Lager der üblichen Verdächtigen.

Unlängst veröffentlichte eine illustre Gruppe überwiegend konservativer ehemaliger deutscher Generäle, Botschafter und Friedensforscher – darunter der ehemalige Botschafter bei der Nato und in Russland, Ulrich Brandenburg, der Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann sowie der ehemalige Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Michael Brzoska – einen Appell mit dem unzweideutigen Titel "Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland".

Der in militärischer Kürze gehaltene Text kommt sofort auf den Punkt. Er konstatiert nüchtern, die Welt drohe in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rücke. Nun müsse umgehend alles dafür getan werden, die Eskalationsspirale zu durchbrechen.

Die prominenten Autoren – die meisten von ihnen haben das Pensionsalter längst überschritten – lassen keinen Zweifel daran, dass sie keine Russland-, gar "Putin-Versteher" sind. Im Gegenteil: Sie kritisieren deutlich die angeblichen oder tatsächlichen "Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber Nato-Staaten in Übungen, insbesondere durch Aktivitäten der nuklearen Kräfte".

Sie wollen Deutschland nicht aus der Nato führen oder diese gar abschaffen. Sie wollen aber auch nicht zum hundertsten Male lediglich lautstark die westlichen Werte bemühen oder die üblichen Narrative bedienen.

Kurzum: Die Ex-Generäle und Diplomaten a.D., die ihre einschlägigen Karrieren überwiegend im Kalten Krieg absolvierten und daher die akute Gefahr sehr genau einschätzen können, schwingen das scharfe Schwert der immanenten Kritik. Ihre Vorschläge zur unmittelbaren Schadensbegrenzung und schrittweisen -verringerung, stehen auf dem festen Boden der Realpolitik.

Was sie für die Kalten Krieger in Politik und Medien umso brisanter macht.

Schritte aus der Eskalationsspirale

Das Papier hebt sich wohltuend von der üblichen Medienhysterie ab, indem es völlig selbstverständlich und ohne dies groß zu betonen, auch die russischen Sicherheitsbedürfnisse als gleichberechtigt anerkennt, statt diese, wie bislang üblich, als Quantité négligeable reflexartig vom Tisch zu wischen.

Ebenso nüchtern lassen die Autoren zwischen den Zeilen durchblicken, dass sie die westliche Sanktionspolitik wie die "einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik" für gescheitert halten. Ein möglicher Ausschluss aus dem Swift-System, den US-Präsident Joseph Biden kürzlich wortgewaltig als Sanktionssuperwaffe androhte, könnte ihrer Meinung nach gar die Sicherheitslage Europas berühren – weil er die russische Wirtschaft gefährden würde.

Man sieht, die Autoren sind – heute eine immer seltenere Eigenschaft – in der Lage, Perspektivenwechsel vorzunehmen und sich auch mal in die Schuhe ihres jeweiligen Gegenübers zu stellen. Sie denken vernetzt und nicht in simplen Freund-Feind-Polarisierungen.

Als Profis wissen sie, dass Gespräche immer und namentlich zu Krisenzeiten eine Conditio sine qua non sind, die niemals an Bedingungen geknüpft werden darf. Und ihre Vorschläge zum Ausstieg aus der Eskalationsspirale wären tatsächlich geeignet, das Blatt zu wenden – vorausgesetzt, sie würden umgesetzt.

Der Westen, so schreiben sie, dürfe der Eskalation nicht tatenlos zusehen oder diese gar stillschweigend billigen. Er solle vielmehr "aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden." Im Einzelnen schlagen sie vor:

Einberufung einer hochrangigen Konferenz mit dem Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 und der Budapester Vereinbarung von 1994, und zwar ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten.

Solange diese Konferenz tage, solle auf beiden Seiten auf jede militärische Eskalation verzichtet und beiderseits der Grenze zwischen der Russischen Föderation und ihren westlichen Nachbarn keine weiteren Truppen und Infrastruktur stationiert werden. Zugleich plädieren die Autoren für die vollständige wechselseitige Transparenz bei Militärmanövern.

Der Nato-Russland-Dialog solle ohne Konditionen auf politischer und militärischer Ebene wiederbelebt werden. Dazu zähle auch ein Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle, da mittlerweile sämtliche wesentlichen Verträge für die europäische Sicherheit gekündigt seien. Umso wichtiger seien alle Maßnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz und zur Förderung des Vertrauens.

Schließlich solle "trotz der derzeitigen Lage" als Anreiz für Russland, zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen zurückzukehren, über weitergehende wirtschaftliche Kooperationsangebote nachgedacht werden.

Es sollten Win-Win-Situationen geschaffen werden, um die derzeitige Blockade zu überwinden. – Und nun kommt der entscheidende Satz: "Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten.

Mit Rücksicht darauf sollte in Fragen der künftigen Mitgliedschaften in Nato, EU und CSTO für die Dauer der Konferenz ein Freeze vereinbart werden." Gemeint sind hier vor allem Georgien und die Ukraine.

Es geht den Autoren also zusammengefasst darum, die Logik der Eskalation zu durchbrechen, die aktuelle Situation zu entschärfen und einen Freiraum zu schaffen, in dem Kontakte wieder geknüpft und, wenn es positiv laufen sollte, das Vertrauen Schritt für Schritt rekonstruiert werden könnte.

Im optimalen Falle könnte am Ende eine neue europäische Sicherheitsstruktur stehen, die das zentrale Prinzip der Charta von Paris wieder aufnähme: "Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden."

Eine breite Diskussion ist fällig

Beim Lesen dieses bemerkenswerten Textes atmet man förmlich auf: Endlich ein realpolitischer Ansatz für eine intelligente Politik statt der ewigen kontraproduktiven ‚Werte-Gebetsmühle‘, die jetzt auch die neue deutsche Außenministerin ebenso forsch wie unreflektiert bedient! Und zwar von Persönlichkeiten, die über einen gewissen Einfluss verfügen.

Der Appell kommt exakt zum richtigen Zeitpunkt, zu einem Augenblick, wo möglicherweise auch im Verhältnis zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Präsidenten etwas in Bewegung gekommen sein könnte.

In den vergangenen Jahren wurden die Themen Frieden und Abrüstung in Deutschland eher von den Rändern besetzt. Dieser Text aber, und das macht seine Brisanz aus, hat das Potenzial breitere Bevölkerungskreise zu erreichen – wenn er kommuniziert wird …

Das Papier und seine Grundgedanken sollten daher schnellstmöglich als Start für eine breite Lösungsdiskussion in der deutschen, westlichen und russischen Öffentlichkeit, besser noch: als Ausgangspunkt einer längst überfälligen zivilgesellschaftlichen Initiative für militärische Deeskalation genutzt werden.

Weitergehende Konzepte und Lösungen – Vorschläge dazu gibt es seit Langem – können später in einer entspannteren Atmosphäre entwickelt und angegangen werden, wenn die akute Gefahr gebannt ist.

Nun sind also nicht zuletzt die Zivilgesellschaften gefragt. Selbst die besten Ideen verbreiten sich bekanntlich nicht von alleine.