Mini-Waffenkontrolle wird drohenden Bürgerkrieg in USA nicht stoppen

300 Millionen Gewehre und Pistolen werden von Privatpersonen in den USA besessen. Massentötungen sind das neue Normale. Die Gesellschaft ist tief gespalten, wird gewaltsamer, sogar ein Bürgerkrieg droht. Bild: Thayne Tuason / CC BY-SA 4.0

US-Senat will etwas mehr Kontrollen, das Oberste Gericht erlaubt offenes Tragen von Waffen. Die Massentötungen werden weiter gehen. Droht ein neuer Bürgerkrieg?

Der US-Senat hat gestern ein Gesetz beschlossen, dass Waffenverkäufer in die Pflicht nehmen soll. Etwas stärkere Überprüfung von Waffenkäufer:innen, die unter 21 Jahre sind. Außerdem soll es in Zukunft für die Bundesstaaten leichter sein, potenziell gefährlichen Personen Waffen abzunehmen.

Zugleich kippte das Oberste Gericht eine New Yorker Entscheidung, nach der das offene Tragen von Waffen nur bei nachweislich besonderem Bedarf an Selbstverteidigung gestattet ist. Zwei Mitglieder eines Waffenverbands hatten dagegen geklagt. Sie bekamen nun recht.

Beide Entscheidungen sind im Lichte der letzten Amokläufe und Massentötungen in Uvalde im Bundesstaat Texas und in Buffalo im Bundesstaat New York getroffen worden. Lehren wurden nicht daraus gezogen.

Denn die Waffenkontrollen, wie sie im neuen Gesetz vorgesehen sind – dem auch einige Republikaner zustimmten –, sind Kosmetik und adressieren das Kernproblem nicht: die Tatsache, dass die US-Gesellschaft mit Waffen geflutet und tief gespalten ist. Insgesamt 300 Millionen Gewehre und Pistolen gibt es in den USA bei rund 300 Millionen Einwohner:innen.

Die Supreme-Court-Entscheidung ist zudem ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die trauern, weil tödlicher Schusswaffengebrauch ihre Liebsten dahingerafft hat.

Zur Erinnerung: In diesem Jahr hat es bisher 260 Massenerschießungen in den USA gegeben, und 2022 wird voraussichtlich ein neuer Rekord erreicht. Massenerschießungen – vier oder mehr Opfer bei einem einzigen Vorfall – werden so häufig, dass die meisten längst abgestumpft sind.

Seit den 1980er Jahren hat sich die Zahl der Massenerschießungen um das 90-fache erhöht – von sechs bis neun pro Jahr auf mehr als 900 im Jahr 2022. Und obwohl Massenerschießungen überall auf der Welt vorkommen, bilden die Vereinigten Staaten eine traurige Ausnahme: Bei nur fünf Prozent der Weltbevölkerung sind 31 Prozent der Massenerschießungen in den USA zu verzeichnen.

Salvador Ramos, der Mörder von Uvalde, arbeitete für 7,25 Dollar in dem örtlichen Schnellrestaurant Wendy's. Er hatte vor kurzem die High-School abgebrochen. Ramos hatte keine Chance, ein College zu besuchen. Er war nicht krankenversichert. Er hatte keine Hoffnung und keine Zukunft. Er war in einer Armutsfalle gefangen, aus der es keinen Ausweg gab.

Seit Jahrzehnte ist die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten rasant gewachsen, resultierend aus politischen Entscheidungen, die die Reichen immer reicher und die Armen ärmer machten. Das hat zu einer Epidemie antisozialen Verhaltens geführt. Auch hier ein paar Zahlen:

Die Zahl der Todesfälle durch Schusswaffen hat ein Rekordniveau erreicht und ist im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt um 45 Prozent gestiegen. Im Jahr 2020 gab es in den USA insgesamt 45.222 Todesfälle durch Schusswaffen.

Die Selbstmordrate ist in den letzten 20 Jahren um mehr als 30 Prozent gestiegen. Mehr als 1,4 Millionen Erwachsene in Amerika begehen jedes Jahr einen Selbstmordversuch. Und 45.979 haben sich im Jahr 2020 umgebracht.

Die höchste Selbstmordrate ist bei weißen Männern der Mittelschicht zu verzeichnen. Die Selbstmordrate ist in der Mitte des Landes am höchsten. Im Jahr 2020 hatten 54 Prozent der Menschen, die durch Selbstmord starben, keine bekannte psychische Erkrankung.

Die Gesundheitsrisiken für Jugendliche haben sich von Schwangerschaft, Alkohol- und Drogenkonsum auf Depressionen, Selbstmord und Selbstverletzung verlagert.

Daten der staatlichen Behörden zur Überdosierung von Drogen zeigen, dass es in den Vereinigten Staaten in einem Zeitraum von zwölf Monaten schätzungsweise 100.306 Todesfälle durch Überdosierung von Drogen gab, was einem Anstieg von 28,5 Prozent gegenüber den 78.056 Todesfällen im gleichen Zeitraum des Vorjahres entspricht.

"Der nächste US-Bürgerkrieg ist bereits da – wir weigern uns nur, ihn zu sehen."

In letzter Zeit wurde in den USA viel über die amerikanische Demokratie und den Kapitalismus geschrieben und darüber, dass das politische System der freien Marktwirtschaft in Gefahr ist. Der Milliardär und Investor Ray Dalio, Gründer des riesigen Hedgefonds Bridgewater Associates, warnte in einem Tweet, dass Amerika wegen der zunehmenden Ungleichheit "am Rande eines schrecklichen Bürgerkriegs" stehe.

Barbara F. Walter, Politikwissenschaftlerin an der University of California in San Diego, stimmt dem zu. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sie für die CIA Bürgerkriege rund um den Globus untersucht und vorhergesagt.

In ihrem neuen Buch "How Civil Wars Start" schlägt sie Alarm wegen der zunehmenden Wahrscheinlichkeit eines zweiten Bürgerkriegs in den Vereinigten Staaten.

Die Wirtschaftseliten haben eine verhängnisvolle Strategie entwickelt, die den Zweck verfolgt, die wütende Mehrheit zu spalten und zu bagatellisieren, sodass sie weniger in der Lage ist, ihre Bedürfnisse wirksam zu artikulieren.

Wenn dieser Zustand und die politische Zerrissenheit unvermindert anhalten, so Walter, könne es durchaus zu einem zweiten Bürgerkrieg kommen.

Ein Bürgerkrieg heute wird nicht so aussehen wie in Amerika in den 1860er Jahren, in Spanien in den 1930er Jahren oder in Russland in den 1920er Jahren. Er wird mit sporadischen Gewalt- und Terrorakten beginnen, die durch die sozialen Medien beschleunigt werden. Es wird sich an uns heranschleichen und uns fragen lassen, wie wir so blind sein konnten.

Walter ist nicht allein. Stephen Marche im Guardian schreibt:

Der nächste US-Bürgerkrieg ist bereits da – wir weigern uns nur, ihn zu sehen.

Eine alarmierende Umfrage des konservativen American Enterprise Institute ergab, dass 39 Prozent der Republikaner den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele unterstützen. Viele sprechen offen vom Bürgerkrieg.

Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass eine Mehrheit der Amerikaner (46 Prozent) einen künftigen Bürgerkrieg für wahrscheinlich hält, 43 Prozent halten ihn für unwahrscheinlich, und 11 Prozent sind sich nicht sicher.

Jüngere Menschen, Republikaner und diejenigen, die im Süden und in der Region im Mittleren Westen sowie rund um die großen Seen leben, waren fester der Überzeugung von einem kommenden Konflikt als diejenigen im Osten. Schwarze und Hispano-Amerikaner glauben ebenfalls eher an einen kommenden Bürgerkrieg als Weiße.

Das sollte eigentlich alle Alarmglocken läuten lassen.

Die beiden Entscheidungen von gestern zum Waffenbesitz in den USA laufen aber nicht nur in entgegen gesetzte Richtungen und widersprechen sich. Sie zeigen auch, dass die politische Klasse in den USA nicht willens und fähig ist, die Gefahren einzudämmen, die von Waffenbesitz und eskalierender sozialer Spaltung ausgehen.

Ein drohender bis schwelender Bürgerkrieg in dem mächtigsten Land der Welt mit einer enormen ökonomischen und militärischen Reichweite ist kein gutes Omen für eine bessere Zukunft.