Mission: Germany 12 Points
Für ein besseres Abschneiden beim ESC 2016 stellt sich für Deutschland nur die Frage: Wie provoziere ich am besten?
Der ESC 2015 ist Vergangenheit. Für Österreich und Deutschland endete er besonders bitter. Demütigende null Punkte gab es im Finale. Und die heimische Häme ließ nicht lange auf sich warten. Der Stachel sitzt tief. Dagegen gibt es nur zwei Mittel. Entweder man zieht sich schmollend auf den Standpunkt "Mir doch egal. Wer braucht schon den ESC? Der wird sowieso von Jahr zu Jahr schlechter" zurück (während jeder Sieger strahlend beteuern wird, wie toll es ist, angesichts eines immer höher werdenden Niveaus ganz vorne gelandet zu sein). Oder man geht zur Offensive über. Und für Letztere hätte ich einen Vorschlag. Willkommen in meinem Strategiepapier "Mission: Germany 12 Points".
Nach dem Spiel ist bekanntlich vor dem Spiel, und deswegen ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt da, die Weichen für ein besseres Abschneiden beim ESC im nächsten Jahr in Schweden zu legen. Für Deutschland stellt sich nur die Frage: Wie provoziere ich am besten?
Im Grunde ist so eine anständige ESC-Teilnahme ja eine relativ unkomplizierte Sache. Man nehme einen eingängigen Song, lege ihn einem knackigen und treffsicheren Sympathieträger in den Mund und inszeniere das Ganze mit einer ordentlichen Portion Bling-Bling, um von den eventuell doch vorhandenen musikalischen Schwächen abzulenken. So weit, so gut. Leider aber funktioniert diese Strategie offenbar nur bei Ländern, die traditionell eine Menge Freunde haben und wie dieses Jahr beispielsweise Albanien gar nicht schlecht genug sein können, um von der Fangemeinde im Stich gelassen zu werden.
Wer aber nur dann Stimmen bekommt, wenn er etwas ganz anderes als alle anderen bringt, der kommt mit dem Standard-Rezept nicht weiter. Das trifft besonders auf die "small three" der diesjährigen Ausgabe zu: Deutschlands Ann-Sophie halfen weder Stimmgewalt noch Hüftschwung, die österreichischen Makemakes fackelten umsonst einen Flügel ab und auch für die Schweizerin Mélanie René wehte die Windmaschine vergebens. Dabei waren die Beiträge durchwegs solide - was ihnen fehlte, war das gewisse "Wasndas?!"
Was damit gemeint ist, demonstriert am eindrücklichsten der Auftritt von Conchita Wurst beim Songcontest 2014. Ging da ein Raunen durch den Multimediadschungel! Perverse Travestie, neuer Tiefpunkt, wer schützt unsere Kinder - die Empörung war riesig. Und ebenso riesig wurde die Welle der Solidarität, die sich um Conchitas Person formierte. Das 2014 grade wieder reanimierte Feindbild Russland mit seiner notorischen Homophobie kam da äußerst gelegen hinzu. Jede Stimme für Conchita wurde zum Statement gegen Putin.
Somit ist also klar: Soll es für die "small three" wieder einmal klappen, dann nur mit der nötigen Prise Skandal. Und der wäre dieser Tage überaus billig zu haben. Beginnen wir bei der Auswahl der Sängerin. Sie muss jung sein, hübsch, Stimme haben. Und einen Hidschab tragen. Ob sie Muslima ist, ist zweitrangig. Der Hidschab ist die Hauptsache. Er wird zu ihrem Markenzeichen (ja, ich hatte schon über die Burka-Variante nachgedacht - wird schwierig beim Singen). Sie trägt bei jedem Auftritt ein anderes Kopftuch, immer in neuen Stilen, immer edel, immer mit perfektem Make-up.
Unsere Sängerin, nennen wir sie Afsana, ist eine moderne Frau, elegant, modebewusst, aber im Bezug auf ihre Kopfbedeckung formstreng und kompromisslos. Ihr Lied, geschrieben von einem lesbischen israelischen Songwriterinnen-Duo, heißt "Free to believe". Es ist eine hoffnungsvolle Ballade, in der es aber - so müssen wir stets beteuern - keineswegs um Religion geht, sondern ganz diffus und allgemein um ein Leben im Unverstandensein und Außenseitertum, um das Gefühl der Beengung und den Wunsch nach Freiheit. Die Textzeile "When I look up to the sky I’m free - free to believe" ist ein Ohrwurm, der sich beim Frühstückskaffee im Hinterkopf festbeißt und bis zum Schlummertrunk nicht mehr loslässt.
Aber damit ist es freilich noch nicht getan. Jetzt muss der Skandal ins Rollen gebracht werden. Am einfachsten gelingt das, indem ein namhafter rechtspopulistischer Politiker um eine Stellungnahme zu Afsana gebeten wird. Dieser bezichtigt prompt "das vereinte links-linke Gutmenschentum" der systematischen Kulturzerstörung und ruft erwartungsgemäß zu einem Boykott des ESC auf, den er als "unwürdiges Spektakel pervertierter Zirkusaffen" bezeichnet.
Wir reagieren mit Verwunderung und bedauern die intolerante Haltung des Politikers. Nichts liegt uns ferner, als uns auf eine religiöse Debatte einlassen. Freundlich ziehen wir uns auf den Standpunkt zurück, dass Religion Privatsache sei. Afsana trägt nun einmal zufällig ein Stück Stoff auf dem Kopf. Na und? Es geht doch in Wahrheit um die Musik, um die Botschaft von Hoffnung und Freiheit, die Afsana in die Welt hinausjubiliert. Lasst uns lieber darüber reden!
Darüber will aber natürlich überhaupt niemand mehr reden. In den nächsten Wochen machen wütende Leserbriefe und Kommentare in den sozialen Netzwerken die Runde. Das Kopftuch muss runter, nein, es darf bleiben, sie soll auf die Teilnahme verzichten, Unsinn, jetzt erst recht, wie lange wollen wir uns das noch gefallen lassen, die Zeit ist endlich reif.
Afsana erhält Drohbriefe, wird wüst beschimpft, Pfeifkonzerte begleiten jeden ihrer Auftritte. Das Ende des Abendlandes ist nahe, seht her, die Islamisierung ist Realität, wohin soll das führen, neuer Tiefpunkt, wer schützt unsere Kinder?!
Die ausländische Presse wird auf die Affäre Afsana aufmerksam. Voller Anteilnahme wird über die junge Muslima berichtet, die doch nur ein Lied singen will und dafür in ihrem eigenen Land dermaßen angefeindet wird. Während einige internationale Kommentatoren vorsichtig Verständnis zu erkennen geben, lautet der einhellige Tenor schon bald: "Aha, die Deutschen tun es schon wieder!" Fans aus ganz Europa beteiligen sich an Supporting-Blogs, die Afsana moralisch unterstützen. Gib nicht auf, Afsana, tu es für uns alle, wir sind frei, frei zu glauben!
#freetobelieve wird zum am meisten angeklickten Hashtag im Vorfeld des ESC. Als ein rechtsradikaler Schläger (nach anderen Quellen: eine verwirrte Alkoholikerin) versucht, Afsana auf offener Straße den Hidschab herunterzureißen, kommt es zu spontanen Verbrüderungsgesten. Frauen und Männer ohne religiösen Hintergrund posten Fotos, auf denen sie den Hidschab tragen. #jesuisafsana.
Der Wirbel um Afsana drängt die anderen Teilnehmer des Songcontests in den Hintergrund. Der Riss zwischen Afsana-Feinden und -Unterstützern geht selbst bis tief in die schwul-lesbische Community, die einen guten Teil des ESC-Stammpublikums stellt. Ist es wirklich okay, schwul und zugleich islamophob zu sein? Hitzige Debatten folgen. Die Strategie geht voll auf.
Von wegen miserable null Punkte! Mit Afsana und ihrem umstrittenen Kopfputz ist uns ein Platz unter den Top Ten sicher. Vielleicht sogar der Sieg - außer, Italien schickt Cristina Scuccia. Die ist die einzige, die Afsana ernsthaft gefährlich werden kann. Cristina ist nämlich die Gewinnerin von "The Voice of Italy 2014". Und Nonne.