Mit Kapitalismuskritik zum Gottesstaat
Mit einer neuen Botschaft aus der Ferne hat sich Osama Bin Laden zurückgemeldet und will der Menschheit die einzige Alternative zum bösen demokratisch-kapitalistischen System aufzeigen
Pünktlich zum Jahrestag der Terroranschläge, der von Bush zum Patriot Day erklärt wurde, meldet sich Osama bin Laden wieder mit einem Video auf der globalen Medienbühne zurück, verspricht "Die Lösung" und demonstriert vor allem, dass er noch am Leben ist. Ohne Drohungen auszusprechen, scheint er schon damit zeigen zu wollen, was auch der wesentliche Inhalt seiner monotonen, 26 minütigen Rede an die Amerikaner ist, nämlich dass die Supermacht es mit ihren Mitteln nicht schafft, ihn zu finden, die Mudschaheddin zu besiegen und den Irak zu befrieden. Dem scheint die Rede von CIA-Chef Hayden am Freitag auch genau zu entsprechen, der im Hinblick auf den 11.9. versicherte, dass man sich weiterhin im Krieg mit al-Qaida befinde, New York ein Schlachtfeld sei
Fast parallel zur Verbreitung des Bin Laden-Videos erklärte CIA-Chef Michael Hayden vor dem Council on Foreign Relations, dass al-Qaida wieder stärker geworden sei und einen "sicheren Hafen" in den Stammesgebieten Pakistans gefunden habe. Dadurch könnten dort Planungen stattfinden und hätten sich die Kapazitäten erhöht, Anschläge auf das "Heimatland" durchzuführen. Hayden erklärte, dass nach der mit "hoher Zuverlässigkeit" erfolgenden Einschätzung der CIA die "zentrale Führung" von al-Qaida große Anschläge auf dem Territorium der USA plane und dabei Ziele ins Auge nehme, die "viele Opfer, eine gewaltige Zerstörung und bedeutende wirtschaftliche Folgen" verursachen sollen. Davon ist allerdings von Bin Laden selbst nichts zu hören.
Bin Laden hat also nach drei Jahren wieder einmal die mediale Bühne bestiegen und schon aus diesem Grund die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Wieder kann er sich als Widersacher zur Supermacht präsentieren und wird darin von der US-Regierung und den Medien bestätigt, auch wenn unklar ist, wie weit sein Einfluss überhaupt reicht. Noch immer ist unbekannt, wo er oder al-Zawahiri, der zweite geistige Anführer von al-Qaida, sich aufhalten, um hin und wieder virtuell durch mediale Botschaften auf die globale Bühne zu treten und den von US-Präsident Bush mit militärischer Gewalt und von al-Qaida und Co. mit Terroranschlägen unterstützten ideologischen Krieg der Heilsbringer auszutragen. Beide verstehen sich als Gutmenschen, die Gewalt, Blut und "Kollateralschäden" sowie die Verbreitung von Angst und Schrecken selbstverständlich für ihre mehr oder weniger direkt gefärbten religiösen Zwecke einsetzen.
Im Unterschied zur üblichen Praxis, die Botschaften über das Internet zu veröffentlichen, hat angeblich al-Sahab, die al-Qaida-Propaganda-Abteilung, das Video von Bin Laden zuerst an Fernsehsender geschickt. Zunächst war davon die Rede gewesen, dass die Webseiten mit dem Video von den US-Geheimdiensten geschlossen worden wären. Es stimme auch nicht, so al-Sahab, dass manche Websites auf anderem Wege an das Video gelangt seien. Ab heute findet sich das Video auch vollständig auf den üblichen Seiten im Internet.
Bin Laden scheint nun 6 Jahre nach dem 11.9. in eine neue Rolle als Politiker und Weiser schlüpfen zu wollen, der nicht mehr wie 2004 vor den Präsidentschaftswahlen droht (Bin Laden gibt sich staatsmännisch), die religiösen Bekundungen zurückfährt und stärker politisch argumentiert. Ähnlich hatte allerdings al-Sawahiri letztes Jahr in einer Videobotschaft zum 11.9. bereits argumentiert, was andeutet, dass man anders auftreten will, um mehr Menschen anzusprechen (Botschaften im medialen Aufmerksamkeitskrieg). Allerdings nimmt Bin Laden nun die Terroranschläge vom 11.9. für seine Botschaft weiterhin als "Sieg" in Anspruch. Die 19 Mudschaheddin hätten es trotz der Macht der USA geschafft, "den Kompass anders auszurichten". Nach dem 11.9. sei die Wahrheit über die Politik der USA aufgedeckt worden und habe sich deren Ansehen und Stand in der Welt verschlechtert. Im Irak habe Bush Freiheit versprochen, aber dann nur eine Bevölkerungsgruppe gegen die andere unterstützt, wodurch ein Bürgerkrieg verursacht worden sei. Er wirft Bush auch vor, dass er keine maßgebliche Beteiligung der UN zugelassen habe. Überdies habe er in den Spuren der Neokonservativen wie Cheney, Rumsfeld oder Perle den Amerikanern immer gesagt, dass es keine Alternative zur Fortsetzung des Krieges gebe, wenn es keinen Holocaust geben soll.
Interessant ist, dass US-Präsident Bush in einer Reaktion zwar nicht direkt Bin Laden nennt, aber erklärt, dass die Erwähnung von Irak seitens al-Qaida deutlich mache, dass der Krieg im Irak ein Teil des Kriegs gegen den Terrorismus und al-Qaida sei. Das freilich ist erst durch den Einmarsch in den Irak so geworden, wobei die Bush-Regierung gerne zur Rechtfertigung des Kriegs versucht, den vielfältigen Widerstand im Irak durch das Herausstreichen von al-Qaida zu verdecken, die dort den Bürgerkrieg zwar anheizt, aber keine entscheidende Rolle spielt.
Auch wenn Bin Laden seine Rede mit dem Spruch begonnen hat, dass nach Allahs Willen die Moral der Vergeltung - "Zahn um Zahn, Auge um Auge und der Mörder wird getötet" - herrscht, versucht er, die Argumentation umzukehren und den Westen mitsamt der christlichen Religion im Gegensatz zur islamischen Kultur als die primären Aggressoren darzustellen. "Die Moral und die Kultur des Holocaust ist eure, nicht unsere Kultur." Der Holocaust an den Juden, so Bin Laden, sei schließlich mitten im Westen von den Europäern ausgegangen, die Juden hätten dann Zuflucht bei den Muslimen gefunden. Und es hätten noch mehr Juden gerettet werden können, wenn der Holocaust näher an den islamischen Ländern begangen worden wäre. Er vergleicht dies mit den Zeiten der spanischen Inquisition, wo auch viele verfolgte Juden in den islamischen Ländern Zuflucht gefunden haben. In Marokko gebe es jetzt eine der größten jüdischen Gemeinschaften, die dort frei leben können. In Ägypten würden viele Christen seit 14 Jahrhunderten leben, ohne verfolgt und eingesperrt zu werden. Dafür würde aber die islamische Kultur seit langer Zeit verzerrt von Politkern, Medien und Künstlern, vor allem auch von Hollywood, dargestellt.
Der Genozid fand durch eure Hände statt: Nur wenige Indianer konnten ihm entrinnen. Nur wenige Tage früher erlebten die Japaner den 62. Jahrestag der Auslöschung von Hiroshima und Nagasaki durch eure Atombomben. Und unter den Dingen, die demjenigen auffallen, der die Folgen eures ungerechten Kriegs gegen den Irak überdenkt, ist das Scheitern eures demokratischen Systems, auch wenn die Slogans von Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschlichkeit verkündet wurden. Es ist nicht nur gescheitert, die zu erreichen, es hat diese und andere Konzepte in Wirklichkeit zerstört, um sie durch Angst, Zerstörung, Töten, Hunger, Krankheit, Vertreibung und mehr als eine Million Waisen in Bagdad alleine zu ersetzen, um nicht von den Hunderttausenden von Witwen zu sprechen. Amerikanische Statistiken sagen, dass mehr als 650.000 Menschen im Irak durch den Krieg und seine Folgen getötet wurden.
Seine Anklage dürfte zwar nicht viele im Westen überzeugen, ist aber noch stärker an die Muslime gerichtet und könnte dort neue Sympathien erwecken. Den Amerikanern hält er vor, dass sich trotz der demokratischen Mehrheit im Kongress nichts an der amerikanischen Politik geändert habe. Viele Amerikaner seien daher von der Politik enttäuscht. Bin Laden nimmt dann einen Vergleich mit Vietnam auf, wo es al-Qaida noch nicht gegeben habe, um zu zeigen, dass die amerikanische Politik schon damals wie jetzt im Irak von wirtschaftlichen Interessen gesteuert werde. Er verweist darauf, dass Kennedy sich dem Druck widersetzte, reguläre Truppen nach Vietnam zu schicken und suggeriert, dass dieser auch deswegen getötet worden sein könnte, weil der Vietnamkrieg den großen Konzerne zugute kam. Schon damals sei Rumsfeld beteiligt gewesen. Schon die Ernennung von Rumsfeld, Cheney, Powell und Armitage beim Antritt der Bush-Präsidentschaft habe gezeigt, dass sie zu ihrer Grundlage eine kriegerische Politik gemacht hat. Von Unschuld könne man so nicht sprechen.
Auch die von Bin Laden erwähnten Autoren lassen eine Veränderung des Argumentationsstils erkennen. So wird Noam Chomsky lobend erwähnt, u.a. weil er sagte, dass der Irak-Krieg wegen des Öls geführt werde. Für die Diagnose des Untergangs des amerikanischen Reichs wies er auf einen europäischen Denker hin, der auch den Zusammenbruch der Sowjetunion prophezeit hatte. Bin Laden meint damit also vermutlich Emmanuel Todd und sein Buch: Weltmacht USA – Ein Nachruf".
Besonders stellt Bin Laden das 2004 erschienene Buch "Imperial Hubris: Why the West is Losing the War on Terror" von Michael Scheuer, einem ehemaligen CIA-Mitarbeiter heraus, der bis 2004 bei dem Geheimdienst gearbeitet, dort auch über Jahre die Abteilung zur Jagd auf Bin Laden geleitet und sie später beraten hat. "Wenn ihr verstehen wollt, was vor sich geht, und wenn ihr einige der Gründe kennenlernen wollt, warum ihr den Krieg gegen uns verlieren werdet, dann lest das Buch von Michael Scheuer", empfiehlt Bin Laden. Tatsächlich hat die Empfehlung Erfolg. Innerhalb von zwei Stunden kletterte das Buch auf der Rangliste von Amazon vom Platz 55 auf Platz 47. Allerdings war oder ist Scheuers Buch, in dem er unter anderem auch den Irakkrieg bereits verloren gab, sowieso ein Bestseller.
If you want to understand what's going on and if you would like to get to know some of the reasons for your losing the war against us, then read the book of Michael Scheuer.
Warum die Demokratie des Teufels oder kapitalistisch ist
Es würde nichts nützen, wenn die US-Bürger gegen den Krieg demonstrieren, weil, so setzt Bin Laden tiefer an, das "demokratische System" versagt habe und von den Konzernen beherrscht werde. Dabei identifiziert er das demokratische System mit den USA und mit dem Kapitalismus. Es gebe nur zwei Lösungen. Entweder müssten diejenigen, für die Bin Laden sprechen will, den Krieg weiterführen und verstärken, um irgendwann zu siegen. Oder die Menschen müssten sich vom "kapitalistischen System" befreien, wie sie sich zuvor auch gegen die Herrschaft "der Mönche, der Könige und des Feudalismus" gewandt hätten. Das kapitalistische System sei wahrhaft "terroristisch", was man auch daran sehen könne, dass die US-Regierung zugunsten der Konzerne nicht dem Kyoto-Protokoll beigetreten sei und damit für die Folgen der Klimaerwärmung, einer der größten Gefährdungen, mit verantwortlich sei. Ziel der Politik sei es, ein globales System der Herrschaft der Konzerne durchzusetzen, das "härter" als die Systeme im Mittelalter sei und die Menschen wie in Afghanistan oder Irak mit Krieg oder andere durch Zinslast unterwerfe, nichts gegen die Klimaerwärmung machen und insbesondere in Afrika Armut und Hunger verursache.
Was also hat der vom Terroristen in einen weisen Staatsmann, der alle derzeit fluktuierenden Begriffe und Strömungen aufgreift, als Alternative anzubieten? Der Übergang von der Kritik zur Vorstellung dessen, was der von Bin Laden vertretene Kampf erreichen soll, fällt schon wesentlicher schwerer, da hier keine wirkliche politische oder gesellschaftliche Vision aufscheint und die Unterwerfung unter Gott schon alles richten wird. Dass man sich damit auch den "Vertretern" Gottes unterwirft, taucht in Bin Ladens verunglückter "Befreiungstheologie" nicht mehr auf. Um den totalitären Gottesstaat als Alternative einzuführen, muss jede andere staatliche Ordnung als Verrat bezeichnet werden. Hier kommt die prinzipielle Ablehnung des demokratischen Rechtsstaats in Spiel, die Bin Laden mit der Identifizierung des demokratischen Systems mit dem Kapitalismus und der von Neokonservativen beherrschten US-Politik zu begründen sucht. Alle von Menschen eingeführten Gesetze, so behauptet der Terrorgeistliche, seien fehlbar, weil sich darin stets die Interessen bestimmter Klassen und letztlich die der Kapitaleigner durchsetzen.
An die Amerikaner gewandt erklärt er, dass sie eigentlich den Glauben an die Allmacht Gottes (Allahs) bereits auf dem Dollar verewigt hätten, aber ihrem Glauben nicht konsequent folgten Man müsse sich Gottes Gesetz und seinen Geboten und Verboten in allen Lebensbereichen ganz unterwerfen Allein schon die Trennung von Staat und Religion widerspreche dem. Die Amerikaner seien nicht nur Anhänger des Polytheismus – der auch mehr Spielraum als ein strikter und fundamentalistischer Monotheismus im Stile Bin Ladens lässt -, sondern sie führen auch eine "Rebellion gegen den Gehorsam" aus, wodurch sie Ungläubige werden. Man müsse den Worten Gottes, die im Evangelium und der Tora, vor allem aber im Koran niedergeschrieben seien, unbedingten und wörtlichen Gehorsam leisten. Das Festhalten am Koran sei auch das "Geheimnis", warum die Kämpfer Gottes letztendlich siegen werden, auch wenn sie bislang zahlenmäßig und im Hinblick auf Ressourcen schwach sind. Man dürfe den Islam auch nicht an – wie man sagen könnte – real existierenden islamischen Regimen messen. Schon lange seien deren Herrscher vom Islam abgefallen.
Laden, der Eklektiker, weist darauf hin, dass Intellektuelle im Westen bereits den Untergang des amerikanischen Reiches vorhersagen würden. Er selbst sagt den USA einen ähnlichen Zusammenbruch voraus wie den, der sich in der Sowjetunion ereignet hat. Geschickt verbindet er damit den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Deren Niederlage würde sich nun in Afghanistan und im Irak wiederholen, spätestens Bushs Nachfolger werde die Truppen abziehen.
Dürre und weltfremde Visionen vom Gottesstaat
Die dürren Visionen, die Bin Laden anzubieten hat, dürften wohl kaum viele so beeindrucken, dass sie seiner Einladung folgen und zum Islam übertreten. Sein Gottesstaat ist wahrhaft weltfremd und abgesehen von der Lust an der Unterwerfung und am Märtyrertum sowie der Wahrheitsobsession lässt sich darin kaum ein Versprechen finden. Das gibt es eigentlich nur als Heilsversprechen. Nur wer gläubiger Muslim ist oder rechtzeitig einer wird, könne für das erste und das ewige Leben etwas gewinnen.
Modellhaft werden die Terroristen, die Mudschaheddin in Bin Ladens Worten, hierbei hervorgehoben, fragt sich nur, in was sich die Mudschaheddin verwandeln werden, wenn ihr Dschihad endet? Ähnlich wie nach der Französischen Revolution, wie sich vermuten lässt, schlägt der Kampf in einen Tugendterror um, der sich bereits im Taliban-Afghanistan gezeigt hat. Für Bin Laden mag es aber sein, wie für den fundamentalistischen Gläubigen, dass alles schon von selbst gut werden wird, wenn man nur Gottes Wort gehorcht. Darin gleichen die religiösen Fundamentalisten allerdings seltsamerweise den Marktgläubigen, die auch davon ausgehen, dass die Konkurrenz auf dem freien Markt, der von den Menschen möglichst nicht reguliert wird, das für alle optimale System erzeugt.
Die ganze Welt verfolgt sie, aber ihre Herzen sind Dank Allah ruhig und zufrieden. Die wahre Religion bringt das Leben der Menschen in Übereinstimmung mit den Gesetzen, schützt ihre Bedürfnisse und Interessen, verbessert ihre Moral, schützt sie vor dem Bösen und garantiert ihnen durch die Gehorsamkeit gegenüber Allah und die ehrliche Verehrung von ihm alleine den Eintritt ins Paradies nach dem Sterben.
Wie ein Wunder würde die Bekehrung auch den Wunsch nach dem Krieg stoppen (zumindest bei den bekehrten Westlern, aber nicht bei den Mudschaheddin). Die "kriegslüsternen" Besitzer der großen Konzerne würden nämlich erkennen, dass die konvertierten Muslime "das Vertrauen in das demokratische System verloren und mit der Suche nach einem alternativen System begonnen haben". Und das ist natürlich der Islam, wie ihn bin Laden verkündet.
Der Islam habe nicht nur den Vorteil, dass man hier keine Steuern zahlen, sondern nur eine Spende in Höhe von 2,5% leisten müsse, sondern dieser letztlich auch das Christentum einbegreife, weil der Koran ebenso wie das Evangelium direkt von Gott kommen. Wenn man das Wort Gottes befolgt, dann gehe dies auch in Ordnung, auch wenn es sich um unterschiedliche Scharias handle. Überdies behandle der Koran ausführlich "Allah Jesus" und die jungfräuliche Maria. Wer den Koran lese, werde immer, so verspricht Bin Laden, zur Wahrheit vorstoßen, schließlich habe Allah auch verhindert, dass der Koran durch die Menschen verändert werden konnte.