Mit Websites gegen Polizeiknüppel

Indymedia.org: Sprachrohr der amerikanischen Protestbewegungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Montagabends im und um das Staples Center in Los Angeles. Noch-Präsident Clinton hält gerade seine Ansprache bei der Parteiversammlung der Demokraten unter dem Motto "es ging uns noch nie so gut". Draußen, in einem umzäunten "Protestgelände" spielt die Hardrock und Hip Hop Crossover-Band "Rage Against the Machine" vor etwa 10.000 Besuchern ein Gratiskonzert. Viele der Besucher sind gekommen, um gegen die offizielle US-Politik zu demonstrieren. Viele sind auch einfach da, weil sie die Musik mögen. Eine knappe Hundertschaft Schwarzgekleideter mit vermummten Gesichtern hat ihre eigene Anschauung von Protest. Sie beginnen den Zaun niederzureissen, der die Konzertarena vom Staples Center trennt, und werfen mit Betonbrocken und Wasserflaschen auf die Polizei.

Aktivisten vom "Schwarzen Block" provozieren die Polizei

Was danach passiert, erfährt völlig unterschiedliche Deutungen. In den meisten Zeitungen und den Abendnachrichten hieß es lakonisch, die Polizei habe mit Tränengas, Pfeffergaspatronen und Gummigeschossen eine gewalttätige Demonstration aufgelöst. Die Website Indymedia.org hingegen zeichnet ein ganz anderes Bild. Laut deren Bericht, hätten die Organisatoren der Demo und des Konzerts versucht, die Radikalen des "Schwarzen Blocks" an weiteren Ausschreitungen zu hindern und wären im Begriff gewesen, das Konzert friedlich zu beenden und die Veranstaltung aufzulösen. Aber noch bevor sie dabei Fortschritte erzielten, habe die Polizei die Stromversorgung gekappt und der Versammlung 15 Minuten Zeit gegeben, sich aufzulösen. Diese 15 Minuten waren laut Indymedia.org noch nichteinmal verstrichen, als die Polizei mit Gummigeschossen in die Menge zu feuern begann und schließlich auch die berittene Polizei einrückte und auf alles einknüppelte, was sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnte.

Publikum des Konzerts von "Rage Against the Machine"

Diese Version wird auch von der mächtigen Bürgerrechtsvereinigung ACLU gestützt. "Hätte die Polizei mit den Veranstaltern kooperiert", schreibt ACLU auf ihrer Website, "dann hätte der Abend ruhig und gewaltfrei enden können. Doch stattdessen schuf der Polizeieinsatz am Montag große Risiken". Aber nicht nur Demonstranten kamen unter die Räder der Sicherheitsmaschinerie, auch zahlreiche Reporter wurden von Polizeibeamten angegriffen. Laut ACLU seien diese nicht nur zufällig im Rahmen des Tumults zu einer Kopfnuss gekommen, sondern gezielt attackiert worden. "Das war ein entscheidender Test um zu sehen, ob eine bereits schwerwiegenden Vorwürfen ausgesetzte Polizei ihre Pflicht erledigen könne, ohne dabei die Bürgerrechte von Individuen zu verletzen", schreibt ACLU.

"Die Polizei hat diesbezüglich versagt und ist dann gegen die vorgegangen, die ihr Versagen dokumentieren wollten. [...] Sie versuchten die Lichter der Kameras auszuknippsen, die ihre Handlungen aufzeichneten."

ACLU, die wegen der Polizeiübergriffe gegen Reporter ein Gerichtsverfahren anstrengen werden, halten hier den Finger auf einen wunden Punkt der US-amerikanischen Demokratie. Immer mehr Menschen fühlen sich von den dominanten Parteien, den Demokraten und Republikanern, nicht vertreten. Ihre Proteste aber werden von den Mainstream-Medien entweder gar nicht berichtet oder mit den Unruhestiftern des Schwarzen Blocks in einen Topf geworfen. Falls es überhaupt zu einer inhaltlichen Berichterstattung kommt, werden die Anliegen der Demonstranten als "obskur" oder "verwaschen" bezeichnet. Um das zu unterstreichen, werden polarisierende Darstellungen unternommen. Die Protestler seien für oder gegen alles, "gegen die Ausrottung der Nerze oder für das Ende des globalen Kapitalismus" (Washington Post, 15.08.2000).

Um solchen Klischees zu widersprechen und Ereignisse wie die von L.A. in einem anderen Licht zu zeigen, hat sich bereits vor einem Jahr eine Organisation von Freiwilligen unter dem Dach von Indymedia.org zusammengetan. Ihren ersten großen Moment hatten sie bei den Protesten von Seattle im Umfeld der Konferenz der Welthandelsorganisation. Auf der Indymedia-Website wurden manchmal im Abstand von 15 Minuten Berichte über die Ereignisse gepostet. Dazu gab es Live-Audio- und Video-Streams und Bildersammlungen. Viele der Berichte hatten damals noch stark amateurhaften Charakter. Sie wirkten eher wie Newsgruppenpostings direkt Betroffener, die gerade aus dem Tränengasnebel aufsteigen, als wie mit kühlem Kopf recherchierte Artikel. Dennoch war die Stimmung in Seattle allgemein eher für die Demonstranten und gegen die WHO. Vielleicht war die Polizeigewalt zu offensichtlich übertrieben, vielleicht war die Suppe gar zu dünn, die von den offiziellen Pressestellen aufgetischt wurde. Professionelle Reporter wie die Nachrichtenteams von BBC und Channel 4 gaben jedenfalls über weite Strecken die Sichtweise der Demonstranten wieder und stützten sich in ihrer Recherche auf die von Indymedia aufgetischten Fakten. "Seattle" wurde allgemein als Erfolg der Protestbewegung gewertet.

Danach aber muss sich in den Kommandozentralen von Politik, lokalen Polizeikräften und nationalen US-Medien einiges getan haben. Denn wie Indymedia in einem kürzlich erschienenem, längerem Artikel auseinandersetzt, scheint es eine neue Strategie zu geben, wie Polizei und Medien bei Protesten gegen politische Großveranstaltungen zusammenarbeiten. Laut diesem Artikel beginnt es damit, dass die Polizei ihre Einheiten gegen mögliche "Gewalt" vorbereitet. Wenige Tage vor den Ereignissen werden gezielt Pressemeldungen ausgestreut, wonach "Anarchisten" bereits an Bomben basteln und weitgestreuten zivilen Ungehrosam vorbereiten würden. Dann, kurz vor dem Ereignis, wird ein Versammlungszentrum der Protestbewegung von der Polizei gestürmt, alle Anwesenden verhaftet und "Waffen", sowie Materialien zum Herstellen von "Molotow-Cocktails" oder gar "Bomben" sichergestellt. Diese Vorwürfe erweisen sich später meist als haltlos und 99% der Festgenommenen werden ohne Anklage wieder freigelassen. Doch zwischenzeitlich erfüllt die Strategie ihren Dienst. "Brave Bürger", die mit der Politik unzufrieden sind und eventuell an einem Protestmarsch teilgenommen hätten, überlegen sich das lieber, weil sie mit den "wilden Anarchisten" nichts zu tun haben wollen. Und die Organisatoren friedlicher Proteste sitzen während der Demonstrationen meist im Gefängnis, weil die Kaution für die Freilassung in astronomischer Höhe angesetzt wurde.

Polizeikräfte im Einsatz in L.A.

Zum ersten Mal zeigte diese Strategie Wirkung, als sich Staatsoberhäupter, Finanzminister und Direktoren von Weltbank und Währungsfonds im April in Washington trafen. Die Konferenzen liefen reibungslos und wohl abgeschirmt von den Demonstrationen ab. Von den Aktionen der bis zu 20.000 Demonstranten drang kaum etwas in US-Medien und schon gar nichts nach Europa. Fernsehbilder suggerierten eine Schar versprengter "Antikapitalisten". Massenverhaftungen schon im Vorfeld schwächten auch Indymedia. Anstatt Anliegen zu formulieren und den Kontext der Proteste zu erläutern, konzentrierten sich die meisten Postings auf die Leiden "unschuldiger Studenten", die "stundenlang in Polizeibussen gefangengehalten" wurden und nur "ungenießbare Wurstsemmeln zu essen und Orangensaft ohne Orangen aber mit viel Zucker zu trinken bekamen". Da dreht sich doch der Magen jedes gutgesinnten Öko-Vegetariers um.

Doch bereits bei der Parteiversammlung der Republikaner in Philadelphia vor wenigen Wochen zeichnete sich ein Comeback von Indymedia ab. Der Polizei gelang es zwar wieder, durch Verhaftungen und Gebäuderäumungen die Organisation der Protestbewegung zu schwächen und sie in den Medien als "aus überall aus den Staaten angereiste Berufsdemonstranten" darzustellen, doch Indymedia hatte sich professionalisiert. Bis zu 100 Berichterstatter, mit Notizblock, Audiorekorder und Videokamera unterwegs, sorgten für einen riesigen Nachrichtenpool an beständig aktualisierter "Gegenöffentlichkeit". Und nun, in L.A., scheint wieder einmal die große Stunde der "Gegenöffentlichkeit" geschlagen zu haben. Was ihnen dabei zu Hilfe kommt, ist, zum Unterschied vom relativ beschaulichen Philadelphia, ein hohes Maß an lokaler Unzufriedenheit.

"Golden State" in der Krise

Demonstration gegen Missbrauch der Polizeigewalt, Todesstrafe und die Gefängnis-Industrie in Kalifornien

Der ehemalige Musterstaat Kalifornien steht, wie von Mike Davies in seinem berühmten Buch "City of Quartz" Anfang der Neunziger vorausgeahnt, am Rande des Ausbruchs einer neuen Jugendrevolte. Dabei handelt es sich aber nicht um den randalierenden Mob, der im Anschluss an den Rodney-King-Skandal Autos angezündet und Geschäfte ausgeplündert hatte, sondern um durchaus wohlerzogene und gebildete Teenager und junge Erwachsene, welche die Nase voll haben von den leeren Versprechungen von "Clintons Traum".

Wie Elizabeth Martinez in ihrem Artikel "The New Youth Movement in California" auf Indymedia erklärt, brachte die "Juvenile Crime Initiative" des Ex-Governeurs Pete Wilson im März dieses Jahres das Fass zum überlaufen. Die neuen Vorschläge gegen Jugendkriminalität füllen 43 Seiten und beinhalten unter anderem, dass Jugendliche auf Weisung des Staatsanwalts vor ein Erwachsenengericht gebracht und in Erwachsenenanstalten eingesperrt werden können; in Fällen von Bandenkriminalität können Jugendliche nun auch zum Tode verurteilt werden; die Verschärfung des sogenannten "three strikes law" - wer dreimal bei einem "Verbrechen" erwischt wird, bekommt lebenslänglich, wobei die Definition solcher Verbrechen ausgeweitet wurde (ein Graffiti, das mehr als 400$ Sachschaden verursacht, fällt bereits darunter); und nicht zuletzt die Definition dessen, was eine "Gang" darstellt und wer auf Grund welcher Anzeichen als "Gang-Mitglied" angesehen wird, was allein der Entscheidungsgewalt der Polizei unterliegt, führte dazu, dass sich junge Menschen aus verschiedenstem gesellschaftlichem und ethnischem Hintergrund den organisierten Protesten anschlossen.

Dazu kommt, dass die Auswirkungen der in ganz Amerika aber besonders in Kalifornien grassierenden "Gefängnis-Industrie" immer augenfälliger werden. Ständig verschärfte Gesetze und erhöhte Strafausmaße führen dazu, dass immer mehr Verwahrungsanstalten gebaut werden müssen. Da die Staatsausgaben dem wirtschaftlichen Dogma entsprechend nicht erhöht werden dürfen, geht diese Politik nun Ziegelstein für Ziegelstein auf Kosten des Bildungswesens: Tränengas statt Lehrbücher, scheint die Devise zu sein. das einstige Vorbild Kalifornien steht nun bezüglich Bildungsausgaben in den USA an 41ster Stelle.

Einen weiteren Auslöser für Skepsis und Protest gegenüber Politik und Staatsgewalt bildet das Verhalten der Polizeikräfte selbst. Insbesondere die gegen Gangs gerichteten Sondereinheiten der "Rampart Division" im Zentrum von L.A. stehen nun im Mittelpunkt von Untersuchungen über schwere Fälle von Missbrauch. Diese reichen von falscher Zeugenaussage über Fälschung von Indizien bis hin zur Ermordung Unbewaffneter und dem Weiterverkauf beschlagnahmter Drogen: "L.A. Confidential" und Lieutenant Dudley Smith erscheinen noch relativ harmlos dagegen.

Nach dem Fiasko vom Montag verlief eine Demonstration gegen Polizeigewalt mittwochabends weitgehend ohne Zwischenfälle. 2500 Demonstranten versammelten sich vor dem Gebäude der belasteten "Rampart Division" und hörten schweigend zu, als eine (lange) Liste der Opfer von Polizeigewalt verlesen wurde. Wie bei Indymedia zu lesen ist, kreisen Hubschrauber über ihrem Medienzentrum und es wurden zwei Reporter beim Verlassen des Gebäudes verhaftet. Die Berichterstattung geht natürlich weiter und da die Konferenz der Demokraten noch bis zum Ende der Woche dauert, ebenso wie die Proteste, wird es in den News und Kontextartikeln von Indymedia noch einiges zu lesen geben, was in den offiziellen Medien keinen Platz findet.