Mitte, Norm und Rechtsextremismus

Rechtsextremismus muss als gesamtgesellschaftliches Phänomen betrachtet werden, das aus der "Mitte" unserer Gesellschaft entspringt

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Rechtsextremismus steht in unterschiedlicher Ausprägung nationalistischer, rassistischer oder staatsautoritärer bis hin zu totalitärer Weltanschauung im Gegensatz zu den grundlegenden Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung und ist als solcher verfassungsfeindlich.1 Er vertritt die Auffassung, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Nation oder Ethnie über den Wert eines Menschen entscheide. Diesen Kriterien werden nach rechtsextremistischem Verständnis auch die Bürger- und Menschenrechte untergeordnet, was im fundamentalen Widerspruch zu unserem Grundgesetz steht.2 Das Problem des Rechtsextremismus muss in seiner ganzen Tragweite als gesamtgesellschaftliches Phänomen betrachtet werden, da es nicht ausschließlich von jugendlichen Subkulturen ausgeht, sondern der so genannten „Normalbevölkerung“, d.h. der „Mitte“ unserer Gesellschaft entspringt.

1. Unbestimmt und relational

Eine kurze Erläuterung zur Begriffserklärung scheint am Anfang der Problemstellung erforderlich, da Rechtsextremismus kein definierter, feststehender Begriff ist. Er ist auch kein Rechtsbegriff , sondern hat sich erst im Laufe der Jahre bei den Ämtern für Verfassungsschutz als so genannter „Arbeitsbegriff“3 herausgebildet. Die Unbestimmtheit des Wortinhalts rechtsextrem verweist auf die Notwendigkeit einer relationalen Verwendung des Begriffs. Dies bedeutet, Rechtsextremismus ist - wie auch Extremismus - ein Relationsbegriff, der nur sinnvoll im Verweis auf einen Gegenbegriff verwendet werden kann. Als Gegenbegriff zu Extremismus wird häufig der Begriff der „Normalität“ erwähnt, um die Abgrenzung zu „üblichen“, „gewöhnlichen“, „konformen“ und „gemäßigten“ politischen Positionen zu verdeutlichen.

Somit lässt sich in diesem Kontext die Bezeichnung „Rand“ (Rand = Extrem) in Relation zu einer „Mitte“ (Mitte = Normalität) verstehen. Inhaltlich ist der Rechtsextremismus an politische und gesellschaftliche Veränderungen gebunden und muss konkret an diese angepasst werden, wobei die konnotative Besetzung erhalten bleibt, während der Begriffsinhalt mit seinem empirischen Referenzbereich stets erweitert wird.4

Das Extrem, verwendet als Substantiv, bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch den „höchsten Grad“, den „äußersten Standpunkt“ sowie die „Übertreibung“. Die begriffliche Bedeutung des Adjektivs extrem steht unter anderem für ungewöhnlich und radikal5. Im politischen Sinne bedeutet Extremismus vor allem die prinzipielle und unversöhnliche Gegnerschaft gegenüber Regeln, Normen und Ordnungen des demokratischen Verfassungsstaates, wobei gesellschaftliche Vielfalt, Toleranz und Offenheit grundsätzlich abgelehnt werden.6

Die Stigmatisierung und negative Konnotation des Begriffs Rechtsextremismus stößt jedoch bei einigen Wissenschaftlern auf Widerstand. Nach deren Auffassung ist Extremismus nicht per se verfassungswidrig und auch mit diesem nicht identisch. Auch ist extrem kein Synonym für verfassungswidrig, da eine demokratiefeindliche Einstellung nicht ausschließlich von den so genannten Extremen, beziehungsweise Extremisten ausgeht, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft und den politischen Machthabern anzutreffen ist. Es wird zu Recht in Frage gestellt, ob sich die politische und gesellschaftliche, oftmals unbestimmte Mitte als Normalität definieren kann, die sich von den extremen, äußeren Rändern in ihrer angeblichen Normalität bedroht fühlt. Zudem ist es völlig legitim, (auch) nicht-normale, norm-abweichende, radikale politische Ansichten in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung zu vertreten.7

2. Normale Mitte und Rechtsextremismus

Unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse, angelegt als empirische Langzeitbeobachtungen menschenfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung von 2002 bis 2012, am Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, darf man sich jedoch über die feindselige Haltung innerhalb der Gesellschaft wundern: Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist fremdenfeindlich eingestellt und fast 15 Prozent teilen antisemitische Auffassungen.8

Rechtsextremismus kann demzufolge als ein Phänomen betrachtet werden, das sowohl die Verhaltens- als auch die Einstellungsebene einschließt und bis in die Mitte der Bevölkerung reicht. Dies ist so zu verstehen, dass die Zahl der Personen mit einem rechtsextremistischen Weltbild wesentlich höher ist als die Zahl derjenigen, die durch entsprechendes Verhalten auffällig werden. Nicht jede Person, die über ein rechtsextremistisches Einstellungsmuster verfügt, wird auch politisch aktiv oder verübt Gewalttaten. Notwendige Voraussetzung für rechtsextremistisches Verhalten zeigt sich jedoch in einem rechtsextremistischen Einstellungsmuster.9 Zu den gewaltbereiten subkulturell und/ oder anders geprägten Rechtsextremisten werden aber auch diejenigen gezählt, die bislang ohne verübte Straftaten, Gewaltanwendung für die Durchsetzung ihrer Ziele befürworten.10

Der Vorwurf des Rechtsextremismus sollte nicht ausschließlich zum Kennzeichen einzelner Extremisten oder extremer, politischer Randgruppen erhoben werden. Ist im Kontext mit Rechtsextremismus die Rede von Subkultur, muss berücksichtigt werden, dass eine Subkultur grundsätzlich und trotz ihres „Andersseins“ immer innerhalb einer allgemein üblichen Kultur angesiedelt ist. In der Regel werden Subkulturen – unabhängig von ihren religiösen, politischen oder sonstigen Motiven – durch gesellschaftliche Missstände oder kulturelle Ereignisse initiiert. Sie bilden zwar innerhalb einer Norm oder „Leit“-Kultur eine Minderheit, haben aber durchaus das Potential, gesellschaftliche und politische Veränderungen zu bewirken. Ein Blick in die Geschichte kann dies bestätigen.11

Rechtsextremismus kann nicht losgelöst und isoliert von der Gesellschaft seine Wirkmächtigkeit entfalten, da er im Zusammenhang mit Diskriminierung und fremdenfeindlichen Äußerungen im privaten wie auch im politischen Alltag angesiedelt ist. Er stellt sich nicht ausschließlich als Abweichung vom gesellschaftlichen „Mainstream“ dar, d.h. als Abweichung von der so genannten normalen Mitte, sondern entfaltet in radikalisierter Ausformung konservativer Ideologien sein Potential gerade dort.

Bei der Konzentration auf Personen, die von den Normalitätsnormen abweichende Persönlichkeiten aufweisen, wird übersehen, dass die Gefahr ebenso von den so genannten psychisch normal disponierten Bürgern ausgeht. Wenn einer antidemokratischen Haltung wirksam begegnet werden soll, muss die Aufmerksamkeit auch der Mitte der Gesellschaft gewidmet werden, auch wenn der Gedanke, dass sich in dieser (Mittel-) Schicht ein solches Gedankengut verbergen könnte, für viele Politiker als unvorstellbar, gar unerträglich scheint. Dies setzt allerdings die Verabschiedung der Illusion voraus, Rechtsextremismus weiterhin als Randphänomen betrachten zu können.12 Das Abschieben und Aussondern dieser Problematik an die Ränder der Gesellschaft ist eher als Verdrängungsmechanismus und kurzsichtige Entlastungsstrategie anzusehen.13

3. Norm, Normalität und gute Mitte

Geht es um die Normalität der politischen Mitte, die sich von den extremen Rändern abzugrenzen versucht, stellt sich zwangsläufig die Frage, was unter Normalität, Norm und Abweichung zu verstehen ist. Normsetzungen, Wertungen und Bewertungen unterliegen bekanntlich der jeweiligen vorherrschenden Praxis einer Gesellschaft, sind sozial strukturiert und fallen dadurch in den Bereich der Akzeptanz und Legitimation. Dabei gilt jedoch zu berücksichtigen, dass Normen nicht denkbar ohne die Möglichkeit ihrer Abweichung sind.

Nun gibt es aber in unserer multikulturellen Gesellschaft „multi-normative Pluralitäten“, die sich nicht unter einen einheitlichen, ominösen „Volkswillen“ subsumieren lassen.14 Auch der Versuch, den Volkswillen durch den Begriff des „Gemeinwohls“ oder den des „Gemeinsinns“ zu ersetzen, erweist sich als Taschenspielertrick und trägt nicht wirklich dazu bei, Interessen und Ansprüche der gesellschaftlichen Mitte zu normieren, da das anonyme Allgemeinwohl in einer (liberalen) Demokratie nichts anderes ist als die Summe der Rechte und Pflichten aller einzelnen in diesem Staat lebenden Personen.15

Versucht man, die politische Mitte als Standpunkt zwischen extremen Ideologien zu verstehen, ist damit aber auch noch nicht viel gewonnen. Einstmals vertrat die politische Mitte den Gedanken, bürgerlich geprägte Werte zu vertreten, um damit einen großen Teil der Bevölkerung anzusprechen: Die so genannte Mitte der Gesellschaft.16 An dieser Stelle liegt der Redundanz-Verdacht nahe, da die Bezeichnung der Mitte – ob politisch oder gesellschaftlich betrachtet – keine zusätzliche Information zur Erklärung liefert, was eigentlich gemeint ist, sondern lediglich die beabsichtigte Grundinformation mit überflüssigen Elementen zu stützen versucht.

Rechtsextremismus gilt inzwischen als soziale Bewegung, unterliegt als solche gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen17, und die ihm zugrunde liegende Ideologie kann als kultur- und gesellschaftsbegleitender Prozess betrachtet werden. Im Kontext des sozialen Zeitgeschehens üben Ideologien eine mehr oder weniger starke Faszination und Anziehungskraft auf den Einzelnen oder auch die Gesellschaft aus.18 Um als politisch-ideologische Bewegung jedoch „erfolgreich“ auftreten zu können, muss der Rechtsextremismus bereits eine Massenbasis haben: Dabei liegen die Bestrebungen nicht nur in einer Form angstvoller Unterwerfung des Volkes, sondern ebenso in der aktiven Kooperation mit einer großen Mehrheit der Bevölkerung.19

Das kulturelle Klima, in dem sich der Einzelne als Individuum oder im Kollektiv einer Gruppe befindet und auch wieder findet, bestimmt und beeinträchtigt nicht nur ökonomische und soziale (Lebens-) Bedingungen, sondern tritt auch in Wechselwirkung mit ganz persönlichen Meinungen, Ideen, Anschauungen, Verhaltensweisen und vielem mehr.20 Auf welche Weise der Einzelne seine soziale Umgebung wahrnimmt, interpretiert und bewertet, hängt auch immer von seinen kultur- und milieuspezifischen Deutungsmustern ab, die im Laufe der jeweiligen Entwicklung und Erfahrung entstanden sind. Deutungsmuster sind dabei als Schemata zu verstehen, sozial vermitteltes Wissen in einen Zusammenhang mit unserem Verhalten zu bringen.

In einer ausdifferenzierten und multikulturellen Gesellschaft finden sich jedoch je nach sozialem, persönlichem und/ oder institutionellem Kontext voneinander abweichende Deutungsmuster und Wirklichkeitskonstruktionen, vor deren Hintergrund derselbe Sachverhalt differenziert betrachtet, analysiert und beurteilt werden kann.21 Es gibt keine schlechthin gültige, unumstößliche Ordnung, die für alle Zeiten und alle Personen (-gruppen) gleichermaßen Verbindlichkeit beanspruchen kann, da jede Ordnung nur für eine bestimmte Zeit existiert, ehe sie in Frage gestellt oder von einem anderen Ordnungssystem abgelöst wird.

Ordnungen, Ordnungssysteme und Normen können als Richtschnur des „Gewünschten“ betrachtet werden, sind als solche nicht sakrosankt, sondern können bestritten, umgangen, gebrochen oder verletzt werden. Zudem verweisen Normen auf bestimmte, als positiv bewertete Verhaltenserwartungen, zu denen es stets explizite oder implizite Alternativen gibt. Gäbe es diese Alternativen nicht, dann wäre die entsprechende Verhaltenserwartung keine Norm, sondern ein Sachzwang, welcher sich nicht ändern lässt und dem sich letztendlich jede(r) zu fügen hat.22

4. Abnormität und böser Rand

Wie bereits angesprochen, bestehen bestimmte Ordnungen und Ordnungssysteme nur auf Zeit, können sowohl Segen als auch Fluch sein und einmal geschaffene Ordnungen können zugleich zerstörerisch sein.23 Nun ist aber der Machtgewinn des Rechtsextremismus nicht nur ein die bestehende Ordnung gefährdendes Problem unter vielen, sondern ist gleichbedeutend mit Bedrohung und maximaler Gefahr für den Einzelnen und den Staat.24

Unterschiedliche Interessen und Ansichten in einem Staat, gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten werden von rechtsextremistischen Strömungen grundsätzlich abgelehnt. Die weltanschauliche Grundlage von übersteigertem Nationalismus und Rassismus schließt Integrationsbemühungen von Menschen „anderer“ Herkunft völlig aus. Zudem sind rechtsextremistische Bestrebungen damit verbunden, Individuen unter einen identischen einheitlichen Volkswillen zu subsumieren, d.h. individuelle Selbstbestimmung wird dem angeblich sozialen Gruppenzwang unterworfen. Der einheitliche Wille des Volkes duldet ausschließlich Gruppenrepräsentanten und Angehörige als Kollektiv einer Nation.25 Die Unterwerfung und Abhängigkeit der Bevölkerung unter ein autoritäres Herrschaftssystem fordert dabei absoluten Gehorsam, der mit verantwortlichem Handeln gleichgesetzt wird.26

All dies steht in unvereinbarem Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Verfassung, die sich für Toleranz und Respekt gegenüber individueller, ideeller und realer Pluralität in einer offenen Gesellschaft ausspricht.27 So verstanden stellt sich der Rechtsextremismus als eine feindliche Macht dar, der Übles und Unheilvolles anhaftet. Mit angeblich guten Gründen und reinen Absichten vertritt er seine latente Gewaltbereitschaft und nivelliert die Differenz von Ideal und Wirklichkeit. Seine hohen Ideale und Ziele legitimieren dabei jede Form von Gewalt (-durchsetzung), da sie für sich einen unhinterfragbaren und unverrückbaren Wahrheitsanspruch postulieren.28

Hinter der Fassade moralischer Korrektheit offenbart sich die konzentrierte Form menschlicher Destruktivität, die Angst, Ohnmacht, Sprach- und Ratlosigkeit hervorruft. Der Rechtsextremismus artikuliert und etabliert sich nicht nur als politisches Randphänomen, sondern betrifft und beeinträchtigt das alltägliche Leben vieler Menschen in unserem Land, wobei nicht nur Ausländer, Andersdenkende, Homosexuelle, Behinderte, Obdachlose oder alte Menschen als Opfer in Betracht kommen. Auf der Suche nach rationalen Problemlösungsstrategien in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft sollte sich auch jeder einzelne nicht-rechtsextremistisch gesinnte Bürger nicht distanzieren, sondern angesprochen fühlen. Gleichgültigkeit, Ignoranz oder Unbetroffensein einem Problem gegenüber, welches letztendlich in unser aller Verantwortung liegt, können und dürfen wir uns nicht leisten.